10 Jahre Radtouren der guten Nachbarschaft Rad- und Wandertour der guten Nachbarschaft 2002

Von Mirko Buggel und Werner Stenzel

 

Von Berlin nach Warschau – diese Strecke einte im Sommer 55 RadlerInnen.  Einige Teilnehmer hatten sogar den Ehrgeiz, mit ihrem Velo auch die Rückfahrt anzutreten. Am 29. Juni startete „das Feld“ am polnischen Ehrenmal im Berliner Friedrichshain. Im Gepäck hatten sie auch Grüße des Botschafters der Republik Polen Jerzy Kranz und des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit. Sicherlich trugen auch die Berliner Tage in Warschau dazu bei, Verantwortliche beider Hauptstädte für unser Vorhaben zu interessieren.

 

Es war schon ein erhebendes Gefühl, von einer Polizeieskorte durch die Straßen der Hauptstadt bis zur Stadtgrenze geleitet zu werden. Das beschleunigte das Tempo, disziplinierte auch und – verschaffte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. In Frankfurt (Oder) bzw. S³ubice schlossen sich dann weitere 20 polnische Teilneh-mer der Tour an.

Ein kurzer Rückblick

Seit dem Jahre 1993 gibt es die Rad- und Wandertouren der guten Nachbarschaft. Zu den ersten Startern gehörten u.a. die Friedensfahrt-Legenden  Täve Schur und Rolf Töpfer. Letzterer lässt es sich auch heute als 70jähriger nicht nehmen, in den Sattel zu steigen. Überhaupt spüren die Veranstalter der Fahrt stets die Aufmerksamkeit des Kuratoriums Friedensfahrt, an dessen Spitze nach wie vor Täve steht. Auch, dass der Sportfreund Heinz Baumert den Organisatoren sein Mitgliedsdokument der Deutsch-polnischen Gesellschaft für Frieden und gute Nachbarschaft vom November 1951 übergab, spricht für den Geist der Veranstaltung.

Partner unserer Gesellschaft ist der Landessportbund (LZS) Gorzów. Ca. 2400 Veranstaltungen führen die 215 Grundeinheiten in der Wojewodschaft Lebuser Land jährlich durch. Die Radtour mit uns ist nur eine davon. Vieles muss organisiert werden – von der Logistik, über die Bereitstellung der Quartiere in Internaten, Jugendherbergen und Hotels, bis hin zur technischen und medizinischen Betreuung. Wenn letztere nicht in Anspruch genommen wurde, zeugt das von der guten Vorbereitung der Teilnehmer.

Wer diese Fahrt miterlebt, spürt, hier treffen sich Menschen, die über Jahre gute Bekannte, ja oft Freunde geworden sind. Mit Hilfsbereitschaft und Aufmerksamkeit werden auch Sprachbarrieren überwunden und „Neulinge“ schnell integriert.

Der Reiz und das eigentliche Anliegen dieser Fahrt liegt in der Begegnung zwischen Bürgern beider Länder, egal, ob man sich in mittäglicher Hitze auf dem Fahrrad die Wasserflasche reicht oder einfach auf dem Markt oder anderswo mal sehen will, „wie die Polen so sind“.

Im Laufe der Jahre erschlossen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer neue Kulturlandschaften und bedeutende Städte. So führte z.B. die Route nach Gdañsk durch die „polnische Sahara“ mit ihren hohen Wanderdünen. Oder von Karpacz  (im Riesengebirge) aus erstiegen wir die Schneekoppe (natürlich zu Fuß). Höchst interessant und lehrreich war die Oder-Neiße-Tour von Szczeciñ nach Zgorzelec u.a. durch das Naturreservat Unteres Odertal oder den Pückler-Park in Bad Muskau und Lęknica. Attraktive Städte wie Wroc³aw und Toruń gehörten ebenfalls zu unseren Zielen.

Und schließlich gab es ja noch die Camps, u.a. in den Masuren, am Turawa-Stausee bei Opole oder in Lubniewice fast in unmittelbarer Berliner Nachbarschaft. In einer Woche erkundeten  die Teilnehmer dort per Rad oder per Pedes die Umgebung.

Die Jubiläumsfahrt

Den diesjährigen Etappen, u.a. durch Gniezno, Poznań, Włocławek, folgte ein dreitägiger Aufenthalt in Warschau. Höhepunkte waren hier die Besuche im Schloss und im Łażienki-Park. Viele Teilnehmer begriffen nun, warum Warschau auch Paris des Ostens genannt wird. Ob in Warschau auf dem Platz Defilad nun der Mittelpunkt Europas ist, wie manche behaupten, sei dahin gestellt. Dass von dieser Stadt aber seit mehr als 200 Jahren entscheidende Signale zur Veränderung unseres Kontinents ausgehen, bleibt unbestritten.

Zahlreiche Spuren im Stadtbild und emotional gestaltete Denkmäler erinnern an die Leiden der Bewohner im 2. Weltkrieg. Gerade manch deutscher Besucher wird nachdenklich: Wie hättest du dich vor 60 Jahren verhalten, als Sprenglöcher gebohrt wurden? Widerständig, duldend, gehorchend? Es ist ein großes Glück unserer Generationen, in gesicherten Grenzen und im Frieden erwachsen geworden zu sein.

Samstagabend – Fragestunde mit dem Stellvertretenden Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses Warschaus, Herrn Majewski: Dabei ging es um die Erhaltung des ungeliebten, aber heute gut genutzten und vermarkteten Kulturpalastes ebenso wie um den Radverkehr in Warschau  und den Kampf gegen die Armut in der Stadt.

Höhepunkt für jene Aktiven, die sich auch für den Rückweg per Fahrrad entschieden hatten, war die Begrüßung im Entrée des Rathauses durch Sport- und Touristikdi-rektor Kazimierz Kowalczyk. Durch einen glücklichen Zufall gesellte sich auch noch der Stadtpräsident Pawel Piskorski hinzu. Łódź – das polnische Manchester. In der Stadt wurde Industriegeschichte geschrieben. Dieser Tradition ist man sich bewusst: Davon zeugen sorgfältig gestaltete Häuserfassaden, aus deren Fenstern berühmte Töchter und Söhne des Landes das geschäftiges Treiben in den Straßen beobachteten, und sorgfältig gestaltete Skulpturen in der Piotrowska von Tuwim, Rubinstein und Raymont, denen der Passant in Augenhöhe gegenübersteht.

Schweigen auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos. Die Frage drängt sich auf, ob die leider auch in Polen anzutreffenden antisemitischen Schmierereien nur als Werk von „Narren- und Kinderhänden“ abgetan werden können. In Auseinandersetzung mit diesen Erscheinungen erklärte uns ein Priester im kleinen Städtchen Wschowa, dass die Schwarze Madonna, die Mutter Polens, eine Jüdin war. Er verstand es als Mahnung zur Toleranz.

Sorgfältig gepflegte Gräberfelder für die Gefallenen der sowjetischen wie der polnischen Armee erinnern nicht nur in Wolsztyn an eine verhängnisvolle Geschichte.

Der Weg von Wolsztyn über Ostrów Wlkp. nach Rawicz, mit Blick auf das ferne Riesengebirge, ist eine Traumstraße Europas. Dort muss es gewesen sein: Einfache Leute auf einem bescheidenen Bauernhof buken ganz spontan Kartoffelpuffer für hungrige Radfahrer. Anderswo wurde in einer Küche für eine Radlergruppe Kaffee aufgebrüht. Ob polnische Radfahrer so etwas in Deutschland auch erleben würden? Wir würden es uns wünschen....

Es gäbe noch manches zu berichten über die Tour aber auch über die interessanten Diskussionen am Rande... Muss Polen „Überfremdung“ befürchten angesichts zunehmender Reklameflut  für Jacobs-Kaffee, Mc Donald’s, Schöller Eis etc.?

Das Wandercamp fand in diesem Jahr in Krosno Odrzańskie, Lebuser Land, statt. Die 20 deutschen und polnischen Teilnehmer konnten in dem Wald- und Seengebiet individuelle Touren gestalten.

10 Jahre Touren der guten Nachbarschaft - haben sie eine Zukunft? Einer, der von Anbeginn dabei war, Erhard Köhn aus dem sächsischen Ceesewitz, bringt allein 6 Personen an den Start - Großvater, Vater, Enkel. Wenn es gelingt, nachfolgende Generationen zu begeistern, vielleicht auch für eine Art Sprachkurs auf dem Fahrrad, dann könnte die Fahrt eine Zukunft haben. Junge Leute mit Unternehmungsgeist sind jetzt gefragt, welche bereit sind, die Fäden der Tour in die Hand zu nehmen!                                                                                                                                                                                                                                       m