Von Holger Politt
In Zeiten knapper Kassen der öffentlichen Hand wird auch in Polen, wie könnte es anders sein, der schwarze Peter gerne jener Seite zugespielt, die offenkundig über keine Lobby verfügt, die bei einer medienwirksamen Darstellung der eigenen Lage behilflich sein könnte. Gemeint sind all jene, die ihren privaten Haushalt nur aufrecht erhalten können, soweit sie aus verschiedenen, durch Steuereinnahmen gespeisten Geldtöpfen Mittel beziehen, ohne eine auf Heller und Pfennig „verrechenbare“ („nützliche“) Gegenleistung zu erbringen. Beispielsweise wird jemand, der seine bezahlte Beschäftigung verliert und folglich aus den unterschiedlichsten Gründen mittel- oder längerfristig auf dann folgende Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen ist, nicht so sehr als Opfer ablaufender marktwirtschaftlicher Prozesse gesehen und dargestellt, vielmehr wird im öffentlichen Meinungsbild zunehmend suggeriert, er belaste mit seinem persönlich zwar bedauernswerten Fall eigentlich Polens erfolgsverheißende Zukunft. Irgendwo geisterte dieser Tage eine bemerkenswerte Zahl durch die Zeitungsspalten, wonach etwa 60% aller Polen auf die eine oder andere Weise auf soziale Unterstützung angewiesen wären.
Auf eine breite und tief verwurzelte solidarische Einstellung
brauchen die Betreffenden nicht zu zählen, obwohl auch in der heutigen
Gesellschaft durchaus bei feierlicher Gelegenheit der Bezug zum Ethos der
„Solidarność“-Zeit gerne herausgestellt wird. Auch in Polen hat sich
längst der neue, modern genannte Zeitgeist durchgesetzt, dem nichts, auch der
eigene Staat nicht, schlank genug sein kann. Die Polen – so ist immer häufiger
und inzwischen unisono aus allen den EU-Beitritt herbeisehnenden politischen
Lagern zu hören – müssten mehr und dazu professionelleren Unternehmergeist an
den Tag legen! Als Muster ohne Konkurrenz gilt in dem Land auch in dieser
sensiblen Frage die USA, deren schlanke, aus europäischer Sicht eher dürftige
Wohlfahrtspolitik immer öfter als beispielhaft dargestellt wird. Um so mehr
Aufmerksamkeit verdient eine Wortmeldung, die auffallender nicht sein konnte.
Andrzej Walicki, einer der geschätztesten Denker im liberalen Spektrum Polens,
warnte in einem Beitrag der Wochenzeitschrift „Przegl¹d Tygodniowy“ (8. April
2002, „Was sollte die liberale Intelligenz nicht sein“) vor dem Götzenglauben
an eine neoliberale Weltordnung.
Der Autor, das sei hier kurz eingefügt, kennt die Zustände
in den USA aus eigener Anschauung sehr genau, lebt und wirkt er dort doch
bereits seit Anfang der 1980er Jahre. Aus dem umfangreichen Werk des sich
selbst als Ideenhistoriker verstehenden Autors seien in unvollständiger Auswahl
genannt: die Arbeiten über die russischen Slawophilen und die Rechtsphilosophie
des russischen Liberalismus, eine wegweisende Monographie über Brzozowski,
Untersuchungen über die Philosophie des polnischen Messianismus, Schriften über
Patriotismus und Nationalismus in Polen, eine beinahe enzyklopädisch
ausgerichtete und weithin gelobte Arbeit über den Marxismus („Marxismus und der
Sprung ins Reich der Freiheit“) sowie eine tiefgründige Erörterung des
Freiheitsproblems aus gegenwärtiger polnischer Sicht. Leider bleibt dem
deutschsprachigen Leser, will er Walickis Arbeiten kennen lernen, nichts
anderes übrig, als zu den polnischen bzw. englischsprachigen Ausgaben zu
greifen.
In den zurückliegenden Jahren mischte er sich mehrmals
nachdrücklich in die Diskussion über die Zeit der Volksrepublik ein, erwies
sich dabei trotz aller Kritik an den Zuständen in der Zeit vor 1989 als
entschiedener Wortführer eines fairen und historisch gerechten Umgangs mit den
Verantwortlichen der Regierungspolitik der 1980er Jahre. Keine Frage, dass
dieses verblüffende Engagement ihm nicht nur Freunde gemacht hat.
Ähnlich wird es ihm jetzt ergehen, wenn er dem liberalen
Lager in Polen insgesamt den Vorwurf nicht ersparen will, in der sozialen Frage
nahezu verantwortungslos und ohne jedes Verständnis für die gesellschaftlichen
Dimensionen zu agieren. „Die frontale Kritik sozialer Rechte, die Forderung
nach ihrer Eingrenzung bzw. vollständiger Beseitigung ist nichts anderes als
ein Angriff auf den Standard der Menschenrechte.“ Diese Mahnung richtet er an
jene Kollegen, die bei dem Versuch, die überraschend deutliche Niederlage des
liberalen Lagers bei den letzten Sejm-Wahlen zu erklären, ein unter den Polen
weitverbreitetes und um sich greifendes Anspruchsdenken ausgemacht haben
wollen. Dieses müsse nun bekämpft werden, eine Pflicht für jeden liberal gesonnenen
Intellektuellen, zumal ringsum und insbesondere im jetzigen Sejm Popu-listen
aller Couleur das Sagen haben. Und so werden durch die liberal sich wähnenden
Geister Gefahren für die Frei-heit an die Wand ge-malt, worunter vor allem ein
über Hand nehmendes Konsum-streben und das Pochen auf soziale Absicherung durch
den öffentlichen Haushalt verstanden werden.
Den wichtigsten Gegner haben diese Eiferer wider die
sozialen „Besitzstände“ im homo sovieticus ausgemacht, der bis zum heutigen Tag
massenhaft durch allseits überzogenen Forderungen das volle Entfalten der
Marktwirtschaft erschwere und damit Polens Zukunftsaussichten belaste. Walicki
führt einen ehemaligen „Solidarnoœæ“-Aktivisten an, der dem Publikum eröffnet,
ein menschenfreundlicher Staat müsse den Armen beibringen, dass die Ursache für
die bestehende und ständig größer werdende soziale Ungleichheit in der
„Verschiedenheit des anderen Menschen“ begründet sei, welche mit allen daraus
sich ergebenden Kon-sequenzen als Wert schlechthin unbedingt zu verteidigen
sei. Arbeitslosenunterstützung oder gar das Versprechen, Arbeitslosigkeit
wirksam zu bekämpfen, seien sinnlose Maßnahmen, denn es müsse vielmehr darum
gehen, den Betreffenden ihre Lage als zwangsläufigen Ausdruck ihres
„Verschiedenseins“ klar zu machen. Wer also aus seiner unbefriedigenden
sozialen Lage heraus kommen wolle, müsse zunächst einmal ein Anderer werden
wollen. Staatliche Unterstützung aber manifestiere den bestehenden Zustand,
erhalte die Illusion, es gehe auch auf bisherigem Wege irgendwie weiter.
Walicki fasst den einseitigen und völlig verzerrten
Diskussionsstand treffend zusammen: „Diejenigen, die sich heute in Polen als
Liberale ausgeben, meinen bekanntlich, dass soziale Forderungen Einzelner mit
dem Liberalismus kollidieren, weil ja teils massive Einschränkungen der
Marktfreiheit verlangt würden. Die Tatsache, dass diese Auffassung weithin
akzeptiert wird, zeugt von der erfolgreichen Inbesitznahme des Begriffes Liberalismus
durch die radikalen Marktwirt-schaftler, aber zugleich ist sie einer der Gründe
für den wachsenden Unwillen gegenüber dem Liberalismus in breiten Kreisen der
Gesellschaft.“ Der Autor verweist auf die liberale Tradition des 19.
Jahrhunderts, die seinerzeit bereits den Gedanken der Reduktion von Freiheit auf
rein marktwirtschaftliche Freiheit zurückwies und das Prinzip der öffentlichen
Absicherung sozialer Mindeststandards als unerlässliche Voraussetzung für die
Entwicklung einer möglichst freien Gesellschaft erachtete. Dieser Gedanke sei
keine Kopfgeburt irgendwelcher Kommunisten, auch kein Privileg reicher
Gesellschaften, er sei vielmehr geboren worden in Zeiten größter
wirtschaftlicher Krise. Dieser Gedanke, so Walicki, gehöre untrennbar zu den
Grundwerten liberaler Gesellschaften. Als Kronzeugen führt er Isaiah Berlin und
John Rawls an. Letzterer halte den Respekt vor dem Kriterium der
Gegenseitigkeit, also vor der Berücksichtigung der Interessen eines jeden
Mitglieds der Gesellschaft, für unerlässlich. Berlin hielt die Verabsolutierung
der ökonomischen Frei-heit allein schon deshalb für ein Problem, weil sie jedes
Individuum zur Unterordnung unter die Erfordernisse marktwirtschaftlichen
Konkurrenz verurteile, was den liberalen Grundsätzen der freien
Selbstbestimmung und der Mannigfaltigkeit der Wege der individuellen Entfaltung
widerspreche.
Schließlich scheut Walicki auch davor nicht zurück, die
Soziallehre von Papst Johannes II. anzuführen, nach der die Würde der Arbeit
nicht den Kapitalinteressen untergebuttert werden dürfe. Doch selbst vor dem
„Tygodnik Powszechny“, also jener Zeitschrift, die den liberalen („offenen und
fortschrittlichen“) Flügel des polnischen Katholizismus repräsentiert, mache
die Deformation des Liberalismus nicht Halt. So fänden sich dort irrwitzige
Äußerungen folgender Art: Das Verlangen nach Absicherung eines sozialen Minimums
bzw. die Forderung nach Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten
der Armen sei ein Beweis für die Bolschewisierung des gesellschaftlichen
Bewusstseins! Wenn das der Papst bei Abfassung seiner berühmten Sozialenzyklika
doch nur geahnt hätte!
Am Schluss des Artikels spricht Walicki die heutige Situation an: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass der polnischen Staat, dem Druck der internationalen Konkurrenz und den harten Forderungen der Europäischen Union ausgesetzt, nicht die Mittel für seine aus den gesellschaftlichen Verpflichtungen sich ergebenden Verbindlichkeiten zur Verfügung hat. Doch in einem solchen Fall gehört es sich, es unumwunden zuzugeben, ohne die Menschen, die mit größter Anstrengung ums Überleben kämpfen, als unverbesserliche Populisten oder Anspruchsteller zu beschimpfen.“ Klare Worte, denen nichts hinzugefügt werden braucht. Vielleicht noch dies – Falschspieler solcher Art sollen nicht nur jenseits von Oder und Neiße ihr Unwesen treiben.