Zur Narration nationaler Vergangenheit in der polnischen Literatur

 

Von Hans-Christian Trepte

 

Das Fehlen eines eigenen Staates in der Zeit der Teilungen Polens hat bewirkt, dass es zu einer eigenwilligen Verbannung des politischen Lebens in die Literatur, die Religion und in den Kampf um nationale Selbstbehauptung kam. Generationen von Polen holten sich ihr Wissen um die eigene Vergangenheit nicht aus Schullehrbüchern und Werken einer nationalen Historiographie, sondern aus einer stark historisierenden Literatur und Kunst. Insbesondere der  historische Roman und der historisch bestimmte Essay dienten der kollektiven Selbstverständigung und vergegenwärtigten gesamtnationale Tatbestände. Die Mobilisierung historischer Erfahrungen diente auch der Deutung und Bewältigung von Gegenwartsproblemen. Das Herausstellen patriotischer Großtaten der Vorfahren oder aber eine selbstgefällige messianische Opferperspektive einzunehmen sollten den unterdrückten Polen helfen, zumindest als „moralische“ Sieger in der Geschichte zu erscheinen. 

 

Dabei gab es zwangsläufig kaum Platz für eine kritische Distanz. Der Glanz nationaler Vergangenheit sollte Kompensation für die in der Gegenwart erlittenen Niederlagen und erfahrenen Demütigungen sein. Oft wurde nicht das literarische Werk per se, sondern ein bestimmter Mythos, ein bestimmtes Geschichtsbild rezipiert.

Während der Blick in die eigene Geschichte z.B. für die Deutschen ein Problem darstellt, charakterisiert die Polen und ihre Literatur bis 1989 ein besonderer historischer Determinismus, der bei einigen Schriftstellern direkt einer historischen Obsession glich. Oft wurde daher von nicht aus Polen kommenden Literaturkri-tikern die polnische Literatur thematisch gesehen als hermetisch klassifiziert, weil sie intensiv mit dem Schicksal der eigenen Nation beschäftigt war. Daraus wurden allerdings voreilig Schwierigkeiten für den Rezeptionsprozess in anderen Sprachen und Kulturen abgeleitet. Mit „historischen Obsessionen“ waren die spezifischen, in der martyrologisch-messianischen Tradi-tion wurzelnden Geschichtsauffassungen und Mythen gemeint, die in Polen selbst von den Gegnern der „romantischen Le-gende“ sowie den sogenannten „Spöttern“ (szydercy) wie Wyspiański, Gombrowicz, Gałczynski, Mrożek attackiert und zum Teil ad absurdum geführt wurden.

Neue Hochzeit des Messianismus  in der Literatur nach 1981

Allerdings hatten in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, während des Kriegsrechts in Polen, zahlreiche romantische und messianisch geprägte Muster eine Wiederauferstehung erfahren, war durch die historische Analogie zur Zeit der Teilungen und Unterdrückung im 19. Jahrhundert erneut eine im „romantischen Stil“ gehaltene Dichtung entstanden. Doch die historische Wirklichkeit der achtziger Jahre stimmte nicht mehr mit der Opposition des 19. Jahrhunderts -  polnische Opfer auf der einen und fremde Henker auf der anderen Seite - überein. Der „Krieg“ des Generals Jaruzelski wurde, auch wenn man ihn als General „ja ruski“ zu entpolonisieren versuchte, von polnischen Soldaten und Offi-zieren gegen opponierende Polen geführt. Eine Konstellation, die bereits in Tadeusz Konwickis berühmter Antiutopie „Mała Apokalipsa“ (Eine polnische Apokalypse) auftaucht, in der polnische Soldaten bereits teilweise russisch sprechen und die polnische Fahne bis auf einen dünnen weißen Streifen rot ist. Konwickis Werke wie „Mała apokalipsa“, „Rzeka podziemna, podziemne ptaki“ aus dem Jahr 1989 oder „Czytad³o“ zeigen, wie in der Literatur und im Geschichtsbewusstsein ein Geschichtsbild zu verschwinden beginnt, das über eine versteckte innere Logik und ein Ziel verfügte, das vorrangig darin bestand, den Glauben an eine freie, unabhängige Zukunft zu stärken. In diesen Werken spielt die Demythologisierung nationaler Themen, die Skepsis gegenüber tradierten ideologischen Leitbildern eine bedeutende Rolle. Verzichtet wird auf gesamtgesellschaftliche Modelle, eine „stillgelegte nationale Geschichte“ wird lediglich in stark reduzierten Ereignisstrukturen abgebildet, Geschichte stellt sich als eine Auswahl aus einer Reihe von Ereignissen dar.

 Zur Flucht aus der Geschichte (in der polnischen Gegenwartsliteratur)

Nach der demokratischen Wende der Jahre 1989/90 kam es in Polen zu einer tiefen Krise des romantischen Denkens, zu entscheidenden Veränderungen im allgemeinen geschichts-philosophischen Bewusstsein.

In Übereinstimmung mit dem Krakauer Literaturwissenschaftler Aleksander Fiut kann nach dem Sturz des Kommunismus und der demokratischen Wende in Polen eine Flucht weg von der Geschichte (ucieczka od historii) beobachtet werden, die mit einer entscheidenden Umbewertung der nationalen Traditionen, historischer Mythen und Legenden verbunden ist. 

Bereits 1991 hatte die renommierte polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion darauf verwiesen, dass die in Polen lange währende Herrschaft eines einheitlich romantisch-literarischen Stils zu Ende gegangen sei. „Seit zweihundert Jahren organisierte sich unsere Kultur um geistige Werte, die als Symbole polnischer Identität begriffen wurden wie Vaterland, Freiheit, nationale Solidarität. Zusammen mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die aus Polen ein „normales“ Land der Demokratie und des freien Marktes machen sollte, musste dieser eigenartige Monolith ins Wanken geraten. „Homogenität“ vertrug sich nicht mehr mit „Pluralität“, „Solidarität“ nicht mehr mit „Konkurrenz“ und „Wert“ (hauptsächlich als geistiger) nicht mehr mit „Geschäft“ (vor allem als ökonomischem)“.

Vor allem junge Schriftsteller begannen jetzt, ihre Federn gegen die romantisch verklärten Mythen zu zücken, welche die Zeit der polnischen Teilungen, die Okkupation im Zweiten Weltkrieg, den stalinistischen Terror im Nachkriegspolen und das 1981 verkündete Kriegsrecht umfassen. Anfang der achtziger Jahre hatten vor allem jüngere Vertreter des polnischen Exils unter dem Einfluss der westlichen Kulturen neue narrative Techniken, Ausdrucksweisen und Stilformen aufgenommen und eine nationale polnische Sicht und literarische Darstellung der Geschichte abgelehnt. Eine neue, erfrischende Ichbezogenheit machte sich in der polnischen Literatur breit, unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen. Sie wurde allein geleitet und geprägt von den Bedingungen des privaten Umfelds. Diese Suche nach dem Authentischen, Wahren, der Befreiung von diversen politischen und gesellschaftlichen Fesseln stand auch bei Autoren der Inlandliteratur, vor allem nach 1989/90, die sich für die ästhetische Option der sogenannten „neuen Privatheit“ aussprachen, hoch im Kurs. So stellte z.B. Antoni Libera seinem auch in deutscher Sprache (2000) erschienenen Bestseller „Madame“ ein Zitat von Artur Schopenhauer voran:

„Die Aufgabe des Romanschreibers ist nicht

große Vorfälle zu erzählen,

sondern kleine interessant zu machen“.

Sein Schriftstellerkollege Piotr Siemion, der einen der ersten Romane über Wroc³aw mit dem Titel „Picknick am Ende der Nacht“ schrieb, äußert sich wie folgt:

„Vergiß das (historische) ‘Früher’! Du denkst immer noch,

daß alles ist wie früher, daß wir immer noch per

Zeichensprache das große Ost-West-Gespräch führen. Vergiß es.

Es ist vorbei, und laß mich in Ruhe.“

Die Literatur dieser neuen Schriftstellergeneration wendet sich bewusst vom Anspruch ab, die historische Erfahrung des Kollektivs aufzuzeigen und flüchtet aus der großen, totalen Geschichte in die kleine, persönliche. Auf ironische bis sarkastische Weise spielen die Vertreter der Gegenwartsliteratur mit Versatzstücken historischer und kultureller Mythen aus der „Zeit des Kampfes“, damit ist in erster Linie die Zeit des Kriegsrechts gemeint, oder negieren diese völlig. 

Interessieren sich diese Autoren dennoch für die Vergangenheit, dann vor allem, um dort Quellen und Gründe für gegenwärtige Verhaltensweisen und die geistige Genealogie der Polen zu finden. In diesen literarischen Werken verschwindet der „Erwartungshorizont“, dafür entwickelt sich der mit der Vergangenheit verbundene „Erfahrungsraum“. In diesen neuen Verfahrensweisen sieht nicht zuletzt Leszek Kołakowski ein wichtiges „Zeichen der Normalisierung des polnischen Denkens“, aber auch ein “Symptom des Verlustes von Identität, von Integrität und kultureller Kohärenz“.

Jerzy Pilchs Roman „Das Verzeichnis der Fremdgängerinnen. Reiseprosa“ erweist sich zum Beispiel als eine ausgezeichnete Parodie bzw. Persiflage der stereotypen Vorstellungen, die sich die Polen von sich selbst und ihrer Rolle in der Geschichte gemacht haben. Deutlich greift Pilch auf Muster eines Gombrowicz und Mrozek zurück. Das Ritual der aufgezwungenen historischen Form, vor allem der messianisch-martyrologischen, gipfelt in einer spezifischen, an Schwejk geschulten Narrenposse.

Die nationalen Mythen werden parodiert

Dem Westen mit dem durch die Geschichte erfahrenen polnischen Leid zu imponieren, ist zu einem kaum noch zu ertragenden Zwang geworden. Pilchs Protagonist mit dem bezeichnenden, der romantischen Literatur entlehnten Namen Gustaw, ist ein verschrobener Erotomane, der einen schwedischen Humanisten durch eine eigenwillige Welt voller tückischer, kaum erklärbarer polnischer Erfahrungen führt. Das Pantheon polnischer Geschichte und Kultur, Krakau, mit dem der Schwede bekannt gemacht werden soll, ist voller Symbole des polnischen Heldentums, der polnischen Leidensgeschichte, der Selbstaufopferung. Auf amüsant-groteske Weise entlarvt Pilch den Kult des polnischen Martyriums, der polnischen Seele, des ewig Polnischen, der sich gerade auch in den zahlreichen Denkmälern des altehrwürdigen Krakaus manifestiert. In diesem Prozeß der nationalen Entmythologisie-rung wird die schamhafte Seite des polnischen Nationalbewußtseins nicht ausgespart: Selbstmitleid, Minderwertigkeitsgefühle, Opportunismus und Prahlsucht.

Anders bei den Danzigern Huelle oder Chwin, die in ihren literarischen Werken eine neuartige Hermeneutik des individuellen historische Gedächtnisses betreiben, die bemüht sind, die Umschichtungen und Veränderungen in der polnischen Geschichtskultur unter dem Einfluss des neuen individuellen Zugangs zur Geschichte, aber auch des neuen Ansatzes der polnischen Historiographie zu zeigen. Auch in diesen Werken geht es nicht mehr um die große, zerstörerische Geschichte im Landesmaßstab, sondern um ihre Auswirkungen auf die Menschen, ihre Reflexion in Einzelschicksalen, in persönlichen Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Haltungen und Überzeugungen.

In einer Zeit der weitgehenden Selbstisolation Volkspolens vom Westen stellte das Exil eine Chance für die polnische Kultur und Literatur dar, sich der Welt anzunähern, modern zu wirken, sich von der aufgebürdeten Last der Geschichte und dem ewig Polnischen zu befreien. Doch der Schock der Beschlüsse von Jalta, mit denen Polen aus der europäischen Gemeinschaft verstoßen und von der westlichen Kultur verraten worden war (Krzysztof Dybciak (Hrsg.): Polen im Exil) hatte, so Gustaw Herling-Grudzinsski, auch zu einer Neuauflage von Werken geführt, die die polnische Geschichte und Mythen verklärten, Mythen, die zur „Megalomanie, zur Verwechslung politischer mit moralischen Maßstäben“ führten. So erkannte Czesław Miłosz im Exil eine „ungewöhnliche Chance“ für die polnische Literatur: „Immer historisch orientiert, aber nur mit der eigenen Geschichte beschäftigt, also kaum zugänglich für Fremde, wurde die polnische Literatur plötzlich mit einem universellen Thema konfrontiert. Doch nur wenige Schriftsteller zogen ihre Konsequenzen daraus.“

Die polnische Exilliteratur im Prozeß der „Flucht aus der Geschichte“

Zu den nationale Horizonte überschreitenden Vertretern der „Kosmopolen“ (Kosmopolacy) gehörten beispielsweise Andrzej Bobkowski, der diesen Ausdruck geprägt hatte, Czes³aw Mi³osz, Witold Gombrowicz, Tadeusz Nowakowski und Marian Pañkowski. Die Ablehnung historischer, nationaler und gesellschaftlicher Determinanten sollte im Falle von Gombrowicz das Individuum dazu bringen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, um ein eigenes Lebenskonzept verwirklichen zu können. Mi³osz setzte dagegen der unmenschlichen Geschichte einen Menschen entgegen, der im Biologischen verankert zur Epiphanie fähig und für metaphysische Erfahrungen offen war. In der individuellen religiösen Erfahrung, die sich Dogmen und Institutionen entzieht, sollte der Mensch aus der Hölle der Geschichte befreit werden. Für Herling-Grudziñski wiederum bedeutet Schreiben moralische Pflicht, Zeugnis abzulegen von einer weitgehend unbekannt gebliebenen „Welt ohne Erbarmen“, die den Menschen zum Gefangenen einer „von der Kette gelassenen Geschichte“ (Jerzy Stempowski) gemacht hatte.

Zum Kanon des konservativen polnischen literarischen Exils gehörte allerdings auch die Verwurzelung in der Tradition, die Bezugnahme auf polnische historische Erfahrungen sowohl der alten Adelsrepu-bik als auch der 2. Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit. Während das Londoner Exil das historische Denken im Sinne der „jagiellonischen Ostpolitik“ und historische Literatur in diesem Sinne weiter förderte, sprach sich das um die Zeitschrift „Kultura“ gruppierende Pariser Exil dafür aus, die bankrott gegangene „jagiellonische Idee“ durch „kulturelle und politische Ausstrahlung“ zu ersetzen. 

Die Pariser „Kultura“ war zur einzigen polnischen Zeitschrift geworden, die ständig auch über ukrainische Fragen schrieb, eine ukrainische Chronik führte. Sie stand in Verbindung mit der Sowjetukraine und dem ukrainischen Exil, besprach ukrainische Literatur und brachte diese dem polnischsprachigen Leser nahe. Von der Bedeutung, die von weitsichtigen Vertretern des Exils und der Auslandspolen den Beziehungen zur Ukraine beigemessen wurde, mag die berühmte Formulierung Zbigniew Brzezinskis zeugen: „Wenn ich ein Bürger Polens wäre und zwischen der Zugehörigkeit Polens zur NATO und einem Bündnis Polens mit der Ukraine wählen könnte, so würde ich mich für letzteres entscheiden“.   Der polnische Schriftsteller Stanisław Vincenz schlug als Synthese von Universalismus und Regionalis-mus eine „Europäische Gemeinschaft der Vaterländer“ vor. Zu den Traditionen des europäischen Föderalismus zählte für ihn nicht nur die von Dante entwickelte Idee des universellen Staates der Christen, sondern auch die lebendige Erinnerung an die multinationale und multikonfessionelle Polnische Adelsrepublik des 16. und 17. Jahrhunderts, in der u.a. auch die Ukraine als eine von vielen Kanton-Regionen ein gleichberechtigtes Mitglied sein sollte. Die damaligen Visionen wurden nach 1989 zum Fundament der neuen polnischen Außenpolitik der III. Polnischen Republik. Der Redakteur der Pariser „Kultura“, Jerzy Giedroyc, wurde posthum für sein Wirken im Geiste der ukrainisch-polnischen Versöhnung mit einer der höchsten Aus-zeichnungen von der ukrainischen Regie-rung geehrt.

Zur Entstehung einer besonderen polnischen Geschichtskultur trugen die historischen Romane von Henryk Sienkiewicz bei. Wincenty Pol, der mit seiner Arbeit „Historiczny obszar Polski” (1867) die historische Geographie begründete, hatte 1875 mit seiner ritterlichen „Rhapsodie“ „Mohort. Rapsod rycerski“ eine Apotheose des östlichen Grenzlandes der Rzeczpos-polita vorgelegt. Sienkiewicz hatte in deutlicher Anknüpfung an Wincenty Pol eine „patriotische Legende“ gestiftet, ein farbiges historisches Gemälde geschaffen, das bis heute fasziniert. Eine Legende, die gleichberechtigt neben den bereits von Witold Molik im Band „Mythen der Nationen“ aufgezählten Legenden von Piast, der Schlacht bei Grundwald/ Tannenberg, des Entsatzes von Wien, der Verfassung vom dritten Mai und des Kosciuszko-Aufstandes stehen sollte. Die nationale Geschichtsphilosophie Sienkie-wicz’, mit der Generationen polnischer Jugendlicher aufwuchsen, ist für Czes³aw Mi³osz zum Symbol einer geradezu „idealen Verknüpfung und Stärkung polnischer Illusionen“ geworden. Sienkiewicz’ „üble Literatur“, in dessen Geist auch Mi³osz erzogen wurde, provozierte sein Aufbe-gehren gegen die „Hohepriester des nationalen polnischen Ritus“.

Ein polnischer Mythos wird demaskiert - Henryk Sienkiewicz

Witold Gombrowicz hatte dem polnischen Exil vorgeschlagen, generell sein bisheriges Verhältnis zur polnischen Vergangenheit und zum polnischen Nationalcharakter zu revidieren, um das Denken in historischen Mythen und nationalen Stereotypen obsolet zu machen. Mit dieser Forderung hatte sich der in Argentinien lebende Schriftsteller direkt gegen das Londoner Exil gerichtete, welches das Polentum als eine gegen den Kommunismus und die Revidierung der östlichen polnischen Grenzen verschworene Gemeinschaft betrachtete und jegliche Kritik an der katholischen Kirche und die großen sakrosankten Schriftsteller wie Mickiewicz oder Sienkiewicz abwies.

In seinen im Exil geschriebenen Tagebüchern setzte sich Gombrowicz mit diesen Autoren besonders auseinander. Sie sprach er schuldig, die verkrustete Form des polnischen Geistes geschmiedet zu haben, aus der er, Moses gleich, die Polen wieder heraus führen möchte.  Die polnische Literatur sollte - Gombrowiczs Meinung zufolge - keine „Bilder allerheiligster Gefühle“ zeichnen und gegenüber dem „polnischen Stil“ eine gesunde Distanz halten. 

Mickiewicz und Sienkiewicz waren für Gombrowicz Autoren, die den nachfolgenden Schriftstellern ihre patriotische, heroische Thematik aufdrängten. Doch die Polen brauchten vielmehr das befreiende Lachen, das der polnischen historischen Tragik angepasst werden müsse. In erster Linie könne das erreicht werden, wenn es gelänge, emotional und intellektuell von der Heimat bzw. dem Vaterland Abstand zu nehmen, um damit freier wirken und schaffen zu können, aber auch, um mit dem eigenen literarischen Schaffen in der Welt Aufmerksamkeit zu erzielen. Deshalb müssten die Polen aus dem historischen Käfig befreit werden, in den man sie gesteckt hatte.

Gombrowicz’ Attacken gelten in erster Linie dem „erstrangigen unter den zweirangigen polnischen Schriftstellern“, Henryk Sienkiewicz. Sienkiewicz habe sich nicht einmal fünf Minuten um die absolute Wahrheit gekümmert. Er gehöre damit nicht zu den Autoren, welche die aufgesetzten historischen Masken herunterreißen, sondern sie vielmehr aufsetzt, um zu gefallen. Deshalb die zahlreichen historischen Schönheitsoperationen, die naiven Illusionen, die narrative Kraftmeierei zur Erbauung der Herzen. Neben der Nation steht bei Sienkiewicz Gott und die mächtige katholische Kirche, und damit befinde sich der Schriftsteller in perfekter Harmonie mit der patriotisch-vaterländischen und par exellence moralisierenden polnischen Literatur, denn alles, was ein solcher Schriftsteller zu Papier bringe, schreibe er im „Namen der Nation und Gottes, Gottes und der Nation“. Am polnischen Patriotismus, einfach und behende in seinen Anfängen, blutig und gewaltig in seinen historischen Folgen, betrank sich, so Gombrowicz, das Polen des Henryk Sienkiewicz bis zur Besinnungslosigkeit. Gegenüber den äußeren Geschehnissen wurde so die polnische Seele unempfindlich, ihre selbstgefälligen Vorstellungen glichen der Rüstung eines Don Quichote, den man besser keinen Schlägen von außen versetzen sollte.

Sienkiewicz ist es ohne Zweifel gelungen, die Seelen seiner Leser zu erobern und deren Vorstellungskraft weitgehend zu beeinflussen. Der Zweck heiligte die Mittel, in einem solchen Maße, daß Sienkiewicz - Czeslaw Milosz zufolge - die Beziehungen zu den wichtigsten Nachbarvölkern der Polen, den Ukrainern im Osten und den Deutschen im Westen, für Generationen mit erfolgreich vergiftete hat und der Stereotyp des Ukrainers als ruchloser Verräter und des Deutschen als grausamer und gefühlloser Kreuzritter bis in die Gegenwart die Vorstellungen vieler Polen beeinflusste.

„Wenn die Literaturgeschichte den Einfluß der Kunst auf die Menschen als Kriterium akzeptieren würde“, schreibt Gombrowicz, „dann müßte Sienkiewicz (dieser Dämon, diese Katastrophe unseres Verstandes, dieser Schädling) in ihr einen fünf Mal größeren Platz als Mickiewicz einnehmen. (...) Denn Sienkiewicz ist der Wein, an dem wir uns berauschten und bei ihm begannen unsere Herzen höher zu schlagen... /und mit wem man sich auch immer unterhielt, mit einem Arzt, einem Arbeiter, einem Professor, einem Adligen, einem Beamten, immer kam man auf Sienkiewicz zu sprechen, Sienkiewicz als das intimste Geheimnis des polnischen Geschmacks, des polnischen ‘Schönheitssinn.