Andrzej Walicki kritisiert neoliberale Übertreibungen im liberalen Denken

Falschspieler

 

Von Holger Politt

 

In Zeiten knapper Kassen der öffentlichen Hand wird auch in Polen, wie könnte es anders sein, der schwarze Peter gerne jener Seite zugespielt, die offenkundig über keine Lobby verfügt, die bei einer medienwirksamen Darstellung der eigenen Lage behilflich sein könnte. Gemeint sind all jene, die ihren privaten Haushalt nur aufrecht erhalten können, soweit sie aus verschiedenen, durch Steuereinnahmen gespeisten Geldtöpfen Mittel beziehen, ohne eine auf Heller und Pfennig „verrechenbare“ („nützliche“) Gegenleistung zu erbringen. Beispielsweise wird jemand, der seine bezahlte Beschäftigung verliert und folglich aus den unterschiedlichsten Gründen mittel- oder längerfristig auf dann folgende Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen ist, nicht so sehr als Opfer ablaufender marktwirtschaftlicher Prozesse gesehen und dargestellt, vielmehr wird im öffentlichen Meinungsbild zunehmend suggeriert, er belaste mit seinem persönlich zwar bedauernswerten Fall eigentlich Polens erfolgsverheißende Zukunft. Irgendwo geisterte dieser Tage eine bemerkenswerte Zahl durch die Zeitungsspalten, wonach etwa 60% aller Polen auf die eine oder andere Weise auf soziale Unterstützung angewiesen wären.

 

Auf eine breite und tief verwurzelte solidarische Einstellung brauchen die Betreffenden nicht zu zählen, obwohl auch in der heutigen Gesellschaft durchaus bei feierlicher Gelegenheit der Bezug zum Ethos der „Solidarność“-Zeit gerne herausgestellt wird. Auch in Polen hat sich längst der neue, modern genannte Zeitgeist durchgesetzt, dem nichts, auch der eigene Staat nicht, schlank genug sein kann. Die Polen – so ist immer häufiger und inzwischen unisono aus allen den EU-Beitritt herbeisehnenden politischen Lagern zu hören – müssten mehr und dazu professionelleren Unternehmergeist an den Tag legen! Als Muster ohne Konkurrenz gilt in dem Land auch in dieser sensiblen Frage die USA, deren schlanke, aus europäischer Sicht eher dürftige Wohlfahrtspolitik immer öfter als beispielhaft dargestellt wird. Um so mehr Aufmerksamkeit verdient eine Wortmeldung, die auffallender nicht sein konnte. Andrzej Walicki, einer der geschätztesten Denker im liberalen Spektrum Polens, warnte in einem Beitrag der Wochenzeitschrift „Przegl¹d Tygodniowy“ (8. April 2002, „Was sollte die liberale Intelligenz nicht sein“) vor dem Götzenglauben an eine neoliberale Weltordnung.

Der Autor, das sei hier kurz eingefügt, kennt die Zustände in den USA aus eigener Anschauung sehr genau, lebt und wirkt er dort doch bereits seit Anfang der 1980er Jahre. Aus dem umfangreichen Werk des sich selbst als Ideenhistoriker verstehenden Autors seien in unvollständiger Auswahl genannt: die Arbeiten über die russischen Slawophilen und die Rechtsphilosophie des russischen Liberalismus, eine wegweisende Monographie über Brzozowski, Untersuchungen über die Philosophie des polnischen Messianismus, Schriften über Patriotismus und Nationalismus in Polen, eine beinahe enzyklopädisch ausgerichtete und weithin gelobte Arbeit über den Marxismus („Marxismus und der Sprung ins Reich der Freiheit“) sowie eine tiefgründige Erörterung des Freiheitsproblems aus gegenwärtiger polnischer Sicht. Leider bleibt dem deutschsprachigen Leser, will er Walickis Arbeiten kennen lernen, nichts anderes übrig, als zu den polnischen bzw. englischsprachigen Ausgaben zu greifen.

In den zurückliegenden Jahren mischte er sich mehrmals nachdrücklich in die Diskussion über die Zeit der Volksrepublik ein, erwies sich dabei trotz aller Kritik an den Zuständen in der Zeit vor 1989 als entschiedener Wortführer eines fairen und historisch gerechten Umgangs mit den Verantwortlichen der Regierungspolitik der 1980er Jahre. Keine Frage, dass dieses verblüffende Engagement ihm nicht nur Freunde gemacht hat.

Ähnlich wird es ihm jetzt ergehen, wenn er dem liberalen Lager in Polen insgesamt den Vorwurf nicht ersparen will, in der sozialen Frage nahezu verantwortungslos und ohne jedes Verständnis für die gesellschaftlichen Dimensionen zu agieren. „Die frontale Kritik sozialer Rechte, die Forderung nach ihrer Eingrenzung bzw. vollständiger Beseitigung ist nichts anderes als ein Angriff auf den Standard der Menschenrechte.“ Diese Mahnung richtet er an jene Kollegen, die bei dem Versuch, die überraschend deutliche Niederlage des liberalen Lagers bei den letzten Sejm-Wahlen zu erklären, ein unter den Polen weitverbreitetes und um sich greifendes Anspruchsdenken ausgemacht haben wollen. Dieses müsse nun bekämpft werden, eine Pflicht für jeden liberal gesonnenen Intellektuellen, zumal ringsum und insbesondere im jetzigen Sejm Popu-listen aller Couleur das Sagen haben. Und so werden durch die liberal sich wähnenden Geister Gefahren für die Frei-heit an die Wand ge-malt, worunter vor allem ein über Hand nehmendes Konsum-streben und das Pochen auf soziale Absicherung durch den öffentlichen Haushalt verstanden werden.

Den wichtigsten Gegner haben diese Eiferer wider die sozialen „Besitzstände“ im homo sovieticus ausgemacht, der bis zum heutigen Tag massenhaft durch allseits überzogenen Forderungen das volle Entfalten der Marktwirtschaft erschwere und damit Polens Zukunftsaussichten belaste. Walicki führt einen ehemaligen „Solidarnoœæ“-Aktivisten an, der dem Publikum eröffnet, ein menschenfreundlicher Staat müsse den Armen beibringen, dass die Ursache für die bestehende und ständig größer werdende soziale Ungleichheit in der „Verschiedenheit des anderen Menschen“ begründet sei, welche mit allen daraus sich ergebenden Kon-sequenzen als Wert schlechthin unbedingt zu verteidigen sei. Arbeitslosenunterstützung oder gar das Versprechen, Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, seien sinnlose Maßnahmen, denn es müsse vielmehr darum gehen, den Betreffenden ihre Lage als zwangsläufigen Ausdruck ihres „Verschiedenseins“ klar zu machen. Wer also aus seiner unbefriedigenden sozialen Lage heraus kommen wolle, müsse zunächst einmal ein Anderer werden wollen. Staatliche Unterstützung aber manifestiere den bestehenden Zustand, erhalte die Illusion, es gehe auch auf bisherigem Wege irgendwie weiter.

Walicki fasst den einseitigen und völlig verzerrten Diskussionsstand treffend zusammen: „Diejenigen, die sich heute in Polen als Liberale ausgeben, meinen bekanntlich, dass soziale Forderungen Einzelner mit dem Liberalismus kollidieren, weil ja teils massive Einschränkungen der Marktfreiheit verlangt würden. Die Tatsache, dass diese Auffassung weithin akzeptiert wird, zeugt von der erfolgreichen Inbesitznahme des Begriffes Liberalismus durch die radikalen Marktwirt-schaftler, aber zugleich ist sie einer der Gründe für den wachsenden Unwillen gegenüber dem Liberalismus in breiten Kreisen der Gesellschaft.“ Der Autor verweist auf die liberale Tradition des 19. Jahrhunderts, die seinerzeit bereits den Gedanken der Reduktion von Freiheit auf rein marktwirtschaftliche Freiheit zurückwies und das Prinzip der öffentlichen Absicherung sozialer Mindeststandards als unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung einer möglichst freien Gesellschaft erachtete. Dieser Gedanke sei keine Kopfgeburt irgendwelcher Kommunisten, auch kein Privileg reicher Gesellschaften, er sei vielmehr geboren worden in Zeiten größter wirtschaftlicher Krise. Dieser Gedanke, so Walicki, gehöre untrennbar zu den Grundwerten liberaler Gesellschaften. Als Kronzeugen führt er Isaiah Berlin und John Rawls an. Letzterer halte den Respekt vor dem Kriterium der Gegenseitigkeit, also vor der Berücksichtigung der Interessen eines jeden Mitglieds der Gesellschaft, für unerlässlich. Berlin hielt die Verabsolutierung der ökonomischen Frei-heit allein schon deshalb für ein Problem, weil sie jedes Individuum zur Unterordnung unter die Erfordernisse marktwirtschaftlichen Konkurrenz verurteile, was den liberalen Grundsätzen der freien Selbstbestimmung und der Mannigfaltigkeit der Wege der individuellen Entfaltung widerspreche.

Schließlich scheut Walicki auch davor nicht zurück, die Soziallehre von Papst Johannes II. anzuführen, nach der die Würde der Arbeit nicht den Kapitalinteressen untergebuttert werden dürfe. Doch selbst vor dem „Tygodnik Powszechny“, also jener Zeitschrift, die den liberalen („offenen und fortschrittlichen“) Flügel des polnischen Katholizismus repräsentiert, mache die Deformation des Liberalismus nicht Halt. So fänden sich dort irrwitzige Äußerungen folgender Art: Das Verlangen nach Absicherung eines sozialen Minimums bzw. die Forderung nach Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Armen sei ein Beweis für die Bolschewisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins! Wenn das der Papst bei Abfassung seiner berühmten Sozialenzyklika doch nur geahnt hätte!

Am Schluss des Artikels spricht Walicki die heutige Situation an: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass der polnischen Staat, dem Druck der internationalen Konkurrenz und den harten Forderungen der Europäischen Union ausgesetzt, nicht die Mittel für seine aus den gesellschaftlichen Verpflichtungen sich ergebenden Verbindlichkeiten zur Verfügung hat. Doch in einem solchen Fall gehört es sich, es unumwunden zuzugeben, ohne die Menschen, die mit größter Anstrengung ums Überleben kämpfen, als unverbesserliche Populisten oder Anspruchsteller zu beschimpfen.“ Klare Worte, denen nichts hinzugefügt werden braucht. Vielleicht noch dies – Falschspieler solcher Art sollen nicht nur jenseits von Oder und Neiße ihr Unwesen treiben.