Die EU – ein „jüdisch-deutsches Komplott zum Schaden
Polens“ ?
Von Joachim Neander
Im Zusammenhang mit dem für das Frühjahr 2003 geplanten Referendum über den Beitritt Polens zur Europäischen Union entwickeln politische Parteien und gesellschaftliche Gruppen in Polen eine breitgefächerte propagandistische Aktivität. Besonders aktiv gegen einen EU-Beitritt Polens betätigt sich das katholisch-nationalistische Lager, in den Parlamenten mit der „Liga Polskich Rodzin“ (Liga Polnischer Familien) vertreten und in den Medien vor allem mit Pater Rydżyks Imperium präsent, zu dem die Tageszeitung „Nasz Dziennik“ (Auflage 250-300.000) gehört und der Radiosender „Radio Maryja“ mit geschätzten 4 Millionen Hörerinnen und Hörern. In seiner Anti-EU-Propaganda knüpft das katholisch-nationalistische Lager in erheblichem Maße an antideutsche und antisemitische Klischeevorstellungen an. In Flugblättern und Broschüren wird Klartext geredet: Die EU, so liest man, werde von den beiden historischen Feinden des Polentums, Juden und Deutschen, heimlich und in einträchtiger Zusammenarbeit beherrscht. Mit Hilfe der EU beabsichtigten die Juden vor allem die wirtschaftliche Ausbeutung Polens, die Deutschen in erster Linie die „Regermanisierung“ der nach 1945 wiedergewonnen Gebiete.
Unabhängig vom Ausgang des
Referendums sind die hiermit in breiten Bevölkerungsschichten mobilisierten
Ängste dazu angetan, das politische Klima zwischen Deutschen und Polen
nachhaltig zu trüben. Sie sind daher keinesfalls einfach abzutun. Inwieweit sie
auch begründet sind, soll im Folgenden untersucht werden. Drei Dinge sind
hierbei logisch (und auch juristisch) deutlich voneinander zu trennen: Die
deutsche Ost- (und polnische West-) Grenze, die Zuwanderung von Deutschen nach
Polen und die Restitution von Vermögen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten.
Die Grenzfrage
Die Grenzfrage ist längst und
eindeutig im polnischen Sinne geklärt. Die auf der Potsdamer Konferenz 1945 von
den Siegermächten des 2. Weltkrieges beschlossenen Gebietsabtretungen des
Deutschen Reiches zugunsten Polens wurden durch bilaterale Verträge zwischen
den deutschen Nachkriegsstaaten und der Volksrepublik Polen anerkannt und durch
den Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom
12.9.1990 („Zwei-plus-Vier-Vertrag“) nochmals bestätigt. Die Abtretung der
Gebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze nicht nur im staatsrechtlichen Sinne,
sondern auch mit dem dort belegenen Eigentum, ist völkerrechtlich als
Reparationsleistung Deutschlands (im Sinne des Londoner Abkommens von 1946) zu
sehen und auch als solche de facto im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ bestätigt
worden. Damit ist aber auch ein von den (je nach politischem Standpunkt) als
„Vertriebene“ oder „Umsiedler“ Bezeichneten reklamiertes „Recht auf Heimat“
gegenstandslos. An der völkerrechtlichen Verbindlichkeit der
„Oder-Neiße-Grenze“ kann spätestens seit dem 12.9.1990 kein ernsthafter Zweifel
mehr bestehen. Zwar würde bei einem Beitritt Polens zur EU die
deutsch-polnische Grenze zur Binnengrenze und langfristig nicht bedeutsamer als
etwa die Grenzen zwischen den Kantonen der Schweiz. Aufgehoben wäre sie damit
jedoch in keinem Fall.
Innerhalb der EU gilt
Freizügigkeit nicht nur für Kapital und Waren, sondern auch für die Bürger der
EU-Staaten. Noch bestehende einzelstaatliche Regelungen, die die freie
Berufsausübung für EU-Ausländer einschränken, werden nach (zum Teil großzügig
bemessenen) Übergangsfristen fortfallen. Sicher werden nach einem EU-Beitritt
Polens mehr Deutsche als bisher die größere Freizügigkeit nutzen und als
Geschäftsleute, Ingenieure, Wissenschaftler, Lehrer, Künstler oder auch Rentner
ganz oder vorübergehend nach Polen ziehen. Sie werden, wie schon ihre Vorfahren
im Mittelalter, einen positiven Beitrag zu Polens Wirtschaft und Kultur
leisten. Einen Massenzuzug von Deutschen nach Polen wird es allein schon
deswegen nicht geben, weil Polen für Deutsche kein sonderlich attraktives
Einwanderungsland ist. Denken wir daran, dass in Preußen schon vor 1900
öffentlich darüber geklagt wurde, dass trotz erheblicher finanzieller Anreize mehr
Deutsche aus den östlichen Provinzen Preußens ab - als dorthin zuwanderten, und
dass auch unter der NS-Herrschaft neun von zehn Deutschen nicht freiwillig in
den neu gewonnenen „Lebensraum im Osten“ zogen. Auch der als Schreckgespenst an
die Wand gemalte „Ausverkauf polnischen Bodens“ an das deutsche Agrobusiness
entspringt purer Fantasie. Dem stehen nicht nur langjährige Sperrfristen
entgegen, sondern vor allem die für Kapitalanleger (entgegen polnischer
Selbsteinschätzung) geringe Attraktivität von Böden und Klima - man vergesse
nicht, dass die ostelbische Landwirtschaft schon im Kaiserreich nur durch hohe
Subventionen am Leben erhalten werden konnte.
Der Wanderungstrend für Deutsche
wie für Polen geht seit über 150 Jahren von Ost nach West, nicht umgekehrt.
Diesen Prozess konnten Kriege und gesperrte Grenzen nur kurzfristig aufhalten.
Mit Sicherheit werden daher nach einem EU-Beitritt Polens deutlich mehr
Menschen als bisher schon von dort ab- als dorthin zuwandern. Es sind die
Jungen, die Aktiven, meist auch gut Ausgebildeten, die Polen den Rücken kehren
und ihr Glück im Westen suchen (und auch fast immer finden) werden. Das ist
eindeutig ein Verlust für Polen, ein Faktum, das jedoch in der
Anti-EU-Propaganda des katholisch-nationalistischen Lagers nicht thematisiert
wird. Die Suche nach den Ursachen könnte zu unbequemen Antworten führen.
Kommt also weder eine
Grenzrevision noch eine neue Welle deutscher „Ostkolonisation“, erst recht auch
nicht eine Massenrückkehr aller „Heimatvertriebenen“ in die polnischen West-
und Nordterritorien in Frage, so sind jedoch zivilrechtliche Ansprüche auf
Restitution von Vermögen (in praxi: Immobilien) in diesen Gebieten nicht von
vornherein als unbegründet abzutun. Dabei sind zwei Fälle grundsätzlich zu
unterscheiden: Ob der Antragsteller Deutscher ist oder nicht.
Der erste Fall ist - entgegen der
in Polen von gewissen Kreisen verbreiteten Angstmache - ebenfalls längst
völkerrechtlich verbindlich zu Gunsten Polens geregelt. Mit der Eingliederung
der ehemals deutschen Ostgebiete in die Staatsgebiete Polens bzw. der
Sowjetunion waren diese zu „Ausland“ geworden, und zu den von den Siegermächten
dem Deutschen Reich unmittelbar nach der Kapitulation auferlegten
Reparationsleistungen gehörte unter anderem die entschädigungslose Enteignung
allen deutschen Auslandsvermögens. Die Bundesrepublik Deutschland hat 1955 in
Teil VI, Artikel 3 des Vertrags zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener
Fragen („Überleitungsvertrag“) auf Einwendungen hiergegen ausdrücklich
verzichtet. Einschlägige Klagen von juristischen oder Privatpersonen sind von
deutschen Gerichten nicht angenommen worden und polnische Gerichte brauchen
dies erst recht nicht zu tun. Aber auch supranationale Gerichte, wie etwa der
Europäische Gerichtshof, müssten wegen der völkerrechtlichen Verbindlichkeit
des „Überleitungsvertrages“ Klagende an die Bundesrepublik Deutschland
verweisen, die je-doch an den „Überleitungsvertrag“ gebunden ist. Auch wenn der
ehemalige schlesische Rittergutsbesitzer oder seine Erben, auch falls sie eine
andere als die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, versuchen sollten, sich
ihr 1945 verlorenes Eigentum zurück zu klagen, werden sie damit nicht mehr als
Aufsehen in den Medien erreichen.
Anders sieht die Sache aus, wenn
ein Nichtdeutscher etwa in Danzig vor dem 8. Mai 1945 Immobilien besessen hat
und er oder seine erbberechtigten Nachkommen auf Rückgabe klagen,
gegebenenfalls vor einem internationalen Gerichtshof. Ich vermute, dass in
diesem Fall der polnische Staat nicht um eine Restitution oder Entschädigung
herumkommen wird, es sei denn, es gebe mit dem Staat des Klägers ein
zwischenstaatliches Abkommen, das solche Ansprüche ausschließt. Das dürfte
übrigens gleichermaßen für im altpolnischen Gebiet belegene Vermögenswerte
nichtdeutscher Ausländer gelten, die nach 1945 enteignet worden waren.
Kompliziert wird die
Angelegenheit – und auf diesen Gesichtspunkt ist man anscheinend auch in Polen
bisher nicht aufmerksam geworden – wenn Juden, die in den vormals deutschen,
jetzt polnischen Gebieten Vermögen besaßen, oder ihre erbberechtigten
Nachfahren als US-amerikanische Staatsbürger vor einem US-Gericht Klage auf
Restitution erheben. Das Gericht muss sich keineswegs der vermutlich von der
Verteidigung vorgebrachten Meinung anschließen, die Ansprüche der Kläger seien
durch die Zahlungen abgegolten, die sie als Holocaust-Opfer von Deutschland
aufgrund des Bundesentschädigungsgesetzes erhalten hätten. Die Sammelklagen
ehemaliger Zwangsarbeiter gegen Deutschland und Österreich haben hier einen
Präzedenzfall geschaffen. (Ich kann und will das an dieser Stelle nicht weiter
ausführen.) Gerade bei „Filetgrundstücken“ in Breslau, Stettin oder Danzig
könnten die Kläger auf Restitution beharren. Das US-Gericht könnte auf Zwangs-vollstreckung
in polnisches Vermögen in den USA erkennen, Opferverbände und ihre
Sympathisanten könnten den Boykott polnischer Firmen und Importe sowie von
Reisen nach Polen androhen.
Fassen wir zusammen: Die Ängste, die nationalistisch-katholische Kreise im Zusammenhang mit dem beabsichtigten EU-Beitritt Polens in der polnischen Bevölkerung vor Deutschland und den Deutschen zu wecken versuchen, sind unbegründet, zumindest was die Frage der Westgrenze Polens, der „Regermanisierung“ der vor 1939 zum Deutschen Reich und seit 1945 zu Polen gehörenden Gebiete und der Restitution ehemaligen deutschen Vermögens anbetrifft. Ihr Schüren ist nur als Demagogie zu bezeichnen und belastet unnötig die deutsch-polnischen Beziehungen. m