Aus der Erinnerung wächst die Verantwortung

 

Von Antje Jonas

Der Umgang mit deutscher Schuld und Verantwortung - ein weiterhin problematisches Thema in der Gesellschaft der Bundesrepublik. Dem seit dem Ende des 2.Weltkrieges bestehenden Engagement vieler gesellschaftlicher Kräfte in der Bundesrepublik und der DDR, sich der Verantwortung zu stellen, den Mut zur Erinnerung aufzubringen und die Lehren aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu ziehen, haben immer auch Revanchismus, Gleichgültigkeit, Unbelehrbarkeit und Antisemitismus gegenübergestanden. Das ist bis heute so geblieben. Von einem nun die gesamte deutsch-deutsch vereinigte Gesellschaft umfassenden historischen Bewusstsein, das Gedächtnis, Erinnern, Trauer, Schuld und Verantwortung einschließen würde, kann folglich auch im Jahre 2002 nicht die Rede sein.

 

Die Vielzahl der deutsch-polnischen  Veranstaltungen und Begegnungen, von denen in dieser Ausgabe von „Polen und wir“ berichtet wird, kann das gesamtgesellschaftliche Verlorengehen historischen Wissens und Bewusstseins nicht ungeschehen machen. Diesem unheilvollen Trend zur weiteren Verdrängung von Geschichte entgegen zu stehen, darin sehen unsere Deutsch-Polnische Gesellschaft und unsere Zeitschrift eine ihrer unverzichtbaren Aufgaben. Gegenwärtig kommt es mit dem größer werdenden zeitlichen Abstand zu den Ereignissen des 2. Weltkrieges, mit den immer seltener werdenden Stimmen der Überlebenden der Konzentrationslager und ehemaligen Zwangsarbeiter zu einer spürbar werdenden Abkehr von diesen Themen. Ein  „Hinübergleiten“  des historischen Tatbestandes in einen kulturellen Diskurs wird zunehmend deutlicher. Die Tendenz ist eingetreten, die Historie dem kulturellen Gedächtnis zu überantworten. Sollte dieser Prozess fortschreiten, wird mit der Zeit viel verloren gehen: die Kenntnis der historischen Sachverhalte, die gleichbleibend intensive Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nazi-Regimes und der Schuld des deutschen Volkes, die moralische und emotionale Bindung an die Kriegsereignisse und die weltweiten Opfer des 2. Weltkrieges (darunter 13 Millionen Kinder...), die Erfahrungen des Gegensatzes zwischen Diktatur und Demokratie.

In der letzten Ausgabe von „Polen und wir“  war mit Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ ein literarischer Beweis einer solchen „Trendwende“ besprochen worden. Dieser problematischen Verschiebung des Geschichtsbildes ins Fragmentarische, Individuelle und in die Beliebigkeit subjektiver Maßstäbe sollen heute zwei Bücher aus dem Donat Verlag Bremen entgegengestellt werden, die für den unverändert notwendigen Mut zur Erinnerung und gegen das Vergessen einstehen.

 

Zwanzig Kinder

Drei Theaterstücke für die Jugend

Die in deutscher und französischer Sprache erschienenen Theaterstücke zeigen, wie öffentliches Erinnern jenseits der „offiziellen Nachdenklichkeit“ zu fördern ist, wie selbst Kinder und Jugendliche an dieser Aufgabe mitwirken können, weil ihr Herz und Kopf durch die Texte erreicht wird. Das Buch berichtet über den feigen Mord an Kindern aus Frankreich, Polen und den Niederlanden, die zuvor von den Nazis im nahe bei Hamburg gelegenen Konzentrationslager Neuengamme zu medizinischen Zwecken missbraucht worden waren. Um kurz vor Kriegsende lästige Zeugen beiseite zu schaffen, wurden die Fünf- bis Zwölfjährigen im Keller der ehemaligen Hamburger Schule am Bullenhuser Damm erhängt.

Das Buch enthält drei praktisch erprobte und für die Jugendarbeit und Schule empfohlene Theaterstücke, die mit geringem Aufwand vorzubereiten und für Lesungen mit verteilten Rollen wie für öffentliche Auftritte geeignet sind. Die Jugendlichen gewinnen durch die Lektüre und durch die Arbeit mit den Texten einen tiefen Einblick in die Abgründe des Terrorregimes der Nazis. Kein zeitgenössisches Geschichts-buch oder Lesebuch leistet das in vergleichbarer Weise. Als deutsche Schüler-innen und Schüler das Theaterstück „Zwanzig Kinder“ auf Einladung des Office Franco-Allemand am 11. November 2000 in Montreuil/Paris vor Angehörigen der Opfer spielten, war das für alle Beteiligten ein schmerzliches, bewegendes Erlebnis! Keiner möchte die Erfahrung missen, so traurig die Aufführung und die Gespräche in Paris auch gemacht haben. Die Erinnerung an das Leiden und Sterben der Kinder stiftete Gefühle großer Dankbarkeit und besonderer Freundschaft. Das Buch ist eine Ermutigung für alle, die das Erinnern an die Greuel des Nationalsozialismus für unverzichtbar halten, aber vor der Schwierigkeit der Aufgabe zurückschrecken. Man kann nur hoffen, dass die Veröffentlichung weite Verbreitung finden wird.

Reinhard Bockhofer (Hrsg.), Zwanzig Kinder, Drei Theaterstücke für die Jugend

Donat Verlag Bremen, 142 Seiten, Paperback, ISBN 3-934836-37-2, 10 Euro

 

 

Und morgen die ganze Welt...

Deutsche Geschichte 1871-1945

„Und morgen die ganze Welt...“ haben Karl-Heinz Janssen und viele Hitlerjungen noch im April 1945 begeistert gesungen – und manch einer möchte auch heute noch oder wieder Deutschland in einer Weltmachtrolle sehen. Für Janßen begann der gefährliche Weg in die Irre mit Zigarettenbilder-Alben, setzte sich in der Volksschule fort, wo sein Lehrer 1939 polnische Juden verächtlich machte, und fand seinen Höhepunkt 1943, als ihm sein Lateinlehrer einschärfte: “Deutschland ist eine Weltmacht!“ Janßen brach mit diesem Denken und beschritt einen anderen Weg: den der Aufklärung über die Ursachen der Verbrechen eines in der ganzen Welt gefürchteten Landes, das nach drei europäischen Kriegen zur Großmacht aufstieg und in zwei verheerenden Weltkriegen nach der Weltherrschaft strebte. Über Jahrzehnte hinweg hat Karl-Heinz Janßen wie kein anderer Historiker, Journalist und Redakteur der ZEIT dazu beigetragen, dem vielbeklagten Mangel an Geschichtsbewusstsein abzuhelfen und sich dabei weltweit Achtung erworben. Die Darlegung der Fakten ist ihm dabei stets das beste Mittel gegen Verdrängung und Vertuschen, gegen Legenden und Lügen. Er beschreibt den Aufstieg und Untergang des deutschen Reiches von 1871 bis 1945 in überaus verständlicher und bildreicher Sprache. Mit seiner Geschichte von Bismarck zu Hitler hebt er sich wohltuend von all den Theorien, Historikern und Politologen ab,

die aus ideologischen und anderen vordegründigen Motiven eine Kontinuität vom zweiten Deutschen Kaiserreich zum Dritten Reich in Abrede stellen oder gar leugnen. Wer die wundersame Wiedergeburt Deutschlands nach fünfzig Jahren Teilung und manche Reserven unserer europäischen Nachbarn gegenüber einer neuen deutschen Weltpolitik begreifen will, kommt nicht umhin, dieses Buch zur Hand zu nehmen.

Karl-Heinz Janßen, „Und morgen die ganze Welt...“ Deutsche Geschichte 1871-1945, Donat Verlag Bremen, 527 Seiten, Hardcover, ISBN 3-934836-30-5, 25,40 Euro