Vor 30 Jahren wurde der Warschauer Vertrag ratifiziert

 

Von Udo Kühn

 

Nach einer USA-Reise von Außenminister Walter Scheel (FDP) stand der Terminplan zu den Verhandlungen mit Polen fest.1 Die Vertragsparaphierung durch den polnischen Außenminister Stefan Jędrychowski und Walter Scheel folgte bereits am 18. November 1970 in Warschau. Die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags durch den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt (SPD), und den Ministerpräsidenten der Volksrepublik Polen, Józef Cyrankiewicz, fand schon am 7. Dezember 1970 in Warschau statt.2 Dann aber begann ein „Sperrfeuer“ der bundesrepublikanischen CDU/CSU-Opposition, des rechtsradikalen Lagers und der Deutschen Vertriebenenverbände, das sich über 17 Monate bis zur Ratifizierung der Ostverträge (einschließlich des Moskauer Vertrags) in Bonn am 17. Mai 1972 hinzog. Die Ratifizierungsurkunden zu den Ostverträgen wurden schließlich am 3. Juni 1972 ausgetauscht.

 

An vorderster Stelle gegen die Verträge stand der frühere Bundesverteidigungsminister (1956-1962), spätere Ministerpräsident von Bayern und Kanzlerkandidat der CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1980: „Franz Josef Strauss war der westdeutsche Politiker, der zu Lebzeiten wie sonst nur noch Herbert Wehner auf der politischen Gegenseite das Publikum polarisiert hat. Wo er auftrat, war Politik eine Sache des Frontkampfes, in dem Freunde und Feinde klar unterscheidbar waren. Er genoss kultische Verehrung nicht nur in bayrischen Bierzelten, sondern auch in jenen Teilen des Bürgertums, die alles Linke als Bedrohung empfanden. Und für seine Gegner war er eine negative Kultfigur, die Verkörperung des Bösen, der Typus des geistfeindlichen, korrupten Machthabers unter dem Verdacht, ein Wiedergänger des Nazi zu sein...“ 3

Die Presse-Schlagzeilen sahen so aus:

- Scharfe Polemik von Strauß gegen Ostpolitik 4

- Strauß will „mit allen Mitteln“ Verträge bekämpfen 5

- Strauß sieht positive Folgen einer Verfassungsklage gegen Ostverträge 6

- ‚Landsmannschaft Ostpreußen’ und Strauß sind sich ‚völlig einig’ 7

- Strauß und die Vertriebenen in Ablehnung einig 8

- Strauß: Ein Volks-Betrug 9

- Strauß lehnt Ostverträge als versöhnungsfeindlich ab10

- Strauß redete Klartext: Nein11

- Strauß gegen „Idiotenformel“12

- Nürnberg: NPD übernimmt Parolen von Strauß 13

 

„Wir Bayern dürfen uns nicht scheuen, die letzten Preußen zu sein, wenn die Historie dies von uns verlangt“, sagte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß (...) vor der CSU-Landtagsfraktion in München.14

Es gab noch andere Exponenten in der Opposition, die am gleichen Strang zogen, beispielsweise Helmut Kohl (CDU), damals Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz: „...Kohl nun nannte die außenpolitische Entwicklung ‘im höchsten Maße betrüblich und gefährlich’...

...Er ließ keinen Zweifel daran, daß auch die CDU Rheinland-Pfalz die Ostverträge für falsch hält...”15

Besonnene Stimmen kamen auch zum Tragen: Prof. von Weizsäcker [Atom physiker], Bruder des CDU-Abgeordneten [und späteren Bundespräsidenten] Richard von Weizsäcker, erklärte..., “er glaube, daß die Ostverträge ‘ein Beitrag sind zu dem sehr schwierigen Geschäft, den politisch garantierten Weltfrieden etwas sicherer zu machen.’ Deshalb sollten sie ratifiziert werden...” (aus einem Brief an Rainer Barzel, CDU-Vorsitzenden und Unionskanzlerkandidat).16

Nicht nur bei Wissenschaftlern kam die Vernunft zu Worte, auch Theologen und andere im öffentlichen Leben Stehende verfassten Resolutionen für die Verträge. Besonders bemerkenswert ist, dass sich die Diskussionen bis in die Fabriken und Betriebe fortsetzten. Das sah der Arbeitgeberverband  ganz anders: „Gegen politische Aktionen in den Betrieben im Zusammenhang mit den Ostverträgen hat sich (...) die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände gewandt...“17

Was aber Firmenleitungen nicht davon abhielt, weiterhin die kostenlose Zeitschrift „werk und leben“ in ihren Betrieben auszulegen. Darin wurde massiv gegen die Ostverträge polemisiert. Das kam dann des öfteren hinten rum, sozusagen durch die kalte Küche: “...Der fortgesetzte Auflagenschwund des ‘stern’ wird darauf zurückgeführt, daß diese Illustrierte in besonders radikaler Weise für eine Verzichts- und Anerkennungspolitik in der Deutschlandfrage eingetreten ist...“18

Oder es wurde der umstrittene Ex-Botschafter Hans Berger zitiert: “Die Bedingungen der deutschen Ostverträge sind nach Ansicht des ehemaligen Botschafters der Bundesrepublik beim Vatikan, Berger, noch weitaus ungerechter als die des Versailler Friedensvertrages nach dem ersten Weltkrieg...”19

Gewerkschaften, Verbände und nicht zuletzt die erste Deutsch-Polnische Gesellschaft in der Bundesrepublik mit Sitz in Düsseldorf setzten sich vehement für eine Ratifizierung der Ostverträge ein. Ein Höhepunkt war, als die CDU/CSU mit einem Misstrauensantrag (24. April 1972) einen Anlauf zum Sturz von Willy Brandt nahm. 20  Proteste und kurzfristige Streiks hingegen unterstrichen den Willen einer großen Mehrheit in der Bevölkerung, mit den Ostverträgen einen Beitrag zum Weltfrieden zu leisten.

Die DDR hatte bereits am 6. Juli 1950 mit dem „Görlitzer Abkommen“ die Oder-Neiße-Grenze zu ihrem unmittelbaren Nachbarn Polen anerkannt, denn darum ging es ja im Wesentlichen.

In der Presse spiegelte sich diese Volksbewegung für die Ostverträge wider:

- Streiks bedrängen die Bonner Szene 21

- Protest: U-Bahn blieb fünf Minuten stehen 22

- Zehntausende legten die Arbeit kurzfristig nieder23

- Hunderttausend Menschen demonstrierten für Brandt24

- Welle der Sympathie für Brandts Friedenspolitik/Die Straßenbahnen standen still25

Der Antrag wurde in Bonn abgeschmettert: „Brandt bleibt Bundeskanzler / Der Mißtrauensantrag der CDU/CSU erhält nur 247 Stimmen“26 Nicht nur in der Bundesrepublik wurde das Ergebnis begrüßt – „Fremde umarmten sich“27  -  auch „Das Ausland atmete erleichtert auf“.28  Einer aus Mainz wußte es besser: „Kohl: Das war keine Niederlage“.29

Der 1. Mai 1972 stand nochmals ganz im Zeichen der Ostvertrags-Befürworter: „Demokratie auch hinter den Fabriktoren / Mai-Kundgebung auf dem Königsplatz [in München] / Höchste Teilnehmerschaft seit Jahren / Ostpolitik im Vordergrund...“30

Eine gemeinsame Resolution der Bonner Parteien brachte am 9. Mai 1972 den Durchbruch:

„Einigung in Bonn über eine Erklärung zu den Ostverträgen / Hektisches Auf und Ab in letzter Minute...“31  „Strauß und Ehmke holten die Kuh vom Eis / Bei Brötchen und Saft fiel die Entscheidung für Gemeinsam-keit“.32

Schließlich wurden am 17. Mai 1972 die „Verträge ohne Opposition ratifiziert / Union übte Stimmenthaltung / Kein Hindernis im Bundesrat...“33  Ein „Tag ohne Jubel“!34

 

1 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Oktober 1970

2 siehe POLEN und wir 4/2000

3 Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. März 2002

4 Der Tagesspiegel (Berlin) vom 10. Dezember 1971

5 Allgemeine Zeitung (Mainz) vom 17. Januar 1972

6 Allgemeine Zeitung (Mainz) vom 2. Februar 1972

7 Süddeutsche Zeitung vom 8. Februar 1972

8 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Februar 1972

9 Aachener Volkszeitung vom 17. Februar 1972

10 Saarbrücker Zeitung vom 25. Februar 1972

11 Aachener Zeitung vom 25. Februar 1972

12 Aachener Volkszeitung vom 4. März 1972

13 Neues Deutschland (Berlin-Ost) vom 27. März 1972

14 Saarbrücker Zeitung vom 11. Januar 1972

15 Stuttgarter Nachrichten vom 1. März 1971

16 Hamburger Abendblatt vom 28. März 1972

17 Frankfurter Rundschau vom 21. April 1972

18 werk und leben vom 20. Februar 1971

19 werk und leben vom 22. Januar 1972

20 Neue Zürcher Zeitung vom 26. April 1972

21 Aachener Volkszeitung vom 27. April 1972

22 Frankfurter Rundschau vom 27. April 1972

23 Saarbrücker Zeitung vom 27. April 1972

24 Hannoversche Presse vom 27. April 1972

25 Neue Rhein-Zeitung vom 27. April 1972

26 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. April 1972

27 Frankfurter Rundschau v. 28. April 1972

28 Aachener Nachrichten vom 28. April 1972

29 Neue Rhein-Zeitung vom 28. April 1972

30 Süddeutsche Zeitung vom 2. Mai 1972

31 Neue Zürcher Zeitung vom 11. Mai 1972

32 Odenwälder Heimatzeitung vom 10. Mai 1972

33 Wiesbadener Tagblatt vom 18. Mai 1972

34 Düsseldorfer Nachrichten vom 18. Mai 1972

Siehe auch "Dokumentation Polen-Information / Recherchen - Analysen - Studien, RAS.008: Warschauer Vertrag / Von den Verhandlungen bis zur Ratifizierung (1970 - 1972), Teil 1 und 2, 1997             m