Meine besten Jahre verbrachte ich in Unfreiheit

Erinnerungen, die mehr als fünfzig Jahre zurückliegen, wühlen auf

Von Daniela Fuchs

 

Das ist der Titel einer Ausstellung über die Zwangsarbeit 1939 bis 1945 in den Berliner Ortsteilen Hohenschönhausen, Falkenberg, Malchow und Wartenberg, die heute zum Bezirk Berlin-Lichtenberg gehören. Für die Ausstellung wurden neun Frauen und Männer, ehemalige Zwangsarbeiter bzw. Zwangsarbeiterinnen interviewt. Nach Briefwechseln und Telefonaten verabredete ich mich mit meinen Gesprächspartnern. Immer waren Familienangehörige wie der Ehepartner, die Kinder, die Enkel oder die Freundin anwesend. Es hatte den Anschein, als ob sie ihrem Angehörigen moralischen Beistand leisten wollten, wenn er die schwerste Zeit seines Lebens im Gespräch noch einmal durchlebt. Gleichzeitig spürte ich bei ihnen eine gewisse Genugtuung, dass sich endlich jemand aus Deutschland für ihr Schicksal interessiert.

 

Die neun Frauen und Männer waren, als sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland kamen, in der Regel Jugendliche, zwischen 16 bzw. 17 Jahren alt. Sie hatten ihre Zukunftspläne, einige wollten eine Lehre absolvieren, das Abitur ablegen oder aber studieren. Diese Zukunftspläne wurden zerstört. Die Jugendlichen kamen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten Polens, aus Dörfern, Städten und der Hauptstadt Warschau. Die Väter waren Bauern, Angestellte, Lehrer und Offizier.

Alle berichteten über die Verzweiflung ihrer Eltern, ihre Angst, die Kinder in die Ungewissheit zu schicken. Andererseits wussten diese auch selbst nicht, welches Schicksal ihre im besetzten Polen zurückgebliebenen Eltern und Geschwister erleiden mussten, die in Widerstandsorganisationen aktiv waren, im Kriegs-gefangenlager festgehalten oder aber von Deutschen zwangsausgesiedelt wurden. Alle meine Gesprächspartner mussten schwere körperliche Arbeiten verrichten. Sie wurden durch das Tragen der Kennung „P“ an der Kleidung gedemütigt.

Mit dem Kriegsende und der Befreiung durch die rote Armee kamen bei einigen Polinnen noch Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten hinzu. Einige meiner Ge-sprächspartner wurden durch ihre Zwangsarbeit krank. Gesundheitliche Schäden sind teilweise bis heute spürbar. Sie haben bei der Stiftung für „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ einen Antrag auf Entschädigung gestellt und zum Teil erhalten. Die Diskussion um die Entschädigung finden sie entwürdigend.

Bei allen Gesprächspartner spielte die Verschleppung eine große Rolle. Diese Ungewissheit und Angst hat sie traumatisiert. Dazu gehörten Menschenjagden. Der heute in Wrocław lebende Bolesław Kubiak erinnert sich:

„Die Deutschen machten auf den Dörfern Razzien, regelrechte Menschenjagden, um Polen für die Zwangsarbeit in Deutschland zu rekrutieren.

Einige Aspekte der Zwangsarbeit

Die Soldaten umstellten die Dörfer und durchsuchten dann die einzelnen Häuser. In unser Dorf Jastrzębice kamen sie 1940. Ich war 17 Jahre alt. Ich versteckte mich in unserem Haus auf dem Dach im Schornstein, um nicht entdeckt zu werden. In der Annahme, dass die Soldaten bereits unser Dorf verlassen hatten, kroch ich aus meinem Versteck hervor und lief einem Soldaten, der einen Karabiner über der Schulter trug direkt in die Arme. Ich musste mich sofort anziehen. Meine Mutter packte einen kleinen Koffer und mit einem Auto wurde ich nach Rusiec in den Gemeindeort gebracht. Anschließend ging es weiter nach Łódź, damals Litzmannstadt genannt, in die Łąkowa-Straße. Dort war für uns der Sammelpunkt. Später kam ich in eine Fabrikhalle. Sie hatte drei Stockwerke und war voller Menschen. Die Bedingungen waren sehr schlecht. Es gab nur etwas Suppe zu essen und wir mussten auf dem Fußboden schlafen. Das Gelände war mit Stacheldraht umzäunt. Hier verbrachte ich zehn Tage. Dann mussten wir antreten und wurden zum Bahnhof gebracht. Es waren sehr viele Menschen. Wir fuhren mit dem Zug die ganze Nacht bis kurz vor Berlin. Leider kann ich nicht sagen, wo das gewesen ist. Der Zug hielt auf freiem Feld. Die Türen wurden geöffnet und ich konnte schon Berlin sehen. Dort standen etwa 15 Baracken mit Stacheldraht umgeben. Ich war ungefähr eine Woche dort. Eines Nachts wurden wir zum Zug gebracht, der bereits dort auf freier Strecke stand. So kamen wir nach Berlin und wurden ins Arbeitsamt gebracht. Dort konnten wir uns in Waschräumen gründlich säubern und wurden ärztlich untersucht. Wir mussten uns ausziehen und in einer Reihe aufstellen. Ich stand also nackt zwischen jüngeren und  älteren Männern. Es war mir furchtbar peinlich und ich habe mich sehr geniert, denn es waren auch Frauen bei den Untersuchungen anwesend. Wir wurden gemessen, geröntgt und fotografiert. Es wurden eine Menge Papiere ausgefüllt. Unsere Sachen mussten wir zum Desinfizieren auf Bügel hängen. Die Deutschen haben ja besonders Angst vor Läusen. Als ich meine Hose wieder bekam war sie so spröde, dass sie gleich platzte. Das Arbeitsamt befand sich in der Nähe des Alexanderplatzes in einem großen Gebäude. Nach etwa drei Tagen erschien der Landwirt Max B. und ich wurde aufgerufen. Er erhielt mein Arbeitsbuch mit Passbild und Nummer ausgehändigt, wo alles über mich drinstand.“

Bolesław Kubiak schuftete fünf Jahre auf einem Bauernhof in Malchow. Vor einiger Zeit hat er den Sohn seines damaligen Arbeitgebers in Berlin besucht, um eine Bestätigung für seine Arbeitsjahre zu bekommen. Dieser war von dem Besuch peinlich berührt.

Edward Kałkowski aus dem Dorf Józefatów bekam eine Aufforderung vom Arbeitsamt.

„Im März 1943 musste ich mich auf dem Arbeitsamt in Zelów melden. Dort erfuhr ich, dass die Firma Richard Wählisch in Berlin-Hohenschönhausen 15 Arbeitskräfte suchte. Wir Arbeiter, die dafür vorgesehen waren, mussten uns in einer Zweierreihe aufstellen. Der Beamte haute mir über den Kopf, weil ich seiner Meinung nach nicht richtig stramm stand. Dann fuhren wir in Richtung Berlin. Vier Tage verbrachten wir in einem Durchgangslager. Ich weiß leider nicht, wo dieses Lager war. Ich erinnere mich, dass es sich in einem Wald befand. Dort bekamen wir 150 g  Brot am Tag und eine dünne Suppe. Zum Glück hatten wir noch Essen von zu Hause mit. In diesem Lager waren nicht nur Polen, sondern auch andere Nationalitäten untergebracht. Bevor es weiter ging, wurden wir ärztlich untersucht.“

Auch die heute in Racibórz lebenden Schwestern Wanda Witkowska und Eugenia Marszał erhielten 1943 eine Aufforderungen vom Arbeitsamt. „Es hatte keinen Zweck, sich zu verstecken. Die Häuser derjenigen wurden niedergebrannt, die sich weigerten, auf Transport zu gehen. Wir erhielten eine Aufforderung des Arbeitsamtes. Die Eltern waren verzweifelt, denn keiner wusste, wohin wir geschickt werden. Unser Vater brachte uns zum Bahnhof der Gemeinde in Kosów Lacki. Hier war in einer Baracke der Sammelpunkt für alle aus den umliegenden Dörfern, die auch wie wir zur Arbeit zwangsverpflichtet wurden. Wir verabschiedeten uns vom Vater und wussten nicht, ob wir uns jemals wiedersehen würden. Voller Verzweiflung küsste er unsere Fußabdrücke, die wir im Sand hinterlassen hatten.“

Als besondere Erniedrigung empfanden beide die sogenannten ärztlichen Untersuchungen. „Diese Untersuchungen, darunter gynäkologische, wurden nur von Männern vorgenommen. Wir mussten uns alle nackt ausziehen. Ein hübsches Mädchen hatte wunderschöne lange Haare. Weil sie sich genierte, hatte sie damit ihre Blöße bedeckt. Sie wurde beschimpft und furchtbar geschlagen. Es war schrecklich. Uns wurden die Schamhaare abrasiert, mit Lampen in alle Körperöffnungen geleuchtet. Dann mussten wir uns von Kopf bis Fuß mit einer Flüssigkeit einreiben, die angeblich gegen Läuse war. Von den 40 Personen wurden 10 ausgewählt, die bestimmte Körperteile mit einer anderen Flüssigkeit einreiben sollten. Nach kurzer Zeit schrieen diese Mädchen vor Schmerz. Es waren keine menschlichen Laute mehr. Niemand wusste, was das für ein Mittel gewesen war. Danach mussten wir in den Keller in einen Raum ohne Fenster. Hier befand sich ein Duschraum, wo wir uns säubern konnten. Unsere Kleidung wurde in der Zeit desinfiziert. Danach warteten wir auf unseren Transport nach Deutschland.“

Wanda und Eugenia arbeiteten dann auf einem Bauernhof in Wartenberg. Den Besitzer Willy K. bezeichneten beide als einen guten Menschen, der sie korrekt behandelt hat. Die Familie K. litt sehr darunter, dass der einzige Sohn an der Front war. Willy K. schickte nach einigen Monaten Eugenia auf Urlaub nach Hause und meldete sie dann bei der Polizei als vermisst. Dieses Dokument ist in den Polizeiakten vorhanden.

Die Entvölkerung Warschaus

Verschleppt wurde auch die Bevölkerung Warschaus nach der Niederlage des Warschauer Aufstandes ab dem 2. Oktober 1944. Laura Wolnicka erzählt ihr Schicksal, das sie und ihre Schwester Barbara ereilte:

„Am 5. Oktober verließen die Kämpfer des Warschauer Aufstandes, die vorher ihre Waffen abgeben mussten, die Stadt. Unter ihnen war unser Vater. Die Aufständischen wurden in Gefangenenlager gebracht. Wohin unser Vater kam, wussten wir nicht. Als wir uns von ihm verabschiedeten, hörten wir, dass der Krieg schon fast zu Ende sei. Wir sollten in Warschau bleiben und auf ihn warten. Er konnte nicht wissen, dass die Warschauer Zivilbevölkerung vertrieben werden würde. Uns, die Zivilbevölkerung, trieb man nach Pruszków bei Warschau in ein Durchgangslager. Wir mussten zu Fuß bei ungeheurer Hitze laufen. Als wir einmal hungrig, verschwitzt und müde durch ein Tomatenfeld geführt wurden, stürzten wir uns vor Durst und Hunger alle auf die Tomaten. Vielen ist dies nicht bekommen.

Nach einem ganztägigen Marsch kamen wir in Pruszków an. In einer riesigen Fabrikhalle, vielleicht war es auch ein Magazin, erlaubte man uns endlich auszuruhen. Alle legten sich erleichtert auf den nackten Fußboden. Auf diese Weise verbrachten wir die Nacht. Es gab weiterhin nichts zu essen. Viele Leute wurden krank. Nacheinander mussten wir vor eine Kommission, die aus Deutschen bestand, treten, die uns nach Arbeitsfähigen, Kranken und Alten aussortierte. Die Auswahl erfolgte rein optisch. Ärztlich untersucht wurden wir nicht. Es war eine Selektion. Meine Schwester und ich kamen zur ersten Gruppe. Wir hatten Glück im Unglück. Das Schicksal schickte uns unsere ehemalige Kindergartentante Jadwiga Jankowska mit ihrer Tochter Marysia aus Lublin. Beide hielten sich zu Besuch bei Verwandten, der Familie Szachowski in Warschau auf, als sie vom Aufstand überrascht und eine Heimreise unmöglich wurde.  Unsere Tante, wir sollten sie so nennen, achtete darauf, dass wir zusammen blieben. Sie wollte uns unter diesen schwierigen Bedingungen betreuen. Sie sah es als ihre Pflicht an, denn wir waren einsam, verlassen und sehr unglücklich. Es ist ihr gelungen. Wir wurden zusammen abtransportiert und fast bis zum Ende des Krieges standen wir unter der Fürsorge der Tante.  

Ob wir einen oder zwei Tage dort verbracht haben, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kam der Moment, als die Gruppe der Arbeitsfähigen in Eisenbahnviehwagen furchtbar zusammen gedrängt einsteigen musste. Die Waggons wurden verriegelt. Immer noch ohne Essen und Trinken sowie ohne frische Luft fuhren wir los. Wie lange, weiß ich nicht. Es war jedenfalls sehr lange. Es kam uns wie eine Ewigkeit vor. Wir fuhren in Richtung Breslau. Aus einem uns unbekannten Grund hielt der Zug 24 Stunden. Ich erinnere mich, dass jemand Papier und Bleistift besaß. Auf diese Fetzen Papier schrieb er seinen Namen. An den vorbeifahrenden Bahnhöfen warf er ein Stück Papier durch das vergitterte Fenster auf das Gleis, in der Hoffnung, diese Nachricht würde zu seiner Familie gelangen. Niemand von uns wusste, wohin wir fuhren.

Endlich kamen wir in einem weiteren Durchgangslager an. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern, wie lange wir in diesem Durchgangslager gewesen sind. Hier waren verhältnismäßig erträgliche Lebensbedingungen. Wir bekamen zu essen und schliefen auf Holzpritschen. Das Wetter war immer noch schön und wir konnten uns an der frischen Luft aufhalten. Eine Frage quälte uns die ganze Zeit: Wie geht es weiter?

Wir erfuhren, dass damit begonnen wurde, die Leute zur Arbeit einzuteilen. In das Durchgangslager kamen Vertreter verschiedener Fabriken und Betriebe und suchten sich ihre Arbeiter aus. Unsere Tante achtete darauf, dass wir nicht auseinander gerissen wurden und meldete uns vier zur Arbeit. Es ist ihr gelungen. Wir gehörten zu einer Gruppe, die für die Arbeit in den Deutschen Pyrotechnischen Fabriken, Werk Malchow, vorgesehen war.“

Meine Gesprächspartner haben unterschiedliche Angaben zu ihrer Behandlung als Zwangsarbeiter gemacht. Eine Verallgemeinerung ist daher unmöglich. Sie waren vom Arbeitgeber und von den deutschen Arbeitskollegen, in der Industrie vom Meister bzw. Vorarbeiter, in der Landwirtschaft vom Bauern und seinen Angehörigen und in den Privathaushalten von der Familie abhängig. Es gab ganz unterschiedliche Erfahrungen in Bezug auf die Unterbringung, Verpflegung, Entlohnung und das Arbeitspensum. Es gab Schläge, Denunziationen, aber es gab auch Deutsche, die sich menschlich und solidarisch verhielten.

Tadeusz Kaniewski lebt heute in Poznań. Als Jugendlicher arbeitete er u. a. bei der Firma Otto L. Schmidt in Hohenschönhausen:

„Ich wurde für die Stanze eingeteilt. Ich musste dicke Blechteile herausstanzen, aus denen Munitionsbehälter gefertigt wurden. Was unsere gesamte Brigade im Einzelnen an den Stanzen herstellte, wurde uns nicht gesagt. Wir mussten sehr aufpassen, um keinen Ausschuss zu produzieren. Der kleinste Fehler wurde schon als Sabotage gewertet. Allgegenwärtig war die Gestapo.“

Kaniewski bekam für seine Arbeit keinen Lohn. Er berichtete auch von Schlägen. Eine Flecktyphuserkrankung brachte ihn an den Rand des Todes. Unter katastrophalen Bedingungen vegetierte er wochenlang in einem Ausländerkrankenhaus, wo er 26 kg abnahm. Sein Überleben verdankt er einem Bauern, auf dessen Hof er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus arbeitete.

Laura Wolnicka beschreibt ihre Arbeit in der Pyrotechnischen Fabrik als schwer und gesundheitsschädlich. „Entgegen den Vorschriften, ich war noch minderjährig, musste ich auch in Nachtschichten arbeiten. Ich hätte eigentlich Milch bekommen sollen. Ich bekam aber keine. Die Nächte waren furchtbar. Ich schlief ein, wenn ich die Leuchtraketen in eine übelriechende Flüssigkeit tauchen musste, die bei mir Kopfschmerzen und Erbrechen auslöste. Mir war immer schlecht, auch dann wenn ich nach der Arbeit in der Baracke war. In der Nacht kamen Kontrollen. Die Konsequenzen waren sehr unangenehm, wenn einer der Arbeiter bei einem Nickerchen erwischt wurde. Es gab einen Meister. Er war Schlesier und hieß Grabowski. Er schlug auch zu. Mit Ihm hatte ich häufig Auseinandersetzungen.

Eine weitere sehr unangenehme Sache bei unserer Arbeit war der farbige Staub, der unsere Kleidung, Unterwäsche, den Körper, die Haare violett färbte. Er drang in die Nase und in den Hals ein. Wir waren komplett eingefärbt und in Sorge, ob wir ihn jemals wieder abwaschen können.

Wir waren immer hungrig. Aus Berlin wurde uns das Mittagessen geliefert. Es bestand aus Pellkartoffeln, die meistens verfault waren und sich nicht zum Essen eigneten. Dazu gab es aus einer großen Suppenkelle eine braune Flüssigkeit, die die Soße sein sollte. Es war schwer, das Ganze herunter zuschlucken. Aber wenn man hungrig ist?“                                                                                                                                                                                                                  m