Von Holger Politt
So wie im vorigen Jahr der Bericht über brutales Geschehen in der polnischen Kleinstadt Jedwabne aus der Feder von Jan Tomasz Gross zum mit Abstand wichtigsten publizistischen Ereignis Polens geworden ist, so gibt es auch für das ablaufende Jahr einen großartigen Wurf zu vermelden. Der wie jedes Jahr im Herbst durch eine unabhängige Jury verliehene prestigeträchtige Nike-Literaturpreis hätte – darin ist sich das Feuilleton einig - keiner besseren Lektüre zuerkannt werden können. Unter dem Titel „W ogrodzie pamięci“ versucht Joanna Olczak-Ronikier das Schicksal ihrer zahlenmäßig großen Familie im Zeitraum der letzten 140 Jahre nachzuerzählen. Es ist ihr gelungen, denn den Leser erwartet eine über weite Teile nachdenklich machende und ihn gefangen nehmende Darstellung abgelaufener und ablaufender Zeit.
Der Familienbericht – ein wahres
Hohelied auf das dem Einzelnen gegebene oder geschenkte Leben – vermag uns
Heutigen auf begrenztem Raum ein farbenreiches Bild von Geschichte zu
vermitteln, wie es ein noch so gut geschriebener Abriss der Geschichte nicht
besser hätte schaffen können. Der Bericht ist in vortrefflicher Sprache
verfasst. Dem schriftstellerischen Können der Autorin verdankt der Leser ein
wohltuend unaufgeregt angelegtes, desto nachdenklicher machendes Arrangement
der aufgehobenen, geretteten bzw. wundersam überkommenen Dokumente aus dem
Leben einer außergewöhnlich zu nennenden Familie.
Denn nur am Rande noch findet ein
be-rühmter französischer Ingenieur und Automobilbauer Erwähnung. André Citröen
(1878-1935) dürfte mütterlicherseits nicht selten polnische Laute vernommen
haben. Auch Gustaw Bychowski (1895-1972) zählt zu den Sprösslingen der Familie,
einer der angesehensten und weit über die Grenzen Polens geschätzter Psychoanalytiker,
was ihm 1940/1941 die Abenteuer aber auch Rettung bedeutende Ausreise in die
USA ermöglichte – entlang der Transsibirischen Eisenbahn über Japan. Sein Sohn
fiel 1944 als Offizier der Royal Air Force. Und der Hausarzt und enger Freund
der Familie war wiederum ein gewisser Janusz Korczak.
Im Mittelpunkt der Familiensage
stehen zwei herausragende Frauenpersönlichkeiten, zum einen die Urgroßmutter
der Autorin, Julia Horwitz aus dem Hause Klein-mann (1845-1912), die den Willen
aufbrachte, nach dem frühen Tod des peinlich auf Wiener Kultur und deutsche
Sprache achtenden Ehemanns und neunfachen Familienvaters, ihre Kinder
nachdrücklich und entschieden an die ihr vertraute polnische Kultur und
Umgebung zu gewöhnen. Zu Hause wurde fortan nur noch polnisch gesprochen –
typisch für eine auf Assimilation bedachte jüdische Familie. Wäre nicht der
Sozialismus um die Jahrhundertwende so zwingend auf die Tagesordnung getreten,
dann hätten Julias Kinder sich in der Ausrichtung ihres gesellschaftlichen
Engagements kaum noch von der vorgezeichneten Lebensbahn entfernt. Denn als
ihre erwachsen gewordenen Kinder um die Jahrhundertwende vor der Frage standen,
wofür sie so inbrünstig gegen die russische Fremdherrschaft ankämpften, fielen
zwei in dieser Zeit allmählich sich auszuschließen beginnende Antworten: für
Polens Unabhängigkeit oder für den Sozialismus.
Die Großmutter der Autorin, die zweite Heldin, mag für den
Unabhängigkeitskurs stehen, dem zuliebe sie gerne auf überflüssige Abenteuer im
Zeichen des Sozialis-mus verzichtet hätte. Janina (1873-1960) heiratete Jakub
Mortkowicz (1873-1931), der sein ganzes Sinnen und Trachten dem gedruckten
polnischen Wort widmen sollte. Der gleichnamige Verlag in der Mazowiecka-Straße
wurde in der Zwischenkriegszeit zu einer bekannten Verlagsadresse. In ihr
gingen Maria Dąbrowska, Stefan ¯eromski, Leopold Staff oder Julian Tuwim ein
und aus. Unter dem Firmenzeichen Mortkowicz wurden für żeromski die gesammelten Werke und 1925 schließlich der
Roman „Vorfrühling“, für D¹browska „Nächte und Tage“ herausgegeben. Besondere
Sorgfalt aber galt der Herausgabe von Werken zeitgenössischer Dichtkunst.
Mortkowicz erhielt auf internationalen Buchmessen internationale Preise für
seine „Schönsten Bücher“, wofür ihn auch der gesonderte Dank Pi³sudskis
ereilte. Dennoch holte ihn das nicht untypische Schicksal eines Kaufmanns ein –
Zinsen und Rückzahlungen der Kredite bedrohten das Verlagsgeschäft. Ökonomische
Vernunft hätte Verzicht auf manch künstlerisch ehrgeiziges Vorhaben und eine
strengere Ausrichtung nach den Vorgaben der Kalkulation geboten. Während eines
Nervenzusammenbruchs nahm er sich durch Revolverschuss das Leben – seine
letzten Zeilen an Frau und Tochter lauteten: „Ich war niemals Kaufmann und ich
sterbe nicht wie ein Kaufmann.“
Beide Frauen führten den Verlag
weiter, legten dessen Geschicke nach 1940 aus bekannten Gründen in die Hände
von Anna und Monika żeromski.
Denn was zählte angesichts des barbarischen Wahnsinns der Nürnberger
Rassengesetze das lächerlich gewordene Argument, durch den Verlag einst
Friedrich Nietzsches Werken in Polen den Weg geebnet zu haben! Mit Hilfe der żeromskis hätte der Verlag über
die ruchlose Zeit gerettet werden können, doch fiel auch er der fast völligen
Zerstörung Warschaus zum Opfer. Sich zu retten schafften mit Hilfe zahlreicher
wunderbarer Menschen auch Großmutter und Mutter der kleinen Joanna (1931), die
als unsere Autorin am Beginn des 21. Jahrhunderts Zeugnis von diesem Wunder
ablegen wird. Allerdings kehrten sie Warschau für immer den Rücken. Nicht
geschafft haben es beispielsweise der Bruder der Großmutter und dessen Ehefrau,
eine geborene Luxemburg. Dem Geologen Ludwik Horwitz (1875-1943) halfen weder
exzellente Deutschkenntnisse noch der Wille, gegen all die widerwärtigen
Gesetzen und Verordnungen weiterzuleben ohne Versteck oder Identitätsänderungen.
Im Januar 1943 wurde das Ehepaar festgenommen und wenig später erschossen.
Der andere Bruder, Maksymilian
Horwitz (1877-1937), verkörperte nun die entschieden sozialistische Richtung.
In den Jahren vor der 1905er Revolution bewies er sich als verwegener
Kampfgenosse Pi³sudskis. Zu Berühmtheit gelangte er, als er auf dem Höhepunkt
der Revolution zusammen mit Feliks Kon, Onkel der Ehefrau, und anderen
Mitstreitern zehn festgenommene PPS-Genossen kurz vor der geplanten Hinrichtung
aus dem berüchtigten und scharf bewachten Pawiak-Gefängnis flüchten lies. Da er
selbst zu der Zeit Insasse im Pawiak war, fiel kein Verdacht auf ihn. Weil Bestechungsgeld
keine geringe Rolle spielte, sei angemerkt, dass auch Janina, die spätere Frau
Mortkowicz, einen gewissen Anteil an der verwegenen Aktion hatte. Noch war der
Unterschied zwischen Unabhängigkeitskämpfern und den sich für die Befreiung der
Arbeiterklasse aufopfernden Genossen so ausgeprägt nicht. Doch wenige Jahre
später, bald nach Errichtung eines polnischen Staats standen sich zwei
herausragend Beteiligte der Aktion auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade
wieder. Während Maksymilian – nunmehr Mitglied der Kommunistischen Partei –
aufopfernd gegen den bürgerlichen Staat ankämpfte, ließ Jan Gorzechowski – mittlerweile
zum ersten Chef der Staatspolizei geworden, ihn und seine Mitstreiter
hartnäckig verfolgen. Maksymilian, der in der Partei Henryk Walecki gerufen
wurde, war einer der ersten und gleichzeitig einer der berühmtesten politischen
Gefangenen im unabhängigen Polen. Selbst Pi³sudski versuchte Vorzugsbehandlung
anzubieten, was der Stolz ihm aber verbot. Lieber flüchtete er aus dem
Gefängnis.
Ausführlich wird über das Leben und Wirken von
Horwitz-Walecki sicher noch bei anderer Gelegenheit zu berichten sein. Auf
jeden Fall wurde er zu einem wichtigen und führenden Mitarbeiter der
Kommunistischen Internationale, nahm bis 1926 auch in der KP Polens leitende
Positionen ein. Danach wurde er innerhalb der Partei weitgehend kaltgestellt,
verlor an Einfluss und Wirkung. Einstweilen entfloh er dem Ärger durch das
Engagement in der KI, zog mit seiner Familie durch vieler Herren Länder, denn
zu Hause hätten ihm unweigerlich Verhaftung und Gefängnis gedroht. Doch zur
tödlichen Falle wurde ihm und seiner Ehefrau schließlich das vermeintliche
„Vaterland aller Werktätigen“. Am 22. Juni 1937 wurden sie in Moskau verhaftet
und unter absurde, todbedeutende Anklage gestellt: Spionage für das
faschistische Polen! Sie teilten das unglaubliche Schicksal so vieler polnischer
Kommunisten, die vor der Verfolgung im eigenen Land in die Sowjetunion flüchten
mussten, von denen nur die wenigsten mit dem Leben davonkamen. So wie Stanisław
Bielski (1901-1953), der eheliche Sohn von Maksymilian, Mitarbeiter des
Generalstabs der Roten Armee, der „lediglich“ zu zehn Jahren Lagerhaft in
Workuta verurteilt wurde. Er nahm sich 1953 in Polen das Leben. So wie Kamilla
Kancewicz (1879-1952), leibliche Schwester Maksy-milians, die dank glücklicher
Umstände die Lagerhaft überstehen und 1945 nach Polen zurückkehren konnte. Gerade
weil die Autorin jeglicher ideellen Sympathie für den Sozialismus sowjetischer
Prägung fern steht, ist ihr mit der Schilderung und Darstellung der
Lebenslinien ihrer durch eigenen Willen in die Sowjetunion verschlagenen
Familienangehörigen eine Würdigung der besonderen Art gelungen.
Eindrücklich schildert Joanna
Olczak-Ronikier die Okkupationszeit, die sie als kleines Mädchen getrennt von
Mutter und Großmutter dank der mutigen Hilfe der Bewohner eines Nonnenklosters
überstand. Mutter und Großmutter durchlebten vergleichsweise die Hölle,
versteckten sich beispielsweise ein dreiviertel Jahr in einer kleinen Kammer,
ohne je einen Schritt heraus machen zu können. In dieser Zeit schrieb die
Mutter einen letzten Willen, darin die Worte: „Ich bitte darum, dass meine
Tochter Joanna durch meine Freunde, allen voran die polnischen Schriftsteller
Maria Dąbrowska] und Leopold S[taff], von der Tätigkeit der Großeltern und
der Mutter sowie über deren Einsatz für die polnische Kultur und das Polentum
erfährt.“
Joanna Olczak-Ronikier: W ogrodzie pamięci, Kraków 2002. 357
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