”Dem Ostarbeiter und Polen zu allerletzt” ist der Titel einer Ausstellung im Stadtarchiv Leipzig, die Signale für eine stärker regionale Erforschung des Themas setzen will. So intensiv jüngst über die “Entschädigung” der Überlebenden durch die Nutznießerfirmen diskutiert wurde, so sehr ging diese am Schicksal der Betroffenen selbst wie am Phänomen der NS-Zwangsarbeit vorbei, d.h. beeindruckte nicht wirklich das Öffentliche Bewusstsein. Nach dem Vorliegen einer breiten wissenschaftlichen, speziell in Polen und Deutschland erschienenen Literatur könnte es jetzt gelingen, die Aufmerksamkeit der jüngeren Generation zu erreichen, wenn der im Leipziger Archiv von den Autoren Steffen Held und Thomas Fickenwirth begangene Weg der Konfrontation der Menschen der Region mit bildlichen und gegenständlichen Zeugnissen des heimatlichen Standortes beschritten wird.
Gleich zu Beginn des Rundgangs erfährt der Besucher durch
grafische Darstellungen, wo überall im Raum Leipzig sich Lager mit
ausländischen Arbeitern befanden. Ebenso findet er einen Überblick über die
allerdings mitunter papiergebliebene Gesetzgebung der Reichsebene bzw. deren
miteinander konkurrierenden Ämter. Wie die thematischen Tafeln der Ausstellung
zeigen, vermag die Aufarbeitung örtlicher, auch zersplitterter Bestände,
beispielsweise des Friedhofswesens, der Post, der Bahn, der Minenentfernung, des
Steinbruchs, der Bombenschäden, der Versicherungen, der Müllabfuhr, der
Bauakten in bisher nur aus Zeugenberichten umrissene Bereiche vorzudringen.
Ergänzt werden sollen noch Belege über die Tötung von neugeborenen Kindern
polnischer und russischer Zwangsarbeiterinnen, die von den Rüstungskonzernen in
Taucha zu verantworten war. So können die Historiker dazu beitragen, ein
schwarzes Kapitel vor dem Vergessen zu bewahren und auch Jüngere anzustoßen,
Fragen nach der Geschichte des NS-Systems und nach der auf Zwangsarbeit
gegründeten deutschen Kriegswirtschaft im heimatlichen Terrain zu stellen.
Fast gleichzeitig wurde im Spätherbst 2001 in Leipzig - und
leider nicht in Kooperation mit dem Stadtarchiv - an einer Exposition gearbeitet,
die von der Öffentlichkeit als neu und überraschend aufgenommen wurde.
Gegenstand ist der NS-Rüstungsbetrieb Hugo Schneider AG mit Stammsitz Leipzig,
in welchem Tausende Polinnen, Russinnen und jüdische Häftlinge, die aus dem
Zweigwerk Skarzysko-Kamienna, aber auch aus den KZs Majdanek und Buchenwald
kommend, von 1942 bis 1945 im Dienste der HASAG Munition produzieren mussten.
Was weder der Forschung noch der Leipziger Öffentlichkeit
bisher bewusst gewesen war - auch in ihrer Stadt hatte sich ein Moloch
entwickelt, der ganz vergleichbare Züge zu dem besser erforschten
IG-Farben-Rüstungsbetrieb Auschwitz-Monowitz aufwies. Auch in Leipzig befand
sich inmitten eines riesigen Spinnennetzes, das bis ins Generalgouvernement
reichte, ein solcher Kommandoturm, der zwecks Massenausstoßes neuer Waffen
(Panzerfaust) große Menschenmassen hin und her schob, darunter polnische
Zwangsarbeiterinnen sowie “Arbeitsjuden” aus den KZs des
SS-Wirtschaftsverwaltungs-Hauptamtes. Unter Duldung der Leipziger Zentrale wurden
in regelmäßigen Abständen arbeitsunfähige und kranke jüdische Arbeiter im Wald
von Kamienna, dem Beutebetrieb der HASAG in Polen, durch den Werkschutz des
Betriebes ermordet. Dies belegen die grauenhaften Zeugenaussagen und
Ermit-tlungsakten aus den 1948 in Leipzig und 1967 in Nürnberg-Fürth geführten
“Kamienna-Prozessen”.
Was der Produktion in der Permoserstraße eine besondere
Dringlichkeit verlieh und den Anstoß für den von der SS (Pohl) organisierten
Arbeiterzustrom gab, war der Befehl Speers zur Entwicklung und alleinigen
Herstellung der “Panzerfaust”.
Es ist ratsam, sich beide Ausstellungen hintereinander
anzusehen. Dies erleichtert die Zusammenschau der - wie wir inzwischen wissen -
vielfältigen Formen der Ausbeutung, zum Beispiel in der von Arbeitsämtern
gesteuerten Landarbeit oder im SS-verwalteten Einsatz in der Rüstung.
Erst wenn die für den zweiten Weltkrieg charakteristische
Verwendung der Deportierten in der Schwerstarbeit in der Rüstungsproduktion
eine angemessene Wie-derspiegelung in der musealen Darstellung erfährt, kann
dem Besucher das Ausmaß des Schreckens verdeutlicht werden, der die
NS-Zwangsarbeit von der im Ersten Weltkrieg unterscheidet. Ausgehend von der
Entschädigungsdebatte erscheint es heute auch dringend an der Zeit, das sich
einschleichende Tabu in Frage zu stellen, das die Schuldfrage als “überholt”
und hinter der vorgehaltenen Hand als DDR-lastig verketzert.
Offenbar angeregt durch die “Entschädigung” erschienen nach
2000 gleich zwei wichtige Bücher, in der die HASAG Permoser Straße tiefgründig
und durchaus neuartig untersucht wurde. Der Böhlau Verlag brachte - in
Übersetzung aus dem Hebräischen - folgenden Titel der Zeitzeugin und heute in
Israel lebenden Polin Felicja Karay heraus: “Wir lebten zwischen Granaten und
Gedichten. Das Frauenlager der Rüstungsfabrik HASAG im Dritten Reich.” Es wurde
auf der Leipziger Buchmesse in einer lebhaft diskutierten eindrucksvollen
Lesung der Autorin präsentiert. Darin machte Felicja Karay darauf aufmerksam,
dass die 1944 nahende Niederlage des Dritten Reiches auch einige lebenswichtige
- dabei in Kamienna und Leipzig diametral entgegengesetzte - Veränderungen in
der Behandlung bewirkte. In der Leipziger Permoserstraße, in der während des
Krieges Tausende der Arbeitshetze zum Opfer gefallen waren, verlagerte sich die
Anstrengung der Werksleitung jetzt stärker auf eine pragmatische Linie mit
Blick auf Herabsetzung der Verluste unter den hochspezialisierten jüdischen
Arbeitern. Im Gegensatz zu den Variationen in Leipzig verharrte der Führungsstil
der Werksleitung des Konzerns jedoch in dem in Polen liegenden Beutebetrieb
sogar noch 1944 auf Fortführung des Prinzips der Arbeit als Strafe, mehr noch
der Vernichtung durch Arbeit.
Damit erörtert die Autorin auch mögliche Kriterien für die
gravierenden Unterschiede hinsichtlich der Hygiene, der Zulassung kultureller
Betätigung, die zwischen den beiden HASAG-Lagern Leipzig und Kamienna
bestanden. Das berührt auch das Thema der Ermessensspielräume und deren Nutzung
oder auch Nicht-Nutzung durch die Werksleitungen bzw. die Ebenen des
Werkschutzes, der Vorarbeiter sowie der inneren Hierarchie der Lager. Hinzuweisen
bleibt auf die gänzlich neue, unvergleichlich differenzierte und anrührende
Weise, in der Felicja Karay Einblick in das Leben der vorwiegend weiblichen
Munitionsarbeiterinnen in Leipzig gibt. Damit lieferte sie als Zeitzeugin
hervorragende neue Zeugnisse hinsichtlich des Phänomens der passiven Resistenz
durch die oft todesmutige innere Selbstverwaltung der Häftlinge. Andererseits
vermittelt sie Kenntnis über die in der Regel verheerende Rolle des
werkseigenen Werkschutzes in Leipzig und Kamienna. Einer schonungslosen
Dokumentation und Aufarbeitung des Schicksals dieses von Leipzig aus gelenkten
und im polnischen Skarzyska-Kamienna bei Krakau produzierenden, von den
Insassen als “Hölle von Kamienna” bezeichneten Beutebetriebes, dieses
schwärzesten Blattes in der Geschichte des Leipziger HASAG-Werkes begegnet man
in Sachsen zögerlich. So wurde eine Gelegenheit vertan, als die Sächsische
Landeszentrale für Politische Bildung im April in Chemnitz eine Konferenz zum
Thema “NS-Zwangsarbeit in Sachsen” durchführte. Die Diskussion und Publikation
von Materialien des Kamienna-Prozesses wurde als nicht zum Thema gehörig
betrachtet.
Andererseits ragten hier aus dem Angebot an Beiträgen die
Rede der Stadtarchivarin Leipzigs, Dr. Berger, und einiger jüngerer Historiker(
Andreas Mai, Mustafa Haikal, Thomas Urban) heraus, die neue Forschungen über
die Rolle der Zwangsarbeit in der Rassenideologie der Nazis, über den Einsatz
in der Sächsischen Braunkohlenindustrie und über den Aufbau der HASAG anboten.
Allerdings deuteten Anfragen einiger Archivare auf einen bedenklichen
Wissensstand über das Wesen des Naziregimes hin.
Den Finger in die Wunde legte auch der Leipziger Historiker Mustafa Haikal, der im Rahmen der Firmengeschichte “HASAG Permoser Straße” dem Schicksal der 17.000 jüdischen Arbeiter der Firma ein Kapitel widmete. Etwas im Verborgenen erschien im Eigenverlag von Klaus Hesse ein Zweibänder über die Rüstungs-industrie in Leipzig, deren zweiter Band sich der “Arbeitsbeschaffung” durch Rüstung und Dienstverpflichtete, über Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Außenlager, über gesühnte und ungesühnte Verbrechen, über Verbrecher, Opfer und andere vergessene Erinnerungen widmet.