Ursachen und Folgen nicht verwischen

 

“Erklärung zur Abstimmung” im Deutschen Bundestag am 4. Juli 2002 der Abgeordneten der PDS-Fraktion Eva Bulling-Schröter, Uwe Hiksch, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, Heidi Lippmann, Ulla Lötzer, Christina Schenk und Winfried Wolf:

 

Jede Debatte über Flucht und Vertreibung in Europa muss für uns ausgehen von der Vertreibung (und anschließenden Vernichtung) von Juden und Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich. Sie muss weitergehen mit der Aufarbeitung des von Anfang an völkerrechtswidrigen und un-gültigen Münchner Abkommens, dem deutschen Überfall auf die Tschechoslowakei und Polen, der Zwangsgermanisierung und der aktiven Mitwirkung zahlreicher Deutscher bei dieser verbrecherischen Politik.

Nur in diesem Kontext ist eine Diskussion über Vertreibung und Zwangsumsiedlung, über das Potsdamer Abkommen, die dadurch veranlasste Umsiedlung von Deutschen und das damit verbundene Leid angemessen und akzeptabel.

Jede Diskussion über dieses sensible Thema muss deshalb von Anfang an (...) mit VertreterInnen von Juden, Roma und Sinti, mit tschechischen und polnischen VertreterInnen geführt werden. (...)

Eine solche gemeinsame Diskussion hat bis heute nicht stattgefunden. (...) Schon aus diesem Grund lehnen wir die vorliegenden Anträge ab.

Betreiber eines solchen “Zentrums gegen Vertreibung” ist seit langem der “Bund der Vertriebenen” (BdV). Welche Uminterpretation der Geschichte er damit betreiben will, hat BdV-Präsidentin Frau Steinbach deutlich gemacht, als sie die Vernichtungslager von Auschwitz, Treblinka, Sobibor und Majdanek auf eine Stufe mit der Umsiedlung von Deutschen nach 1945 stellte und erklärte: “Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und Vertriebene... Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein.” (zit. nach Blätter für deutsche und internationale Politik”, 7/2002, S. 793)

Ursachen und Folgen, die Verbrechen der Nazi-Zeit, Holocaust, Entfesselung des zweiten Weltkriegs und gewaltsame Germanisierungs- und Vernichtungspolitik auf der einen Seite, Potsdamer Abkommen und Umsiedlung von Deutschen infolge dieses Abkommens auf der anderen Seite sollen so verwischt, Täter und Opfer auf eine Stufe gestellt werden. (...)

Im Antrag von SPD und Grünen findet sich zu diesen Plänen des BdV und dem damit verbundenen Versuch zur Uminterpretation der Geschichte kein Wort der Kritik und keinerlei Distanzierung. Im Gegenteil nutzen Vertreter der von SPD und Grünen gestellten Regierung seit langem jede Gelegenheit, um sich den Verbänden des BdV anzubiedern und den Funktionären des BdV nach dem Mund zu reden. Kritik an Forderungen wie dem “Recht auf Heimat” oder nach Rückgabe deutschen Eigentums bekommt der BdV dabei nicht zu hören.

Auch die im Antrag von SPD und Grünen formulierte Aussage, das Thema Vertreibung und die Umsiedlung von Deutschen in einen europäischen Kontext stellen zu wollen, Persönlichkeiten aus Nachbarstaaten in die Diskussion um ein solches Zentrum einzubeziehen und das Zent-rum in einer anderen Stadt errichten zu wollen, ist nur eine vordergründige Differenz zum Vorhaben des BdV. Der BdV hat deshalb selbst öffentlich erklärt, im Grunde stimmten alle Fraktionen mit seinem Vorhaben überein.

Noch unverhüllter ist die Zustimmung zum Vorhaben des BdV bei der CDU/CSU. Der Deutsche Bundestag soll “die überparteiliche Initiative der gemeinnützigen Stiftung ‘Zentrum gegen Vertreibungen’” unterstützen, heißt es. (...)

Auch die FDP fordert keine behutsame Diskussion dieses sensiblen Themas. Sie fordert in ihrem Antrag, die “in Deutschland vorhandene kollektive Erfahrung der Vertreibung” zum “Ausgangspunkt” eines solchen Zentrums zu machen. Die leidvollen Erfahrungen von Juden, Roma und Sinti, Polen, Tschechen und anderen Opfern der NS-Politik würden so erneut missachtet.

Wir erklären klar und deutlich: Der Bundesverband der Vertriebenen kommt für uns weder als Träger noch als Mitträger eines solchen Zentrums in Betracht. Das völlig einseitige, die deutschen Verbrechen der NS-Zeit bagatellisierende Weltbild dieser Verbände und ihre bis heute fehlende Abgrenzung zu Antisemiten und Rechtsextremisten disqualifizieren den BdV für eine solche Trägerschaft.

Nur eine sensible Diskussion dieses schwierigen Themas, gemeinsam mit VertreterInnen von Juden, Roma und Sinti, mit tschechischen, polnischen und anderen VertreterInnen ist geeignet, einen Ausgangspunkt und Rahmen für eine gemeinsame Aufarbeitung dieser Geschichte zu schaffen.(...)