Zum Film „Pianista“ von Roman Polański nach der
gleichnamigen Autobiografie Władysław Szpilmans
Von Joachim Neander
Am 5. September 2002 fand in der Nationalen Philharmonie in Warschau die Weltpremiere des Films „Pianista“ („The Pianist“; Regie: Roman Polański) statt. Tags darauf wohnten Regisseur und Hauptdarsteller der Krakauer Uraufführung bei. Beide Städte haben für Polański mehr als symbolische Bedeutung. In Warschau erlebte er als Sechsjähriger die Bombardierung der Stadt zu Kriegsbeginn, in Krakau die Eskalation der Judenverfolgung, das Getto, die Flucht auf die „arische Seite“, das Leben im Untergrund, die Befreiung im Januar 1945. Hier schlug er sich durch die Nachkriegszeit durch (sehr amüsant nachzulesen in der Autobiografie seiner Kusine Roma Ligocka „Das Mädchen im roten Mantel“), ging zur Schule und hatte seine ersten Erfolge auf der Bühne.
Władysław Szpilman, der
„Pianist“, wurde 1911 in Sosnowiec als viertes Kind einer wohlhabenden,
assimilierten jüdischen Familie geboren.
Władysław Spilman – Der „Pianist“
Die Eltern förderten schon früh
seine musikalische Begabung. 1931 ging er nach Berlin und studierte Klavier an
der Musikakademie unter Leonid Kreutzer, kehrte jedoch bald nach der
nationalsozialistischen „Machtergreifung“ wieder nach Po-len zurück, wo er sich
als Komponist sowohl von „ernster“ als auch von Unterhal-tungsmusik sowie als
Klaviervirtuose bald einen Namen machte. 1935 erhielt er eine feste Anstellung
beim Sender Warschau des Polnischen Rundfunks.
Den Zweiten Weltkrieg durchlebte
Szpilman vom ersten bis zum letzten Tag in Warschau. Unmittelbar nach der
Befreiung setzte er seine Tätigkeit am Rundfunk (dessen musikalischer Leiter er
bald wurde), als Solist und als Komponist fort. Viele seiner Lieder, so etwa
„Czerwony autobus“ (Der rote Autobus) oder „Pio-senka mariensztacka“
(Marienstädter Lied-chen), wurden zu Schlagern und sind noch heute der älteren
Generation in liebevoller Erinnerung. Mehr und mehr verlagerte Szpilman jedoch
seine Tätigkeit in die Konzertsäle aller Länder des Erdkreises. Allein mit dem
Geiger Bronisław Gimpel gab er über 2 500 Konzerte.
Seine unmittelbar nach der
Befreiung niedergeschriebenen Erinnerungen an die Zeit des Krieges erschienen,
mit erheblichen Eingriffen durch die Zensur, 1946 unter dem Titel „mier miasta“
(Tod einer Stadt). Ein parallel begonnenes erstes Verfilmungsprojekt, zu dem
Czesław Miłosz und Jerzy Andrzejewski das Drehbuch schrieben – sie
wollten noch am authentischen Ort, in den Ruinen Warschaus drehen - wurde durch
Eingriffe „von oben“ derart „verbessert“, dass die Drehbuch-autoren ihre Namen
aus dem Vorspann zurückzogen. Der Film kam unter dem Titel „Miasto
nieujarzmione“ (Die unbezähmbare Stadt) in die Kinos, zur gleichen Zeit, als
„mier miasta“ verboten und dessen letzte Exemplare polizeilich beschlagnahmt
wurden.
Mehr als vierzig Jahre später
bekam Szpilmans Sohn Andrzej das Originalmanuskript in die Hand. Mit des Vaters
Einverständnis wurde es 1998 erstmals ungekürzt, aber in deutscher Übersetzung
(„Das wunderbare Überleben“; Düsseldorf: Econ) veröffentlicht und kam schnell
auf die Bestsellerlisten. Übersetzungen ins Englische und andere Sprachen
folgten. Führende englischsprachige Zeitungen setzten es 1999 auf die Liste der
„Besten Bücher des Jahres“. Die polnische Oriinalfassung erschien erst im
September 2000 im Krakauer Verlag „Znak“. Wenige Wochen zuvor, am 6. Juli 2000,
war Władysław Szpilman im Alter von 88 Jahren, hochbetagt und
vielfach geehrt, gestorben.
Polańskis
zweieinhalbstündiger, in Farbe gedrehter Film hält sich eng an die Buchvorlage.
Wir sehen die gutbürgerliche Familie Szpilman bei Kriegsausbruch in ihrer
Warschauer Stadtwohnung und begleiten Władysław zu einer Live-Sendung
ins Studio von Radio Warschau. Sein Klavierspiel, Chopins Nocturne cis.moll op.
posthumum, wird vorzeitig durch einen Bombentreffer beendet. Die Deutschen besetzen
Warschau. Ihre Anordnungen engen das Leben der Juden mehr und mehr ein. Die
Familie Szpilman macht die ganze Skala der Erniedrigungen durch. Ohne
Einkünfte, müssen sie alles Wertvolle verkaufen: Bilder, Schmuck,
Silberbesteck, Möbel, zum Schluss gar den Flügel. Sie müssen die Armbinde mit
dem Davidstern tragen, Beschimpfungen und Schläge von Deutschen widerstandslos
erdulden. Schließlich werden sie aus ihrer Wohnung geworfen und zusammen mit
einer halben Million Juden aus Warschau und Umgegend in das in einem Teil der
Innenstadt eingerichtete Getto gepfercht.
Wir werden Zeuge des Leidens und
Sterbens im Getto, des Kampfes um ein Stück Brot, der willkürlichen Übergriffe
von SS und Gestapo, der Ermordungen anlässlich der „Aktionen“, der
zwielichtigen Rolle des Jüdischen Ordnungsdienstes (OD), der Verbrechen der
„szmalcownicy“, die Juden an die Gestapo verraten. Władysław verdient
den Lebensunterhalt für sich und die ganze Familie als Pianist in einer Bar, in
der sich die „Getto-Elite“ trifft: Spekulanten, Schwarzhändler, Nutten und
Zuhälter. Als die Deutschen mit den Transporten in die Vernichtungslager
beginnen, erhalten auch Szpilmans den Befehl, sich am „Umschlagplatz“ einzufinden,
wo sie in Viehwaggons verladen werden. Ein jüdischer OD-Mann, der den berühmten
Musiker erkennt, zieht Władysław aus der Reihe, jagt ihn fort und
rettet ihm so das Leben.
Szpilman schlägt sich nun allein
durch, als Hilfsarbeiter in einer Baukolonne, die außerhalb des Gettos
eingesetzt ist. Er hilft der jüdischen Widerstandsbewegung beim Schmuggel von
Waffen und Munition. Auf einen Tipp hin kehrt er Mitte Februar 1943 vom
Arbeitseinsatz nicht ins Getto zurück, sondern taucht bei „arischen“ polnischen
Freunden unter, wird Zeuge des kurzen, heroischen Gettoaufstandes (April/Mai
1943), muss, da von polnischen Hausmitbewohnern enttarnt, überstürzt das Versteck
wechseln, gerät im Warschauer Aufstand (September/Oktober 1944) zwischen die
Fronten, schleppt sich verwundet, durch die Ruinen der Stadt, die von den
Deutschen und ihren ukrainischen und russisch-faschistischen Verbündeten
systematisch dem Boden gleichgemacht wird.
Er findet schließlich Unterschlupf auf dem Dachboden einer
halb zerstörten Villa, nicht ahnend, dass ein Stab der deutschen Wehrmacht sich
dieses Haus zum Quartier ausgesucht hat. Er wird von einem deutschen Hauptmann
entdeckt, der ihm auf den Kopf zusagt, er sei Jude. Als Szpilman ihm offenbart,
dass er von Beruf Pi-anist ist, heißt ihn der Offizier vorspielen. Mit
zitternden Händen spielt er Beethovens „Mondscheinsonate“ (im Buch: Chopins
Sonate cis-moll). Gerührt schickt der Offizier Szpilman in sein Versteck
zurück, bringt ihm dorthin regelmäßig etwas zu essen und gibt ihm zum Schluss
seinen warmen Mantel. Nach der Befreiung nimmt Szpilman wieder seine Tätigkeit
im Rundfunk auf. Zufällig erfährt er von einem Kollegen, dass die Russen einen
deutschen Offizier gefangen halten, der einem jüdischen Pianisten das Leben
gerettet hat und jetzt selbst um Hilfe bittet. Als jedoch Szpilman am Ort des
provisorischen Kriegsgefangenenlagers eintrifft, findet er nur noch ein leeres
Feld vor.
Den Offizier, Wilm Hosenfeld, hat
es wirklich gegeben. Szpilman hat sich intensiv bemüht, ihn zu finden und aus
sowjetischer Kriegsgefangenschaft zu befreien, jedoch vergeblich. Hosenfeld ist
Mitte der fünfziger Jahre in einem Lager des GULag verstorben.
„... eine Geschichte wie sie sich zugetragen hat“
Für seinen Film hatte Polański
als Bühnenbildner Allan Starski gewinnen können, der schon das Bühnenbild für
Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ entworfen hatte. Die Außenaufnahmen
für die Ruinenszenen wurden in der ehemaligen DDR gedreht, in Kasernen,
Spitälern und einer Villa, die die sowjetischen Trup-pen bei ihrem Abzug Anfang
der neunziger Jahre verlassen hatten und die ohnehin zum Abbruch bestimmt
waren. Auch die Getto-Szenen wurden in Deutschland (Babelsberg) gedreht. Polański:
„Als ich die brüllenden Deutschen in Uniform sah, wurde mir klar, dass ich
solche Szenen nirgendwo anders hätte drehen können, auch nicht in Polen.“
Die in Polen gezeigte Fassung des
Films ist nicht synchronisiert, sondern nur untertitelt. Die Schauspieler
sprechen Englisch, bis auf diejenigen, die die Deutschen darstellen und ihre
Rollen in Deutsch sprechen, was dem Film eine beklemmende Authentizität verleiht.
Der Film lebt von der überragenden schauspielerischen Leis-tung des 28-jährigen
Adrien Brody, New Yorker und seit seinem 13. Lebensjahr vor der Kamera, als Władysław
Szpilman. Kühl, distanziert, mit sparsamer Gestik und Mimik hält er den
Zuschauer in Atem bei seinem einsamen Kampf ums Überleben im Getto, im
Versteck, auf der Suche nach Nahrung und Unterschlupf im Warschauer
Ruinenwinter, ständig auf der Flucht vor den Deutschen und ihren
Helfershelfern. Der Kontrast zwischen der Dramatik des Geschehens um ihn herum
und seinem distanzierten, scheinbar leidenschaftslosen Spiel baut eine Spannung
auf, die den Zuschauer nicht loslässt.
„Ich wollte keinen Dokumentarfilm
drehen,“ hatte Polański gesagt, „sondern eine Geschichte erzählen, wie sie
sich zugetragen hat.“ So hat er auch der Versuchung widerstanden, dem
Publikumsgeschmack zuliebe die Handlung zu verkitschen. Der Film bleibt wie die
Buchvorlage: hart und klar. Herausragend sind die Getto-Szenen. Sie sind von
bestürzender Brutalität, zeigen aber nicht mehr und nicht weniger als das, was
uns die Überlebenden wie Marek Edelman oder Zeitzeugen wie Tadeusz Pankiewicz
immer wieder beschrieben haben. Selten ist der Prozess der Ausgrenzung der
Juden aus der „Gattung Mensch“ (um einen Buchtitel des französischen KZ-Überlebenden
Robert Antelme zu zitieren) so überzeugend im Medium Film dargestellt worden.
Wer diese Filmsequenzen gesehen hat, wird verstehen, was „Holocaust“ auch
emotional für das jüdische Volk bedeutet.
Schon lange bevor der Film in die
Kinos kam, wurde lautstark in den USA gegen ihn (und seinen Regisseur)
polemisiert. Die Kritik kam von zwei sonst keineswegs einander freundlich
gesinnten Seiten: von Vertretern der polnischen und der jüdischen Minderheiten.
Sie setzte einmal dort an, womit sich schon die Kulturfunktionäre 1946 nicht
anfreunden konnten, dass nämlich der Mann, der in letzter Instanz Szpilman das
Leben rettete, Deutscher und dazu noch Offizier war. Das möge zwar hier der
Fall gewesen sein, hieß es 1946 und wieder 2002, aber so positiv dürfe man
Deutsche nicht darstellen.
Der zweite Kritikpunkt betraf die
im Film keineswegs als erzwungen dargestellte Mithilfe von Polen beim Aufspüren
von auf der „arischen“ Seite versteckt lebenden Juden und die Schilderung des
Lebens der jüdischen „Getto-Elite“ auf Kosten der Massen. So etwas habe es
nicht gegeben, hieß es, oder wenn, dann rede man darüber besser nicht. Drittens
wurde kritisiert, dass der Film- (und Roman-) Held Einzelkämpfer ist und die
Rolle der jüdischen bzw. polnischen Widerstands-organisationen sowohl beim
Getto- als auch beim 1944er Aufstand nicht gewürdigt werde. Kurz: Szpilmans
Buch und Polańskis danach gedrehter Film passten nicht in das Selbst- und
Weltbild dieser Gruppen.
Damit braucht sich der deutsche Zuschauer jedoch nicht zu identifizieren. Es gab unter den Deutschen, auch unter Offizieren, sogar unter Nazis (siehe Oskar Schindler) „Gerechte der Völker“. Sie haben die Ehre unserer Nation gerettet. Wir dürfen damit aber nicht verdrängen, was unsere Landsleute konkret den Juden in Polen angetan haben. In den Gettos sind mehr Menschen an Hunger und Krankheiten gestorben, wurden mehr mit Schlägen, Fußtritten und durch Kugeln der SS ermordet als in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Und machen wir uns auch klar, welches traumatische Ereignis die systematische Zerstörung ihrer Hauptstadt für das kollektive Gedächtnis der Polen bedeutet. Polańskis Film kann uns helfen, beides besser zu verstehen. m