Dem Ostarbeiter und Polen zu allerletzt

Zwangs- und Fremdarbeit im Raum Leipzig 1939 bis 1945

 

Von Eva Seeber

 

”Dem Ostarbeiter und Polen zu allerletzt” ist der Titel einer Ausstellung im Stadtarchiv Leipzig, die Signale für eine stärker regionale Erforschung des Themas setzen will. So intensiv jüngst über die “Entschädigung” der Überlebenden durch die Nutznießerfirmen diskutiert wurde, so sehr ging diese am Schicksal der Betroffenen selbst wie am Phänomen der NS-Zwangsarbeit vorbei, d.h. beeindruckte nicht wirklich das Öffentliche Bewusstsein. Nach dem Vorliegen einer breiten wissenschaftlichen, speziell in Polen und Deutschland erschienenen Literatur könnte es jetzt gelingen, die Aufmerksamkeit der jüngeren Generation zu erreichen, wenn der im Leipziger Archiv von den Autoren Steffen Held und Thomas Fickenwirth begangene Weg der Konfrontation der Menschen der Region mit bildlichen und gegenständlichen Zeugnissen des heimatlichen Standortes beschritten wird.

 

Gleich zu Beginn des Rundgangs erfährt der Besucher durch grafische Darstellungen, wo überall im Raum Leipzig sich Lager mit ausländischen Arbeitern befanden. Ebenso findet er einen Überblick über die allerdings mitunter papiergebliebene Gesetzgebung der Reichsebene bzw. deren miteinander konkurrierenden Ämter. Wie die thematischen Tafeln der Ausstellung zeigen, vermag die Aufarbeitung örtlicher, auch zersplitterter Bestände, beispielsweise des Friedhofswesens, der Post, der Bahn, der Minenentfernung, des Steinbruchs, der Bombenschäden, der Versicherungen, der Müllabfuhr, der Bauakten in bisher nur aus Zeugenberichten umrissene Bereiche vorzudringen. Ergänzt werden sollen noch Belege über die Tötung von neugeborenen Kindern polnischer und russischer Zwangsarbeiterinnen, die von den Rüstungskonzernen in Taucha zu verantworten war. So können die Historiker dazu beitragen, ein schwarzes Kapitel vor dem Vergessen zu bewahren und auch Jüngere anzustoßen, Fragen nach der Geschichte des NS-Systems und nach der auf Zwangsarbeit gegründeten deutschen Kriegswirtschaft im heimatlichen Terrain zu stellen.

Ausstellung “Permoserstraße”

Fast gleichzeitig wurde im Spätherbst 2001 in Leipzig - und leider nicht in Kooperation mit dem Stadtarchiv - an einer Exposition gearbeitet, die von der Öffentlichkeit als neu und überraschend aufgenommen wurde. Gegenstand ist der NS-Rüstungsbetrieb Hugo Schneider AG mit Stammsitz Leipzig, in welchem Tausende Polinnen, Russinnen und jüdische Häftlinge, die aus dem Zweigwerk Skarzysko-Kamienna, aber auch aus den KZs Majdanek und Buchenwald kommend, von 1942 bis 1945 im Dienste der HASAG Munition produzieren mussten.

Was weder der Forschung noch der Leipziger Öffentlichkeit bisher bewusst gewesen war - auch in ihrer Stadt hatte sich ein Moloch entwickelt, der ganz vergleichbare Züge zu dem besser erforschten IG-Farben-Rüstungsbetrieb Auschwitz-Monowitz aufwies. Auch in Leipzig befand sich inmitten eines riesigen Spinnennetzes, das bis ins Generalgouvernement reichte, ein solcher Kommandoturm, der zwecks Massenausstoßes neuer Waffen (Panzerfaust) große Menschenmassen hin und her schob, darunter polnische Zwangsarbeiterinnen sowie “Arbeitsjuden” aus den KZs des SS-Wirtschaftsverwaltungs-Hauptamtes. Unter Duldung der Leipziger Zentrale wurden in regelmäßigen Abständen arbeitsunfähige und kranke jüdische Arbeiter im Wald von Kamienna, dem Beutebetrieb der HASAG in Polen, durch den Werkschutz des Betriebes ermordet. Dies belegen die grauenhaften Zeugenaussagen und Ermit-tlungsakten aus den 1948 in Leipzig und 1967 in Nürnberg-Fürth geführten “Kamienna-Prozessen”.

Was der Produktion in der Permoserstraße eine besondere Dringlichkeit verlieh und den Anstoß für den von der SS (Pohl) organisierten Arbeiterzustrom gab, war der Befehl Speers zur Entwicklung und alleinigen Herstellung der “Panzerfaust”.

Es ist ratsam, sich beide Ausstellungen hintereinander anzusehen. Dies erleichtert die Zusammenschau der - wie wir inzwischen wissen - vielfältigen Formen der Ausbeutung, zum Beispiel in der von Arbeitsämtern gesteuerten Landarbeit oder im SS-verwalteten Einsatz in der Rüstung.

Erst wenn die für den zweiten Weltkrieg charakteristische Verwendung der Deportierten in der Schwerstarbeit in der Rüstungsproduktion eine angemessene Wie-derspiegelung in der musealen Darstellung erfährt, kann dem Besucher das Ausmaß des Schreckens verdeutlicht werden, der die NS-Zwangsarbeit von der im Ersten Weltkrieg unterscheidet. Ausgehend von der Entschädigungsdebatte erscheint es heute auch dringend an der Zeit, das sich einschleichende Tabu in Frage zu stellen, das die Schuldfrage als “überholt” und hinter der vorgehaltenen Hand als DDR-lastig verketzert.

Offenbar angeregt durch die “Entschädigung” erschienen nach 2000 gleich zwei wichtige Bücher, in der die HASAG Permoser Straße tiefgründig und durchaus neuartig untersucht wurde. Der Böhlau Verlag brachte - in Übersetzung aus dem Hebräischen - folgenden Titel der Zeitzeugin und heute in Israel lebenden Polin Felicja Karay heraus: “Wir lebten zwischen Granaten und Gedichten. Das Frauenlager der Rüstungsfabrik HASAG im Dritten Reich.” Es wurde auf der Leipziger Buchmesse in einer lebhaft diskutierten eindrucksvollen Lesung der Autorin präsentiert. Darin machte Felicja Karay darauf aufmerksam, dass die 1944 nahende Niederlage des Dritten Reiches auch einige lebenswichtige - dabei in Kamienna und Leipzig diametral entgegengesetzte - Veränderungen in der Behandlung bewirkte. In der Leipziger Permoserstraße, in der während des Krieges Tausende der Arbeitshetze zum Opfer gefallen waren, verlagerte sich die Anstrengung der Werksleitung jetzt stärker auf eine pragmatische Linie mit Blick auf Herabsetzung der Verluste unter den hochspezialisierten jüdischen Arbeitern. Im Gegensatz zu den Variationen in Leipzig verharrte der Führungsstil der Werksleitung des Konzerns jedoch in dem in Polen liegenden Beutebetrieb sogar noch 1944 auf Fortführung des Prinzips der Arbeit als Strafe, mehr noch der Vernichtung durch Arbeit.

Damit erörtert die Autorin auch mögliche Kriterien für die gravierenden Unterschiede hinsichtlich der Hygiene, der Zulassung kultureller Betätigung, die zwischen den beiden HASAG-Lagern Leipzig und Kamienna bestanden. Das berührt auch das Thema der Ermessensspielräume und deren Nutzung oder auch Nicht-Nutzung durch die Werksleitungen bzw. die Ebenen des Werkschutzes, der Vorarbeiter sowie der inneren Hierarchie der Lager. Hinzuweisen bleibt auf die gänzlich neue, unvergleichlich differenzierte und anrührende Weise, in der Felicja Karay Einblick in das Leben der vorwiegend weiblichen Munitionsarbeiterinnen in Leipzig gibt. Damit lieferte sie als Zeitzeugin hervorragende neue Zeugnisse hinsichtlich des Phänomens der passiven Resistenz durch die oft todesmutige innere Selbstverwaltung der Häftlinge. Andererseits vermittelt sie Kenntnis über die in der Regel verheerende Rolle des werkseigenen Werkschutzes in Leipzig und Kamienna. Einer schonungslosen Dokumentation und Aufarbeitung des Schicksals dieses von Leipzig aus gelenkten und im polnischen Skarzyska-Kamienna bei Krakau produzierenden, von den Insassen als “Hölle von Kamienna” bezeichneten Beutebetriebes, dieses schwärzesten Blattes in der Geschichte des Leipziger HASAG-Werkes begegnet man in Sachsen zögerlich. So wurde eine Gelegenheit vertan, als die Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung im April in Chemnitz eine Konferenz zum Thema “NS-Zwangsarbeit in Sachsen” durchführte. Die Diskussion und Publikation von Materialien des Kamienna-Prozesses wurde als nicht zum Thema gehörig betrachtet.

Andererseits ragten hier aus dem Angebot an Beiträgen die Rede der Stadtarchivarin Leipzigs, Dr. Berger, und einiger jüngerer Historiker( Andreas Mai, Mustafa Haikal, Thomas Urban) heraus, die neue Forschungen über die Rolle der Zwangsarbeit in der Rassenideologie der Nazis, über den Einsatz in der Sächsischen Braunkohlenindustrie und über den Aufbau der HASAG anboten. Allerdings deuteten Anfragen einiger Archivare auf einen bedenklichen Wissensstand über das Wesen des Naziregimes hin.

Den Finger in die Wunde legte auch der Leipziger Historiker Mustafa Haikal, der im Rahmen der Firmengeschichte “HASAG Permoser Straße” dem Schicksal der 17.000 jüdischen Arbeiter der Firma ein Kapitel widmete. Etwas im Verborgenen erschien im Eigenverlag von Klaus Hesse ein Zweibänder über die Rüstungs-industrie in Leipzig, deren zweiter Band sich der “Arbeitsbeschaffung” durch Rüstung und Dienstverpflichtete, über Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Außenlager, über gesühnte und ungesühnte Verbrechen, über Verbrecher, Opfer und andere vergessene Erinnerungen widmet.