Kehrt nicht zurück, sondern kommt

Das Erinnern an die Rechte der Vertriebenen erweckt den Eindruck, dass die Deutschen wieder etwas im Schilde führen

 

Von Adam Krzemiński

Mit der Aussage des christdemokratischen Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber, die Polen zur Aufhebung der Dekrete aufrief, die die Vertreibung und Enteignung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg billigten, sind die bösen Geister der Vergangenheit zurückgekehrt. Noch schlimmer ist, dass dies an der Schwelle unseres Beitritts zur Europäischen Union passiert - dabei sollte der EU-Beitritt die Polen endgültig überzeugen, dass es auf diese Weise zu einer Versöhnung zwischen den einst verfeindeten Nationen kommt.

 

Eigentlich sind wir alle Vertriebene. Die Vertreibung aus dem Paradies, von unseren biblischen Stammeltern verschuldet, ist Fundament der religiösen Empfindungen von Juden, Christen und Moslems. (...)

Im Grunde genommen sollte diese biblische Perspektive den deutschen Vertriebenen helfen, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Sie sind deportiert und aus ihrer Heimat ausgesiedelt worden – als Folge eines Menschen mordenden Krieges, verursacht vom Hitlerstaat, dessen Bürger sie waren.(...)[Es] ist eine Tatsache, dass es sowohl in Deutschland als auch in Polen – und das gerade in Kreisen, die sich auf christliche Werte berufen -  unversöhnliche Menschen gibt, die die Ideologie des nationalen und individuellen Egoismus über universelle Werte stellen.

Gerade im katholischen Bayern haben christdemokratische Politiker in den letzten Jahren die verschiedensten Forderungen an Tschechien und Polen erhoben; zunächst verlangten sie eine Entschuldigung für die Vertreibungen, dann Entschädigungen für das verlorene Hab und Gut und schließlich die Aufhebung der Beneš- und Bierut-Dekrete. Dagegen wurden gegen die Sowjetunion oder Russland keine solchen Forderungen erhoben, obwohl doch das frühere Königsberg heute zu Russland gehört. Nicht verlangt wurde auch die Aufhebung der Stalin-Dekrete, ganz im Gegenteil – diese wurden Teil des deutschen Einigungsvertrages von 1990, in dem festgestellt wurde, dass die von der Besatzungsverwaltung in den Jahren 1945-1949 vorgenommenen Enteignungen nicht rückgängig zu machen seien. Und der Grund dafür ist nicht, dass Russland kein NATO-Mitglied ist und nicht in die Europäische Union strebt. Russland ist ganz einfach mächtig und man hat dieses Land nicht direkt vor der Nase – und Stalin war Sieger jenes Krieges – ein Sieger, an dessen Sieg nicht zu rütteln war.

Warum gerade wir?

Indem Hitler 1939 in den tschechischen Rumpfstaat einmarschierte, brach er das (schändliche, aber von den Großmächten unterzeichnete) Münchener Abkommen von 1938; als er dann gemeinsam mit Stalin in Polen einmarschierte und mit ihm zusammen einen massenhaften Bevölkerungsaustausch in Gang setzte – indem er Polen aus den Gebieten vertrieb, die dem Deutschen Reich angegliedert wurden und dort Deutsche ansiedelte, die aus den baltischen Staaten oder Wolhynien abgezogen wurden – brach er selbst im Namen des Deutschen Reiches sowohl das „Recht auf Heimat“ als auch das Eigentumsrecht. Im Übrigen respektierte das Reich dieses Recht seit 1933 nicht mehr: Man beschlagnahmte das Eigentum politischer Gegner und Juden, die spätestens ab 1938 die ersten Vertriebenen waren.(...)

In Osteuropa war der Zweite Weltkrieg von Anfang an auf Eroberung angelegt, auf Dezimierung und danach Vertreibung und Liquidierung der örtlichen Bevölkerung, um den Deutschen als „Nation ohne Raum“ Siedlungsgebiete zu schaffen. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass die nach dem Krieg vorgenommenen Grenzänderungen und Umsiedlungen der Deutschen, vereinbart von den Siegermächten in Jalta und Potsdam (...), aus der Logik des Krieges folgten und auch un-schuldige Menschen trafen, die weder den Nationalsozialismus unterstützt noch vom Krieg profitiert hatten. Tatsache ist auch, dass die Aussiedlungen keine humanitäre „Abschiebung“ waren (...)

Zwangsumsiedlungen und Beschlagnahme von Eigentum sind immer ein Schock für die Menschen, die einem solchen Vorgehen zum Opfer fallen (...) Es braucht ein hohes Maß an Sensibilität, um über das eigene Leid hinauszugehen und die tieferen Ursachen der erlittenen Tragödie zu erkennen. Unter den deutschen Vertriebenen fehlte es nicht an solchen, die die deutsche Schuld an dem Menschen mordenden Krieg nicht als etwas Abstraktes behandelten und in den Aussiedlungen eine drakonische – aber nach einem solchen Krieg unvermeidliche – Vergeltung sahen, eine Form der Strafe, die die Deutschen aus dem Osten besonders hart traf. Viele jedoch versöhnten sich nicht mit der Wirklichkeit, getreu der Devise: Warum gerade wir?

Die moralische Runge

Die Vertreibung aus dem Osten war in Nachkriegsdeutschland ein Trauma von Millionen von Menschen, gleichzeitig aber auch ein moralisches Pfand, das Politiker der Bundesrepublik bei Verhandlungen über Kriegsreparationen und einen Friedensvertrag einsetzten. Fundament der bundesdeutschen Rechtsdoktrin – das von keiner der Siegermächte geteilt wird – war und ist immer noch der Grundsatz, dass das Potsdamer Abkommen für Deutschland völkerrechtlich nicht bindend sei, da Deutschland daran nicht beteiligt gewesen sei und trotz der bedingungslosen Kapitulation weiterhin in den Grenzen von 1937 existiert habe. Warum Deutschland ausgerechnet in den Grenzen von 1937 und nicht in denen von 1939 oder 1933 fortbestanden haben soll, war eine genauso beliebige Interpretation wie das gesamte Dogma dieses Rechtsstandpunktes. (...) Der genannte deutsche Rechtsstandpunkt ist (...) bis heute eine heilige Kuh der deutschen Politik und Ursache für immer wiederkehrende Irritationen in den Beziehungen mit Tschechien oder Polen sowie für die sehr verdrehte Vertreibungsideologie.

Seit einigen Jahren wird unter deutschen Historikern eine lebhafte Debatte darüber geführt, inwieweit in den fünfziger Jahren eine bewusste Manipulation mit Hilfe der Vertreibungsproblematik und dem Begriff der „Vertreibung“ selbst stattgefunden hat. Dieselben Historiker wie etwa Werner Conze und Theodor Schieder, die im Dritten Reich nachgewiesen hatten, dass das östliche Mitteleuropa deutsch sei, und sich dabei auf Untersuchungen der deutschen Minderheit gestützt hatten, fertigten auf Bestellung der Bundesregierung eine Dokumentation der Vertreibungen an (...)

Alles, was in ursächlichem Zusammenhang mit den Aussiedlungen stand (...) wurde in den Untersuchungen zur Vertreibung der Deutschen nicht berücksichtigt. (...)

Auf die Nachkriegsgeschichte der deutschen Vertriebenen kann man aus unterschiedlichen Perspektiven blicken. (...) Man muss auch sehen und würdigen, dass sie einen Anteil an der Versöhnung und der Unterbrechung des – um mit Stanis³aw Stomma [bekannter konservativer polnischer Publizist - Anm. d. Übers.] zu sprechen -  Fatalismus der Feindseligkeit haben. Es geht hier um die aus den Ostgebieten stammenden Deutschen, die für die Anerkennung der Nachkriegsrealität und die deutsch-polnische oder deutsch-tschechische Annäherung gearbeitet haben. Andererseits aber lässt sich die andere Rolle der Vertriebenen nicht aus der Geschichte ausradieren – die Rolle, ein Milieu der Unversöhnlichkeit zu sein – der Unversöhnlichkeit mit den Dingen, die infolge eines vom deutschen Staat verursachten räuberischen Krieges geschahen. Dieses Milieu lehnt die neue polnisch-deutsche Grenze ab und erhebt Eigentums- oder rechtliche Forderungen gegenüber Polen, ohne irgendein Gefühl für die Schuld am Krieg zu haben. In den Aussagen prominenter Vertriebener, die bei uns wiederum von der Propaganda als Schreckgespenst des deutschen Revisionismus und Revanchismus benutzt wurden, findet man kein allzu großes Interesse daran, sich in die Situation der östlichen Nachbarn hineinzuversetzen, obwohl viele von diesen Menschen Polen und die polnische Sprache aus der Vorkriegszeit kannten. (...)

Die Beneš- und Bierut-Dekrete aufheben

Und doch meldete sich in den zwölf Jahren nach dem großen Umbruch in Europa, der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch das vereinte Deutschland und dem Abschluss des polnisch-deutschen Freundschaftsvertrags immer wieder die Kriegs- und Nachkriegsvergangenheit mit Spannungen und Missverständnissen. (...)

Während des Wahlkampfes üben deutsche Politiker wiederholt - mit der Regelmäßigkeit eines Chronometers - auf plumpe Weise Druck auf Tschechien und Polen aus, um diese Länder zur „Aufhebung der Beneš- und Bierut-Dekrete“ zu bewegen, man fordert von Polen und Tschechien, dass sie sich entschuldigen, dass sie sich endlich zu einer Geste gegenüber den Vertriebenen entschließen und diesen den Aufkauf ihrer ehemaligen Immobilien erleichtern oder Entschädigungen zahlen.

Die Mehrheit dieser Aussagen buhlt um den Beifall der immer noch zahlreichen Schar von Menschen, die aus den Ostgebieten ausgesiedelt oder vertrieben worden sind. Es fehlt jedoch auch nicht an solchen Populisten, die damit rechnen, auf diese Weise junge, national gesinnte Wähler zu gewinnen, die kaum eine Ahnung von der Geschichte des östlichen Mitteleuropas und von der tatsächlichen Rechtslage haben, die allerdings über Polen so viel wissen, dass man dort deutsche Autos klaut, und die Tschechien für so eine Art kleines Bundesland zwischen Bayern und Sachsen halten.

In Polen lösen solche Äußerungen Nervosität, Entrüstung und Misstrauen aus. Nervosität – weil man befürchtet, dass die Deutschen erneut etwas im Schilde führen, dass sie einen Geheimplan zum Aufkauf von Grund und Boden und Immobilien in West- und Nordpolen schmieden; Entrüstung – darüber, dass die Deutschen Ent-schädigungen, ja sogar Rückgabe der Güter fordern; Misstrauen – dass Deutschland nur deshalb den EU-Beitritt Polens unterstützt, um das Unionsrecht dazu zu benutzen, sich mit friedlichen und juristischen Mitteln das zurückzuholen, was man durch den Krieg verloren hat.

Die hektische Phase

Die Ängste sind eine Tatsache und nicht restlos durch rationale Argumente oder juristische Spitzfindigkeiten zu zerstreuen. Sie werden einzig und allein infolge tatsächlicher Zusammenarbeit und des Erlernens einer neuen polnisch-deutschen Symbiose zerstreut, was auch auf dem Weg von Versuch und Irrtum vor sich geht. Es ist gut, dass dieses Mal der Premier und die Regierungsmitglieder recht zurückhaltend auf die Äußerung des Kanzlerkandidaten der Opposition, Edmund Stoiber, reagiert haben, indem sie lediglich auf die offensichtliche Unwissenheit des CDU/CSU-Kandidaten verwiesen, der keinen rechtlichen Unterschied zwischen den noch vor Potsdam erlassenen Beneš-Dekreten und den im März 1946 erlassenen Dekreten zur Übernahme des von den Deutschen zurückgelassenen Eigentums erkennt – die zuletzt genannten Dekrete sind noch vor 1989 aufgehoben worden, wie der in dieser Materie kompetente Historiker W³odzimierz Borodziej behauptet. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Polen mit seinem Beitritt zur EU die europäischen Standards in Fragen des Privateigentums übernehmen muss und keine Gruppe wegen ihrer Rasse oder ethnischen Zugehörigkeit diskriminieren darf.

Dessen ungeachtet existieren rechtliche Probleme im Zusammenhang mit dem ehemals deutschen Eigentum, das Polen übernommen hat. Seit einiger Zeit wird in polnischen Medien eine Diskussion geführt, was sein wird, wenn sich einzelne Vertriebene an die Europäische Menschenrechtskommission oder den Europäischen Gerichtshof wenden und Anspruch auf ihr (früheres) Eigentum oder zumindest auf Entschädigung erheben.  Detaillierte juristische Analysen wie etwa die von Mariusz Muszyński (in: „Sprawy Międzynarodowe”, Bulletin  3/2000 des „Polski Instytut Spraw Międzynarodowych” = [„Polnisches Institut für internationale Angelegenheiten“ - Anm. d. Übers.]) weisen auf Lücken und Widersprüche des Völkerrechts in dieser Frage hin. Sollte es jedoch zu einem Prozess kommen, in dem sich ein polnischer und ein deutscher Eigentümer derselben Immobilie gegenüberstehen, so wird der deutsche Rechtsstandpunkt, nach dem das Potsdamer Abkommen für Deutschland nicht bindend sei, nicht entscheidend sein, da dieser Rechtsstandpunkt nie von den europäischen Staaten respektiert wurde. Das Aufwerfen der Frage, ob den Deutschen Entschädigungen zustünden, so Muszyński, „würde die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten Repa-triierungsmaßnahmen ihres Sinns berauben und somit beide (von Polen 1953 abgegebenen - Anmerkung der „Polityka“-Redaktion) Erklärungen ungültig machen, in denen auf das Recht auf Reparationen verzichtet wird...“. Jedoch „liegt eine klare und endgültige Lösung dieses Problems der polnisch-deutschen Beziehungen vor dem polnischen Erwerb der EU-Mitgliedschaft nicht nur im Interesse unseres Landes. Auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt sollten die EU-Staaten an dem Abschluss dieser Frage interessiert sein, und zwar mit Blick auf die Rolle Polens als innere Angelegenheit Deutschlands. Das Fehlen politischer Entscheidungen seitens der BRD könnte man wiederum sogar als Verstoß gegen die Grundsätze der EU zur Erweiterung und zu den inneren Reformen werten“. (...)          

 

Adam Krzemiński, Nie wracajcie, przyjeżdżajcie, Polityka Nr. 27 v. 6.7.2002, S. 34-38; Übersetzung: Mark Brüggemann, Kürzungen von der Redaktion