“Ein Gerechter unter den Völkern“

 

Von Heiner Lichtenstein

Oskar Schindler kennen hierzulande und weltweit Millionen Menschen durch Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“. Der deutsche Industrielle hat viele hundert jüdische Zwangsarbeiter vor dem Gas von Auschwitz gerettet. Sie seien unabdingbar für die deutsche Rüstung, so Schindlers Argumentation.

 

Mit dem Schweden Raoul Wallenberg sieht es anders aus; er ist weit weniger bekannt. Der Schwede war im Sommer 1944 nach Budapest gereist. Auch er hat Tausende (ungarischer) Juden vor der Deportation bewahrt. Er verteilte Ausweise, die den Menschen bescheinigten, unter schwedischem Schutz zu stehen. Ebenfalls in Budapest half der Schweizer Diplomat Carl Lutz den verfolgten Menschen. Ihn kennt hierzulande kaum jemand. Ähnlich verhält es sich mit dem Schweizer Polizeibeamten Paul Grüninger, der Flüchtlinge über die Grenze ließ und sie so vor der Gestapo rettete. Sucht man in der Fachliteratur etwa nach Hans Calmeyer, wird man allenfalls im Internet fündig. Den Mann kennen bei uns nur einige Experten. In den Niederlanden ist das anders. Dort haben die bekanntesten Zeitgeschichtler des Landes, die Professoren Louis de Jong und Jacob Presser, bereits vor Jahrzehnten Hans Calmeyer gewürdigt.

Der 1903 in Osnabrück geborene Jurist meldet  sich nach dem deutschen Überfall auf die Niederlande im Mai 1940 freiwillig in das „Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete“ in Den Haag. Dort übernimmt er eine Abteilung und macht sie zu einem Zentrum in der gesamten Judenpolitik. Calmeyer muss prüfen, ob niederländische Juden aus bestimmten Gründen nicht ins Judenregister aufgenommen werden müssen. Das tut er fast immer zu Gunsten der Betroffenen. Er gibt den betroffenen Menschen Tipps, wie sie zu solchen Freibriefen kommen. Fast 1500 Fälle muss er allein zwischen 1940 und 1941 entscheiden. Nur jeder Vierte wird abgewiesen. Er kann nicht jedem Antragsteller helfen. Bald ist die Rede von „Calmeyer-Juden“ oder von „Gecalmeyerten“.

Im Sommer 1942 beginnen  die Massendeportationen. Zu der Zeit sind bereits Tausende niederländische Juden ins Durchgangslager Westerbork im Nordosten des Landes gebracht worden. Der erste Zug mit mehr als 1100 Menschen verlässt das Lager in Richtung Auschwitz am 15. Juli 1942. „Calmeyer-Juden“ sind nicht darunter. Sie kommen ins KZ Theresienstadt östlich von Prag, wo die meisten überlebt haben. Calmeyer bleibt im Reichskommissariat bis zur Befreiung der Niederlande im Mai 1945. Dann wird er als Mitarbeiter der Nazibehörde im Seebad Scheveningen interniert. Bei Verhören räumt er ein, nicht in jedem Fall die Menschen habe retten können. Ohne ihn wären 17 000 Menschen mehr deportiert worden. Mitte September verlässt er das Internierungslager.

In der Bundesrepublik wird die NS-Zeit schnell als „erledigt“ abgelegt. Das gilt für die Politik wie auch für die Justiz und andere Bereiche. 1963 greift das NDR-Magazin „Panorama“ die deutsche Terrorherrschaft in den Niederlanden auf und fragt auch Calmeyer. Calmeyer beantwortet die Frage, ob er damals gewusst hätte, dass die Juden in den Tod fuhren, mit „Ja“. Die Folgen dieser Sendung sind verheerend. In den Niederlanden macht das Geständnis Schlagzeilen. Hans Calmeyer gerät in den Verdacht, ein Schreibtischtäter zu sein. In der Tat hat er nicht allen Betroffenen geholfen, hat es nicht können. Er erklärt sich bereit, sich in den Niederlanden der Justiz zu stellen. Dort schildern Experten die Konflikte des Beschuldigten. Israel meldet sich zu Wort. Yad Vashem, das weltweit geachtete Holocaust-Forschungsinstitut in Jerusalem, bescheinigt Hans Calmeyer, ein „Gerechter unter den Völkern“ zu sein. Ihm zu Ehren wird in der „Allee der Gerechten“ ein Baum gepflanzt - eine Auszeichnung für Nicht-Juden, die Juden gerettet haben. Calmeyer ist voll rehabilitiert. Die Rückkehr ins bürgerliche Leben gelingt dennoch nicht. Die Opfer des NS-Terrors, die Anklage haben ihn verändert. Am 2. September 1972, also vor dreißig Jahren, stirbt Hans Calmeyer.

All das erzählt Peter Niebaum in einer Collage. Er tut dies überzeugend und auf weiten Strecken spannend. Der Stil des Buches ist  anfangs dennoch gewöhnungsbedürftig. Im nächsten Jahr, anlässlich des 100. Geburtstages, soll Hans Calmeyer offiziell gewürdigt werden. Endlich!

 

„Ein Gerechter unter den Völkern – Hans Callmeyer in seiner Zeit“ von Peter Niebaum, Rasch-Verlag Osnabrück, 427 Seiten, 34,90 Euro