Berlin zähmen

Dorota Barwinska

 


Antoine de Saint-Exupery sagte man kennt nur die Dinge, die man zähmt - die Worte sind Motto meines Aufenthaltes in Berlin geworden. Ich habe mir vorgenommen zu versuchen, die Stadt zu zähmen und das dauerte ein paar Monate. Wenn ich heute daran denke, muss ich feststellen, dass der von mir unternommene Versuch gelungen ist. Das von über drei Millionen Menschen bewohnte Berlin schien mir anfangs eine gigantische Stadt zu sein. Die Entscheidung war aber gefallen und hier wird mein neues Zuhause für das nächste halbe Jahr sein. Der Zug aus Krakau hielt am Ostbahnhof an. Hier beginnt meine Geschichte. Ziemlich schnell habe ich bemerkt, dass Berlin wie jede große Metropole ein hervorragend entwickeltes Verkehrsnetz besitzt. Ostbahnhof war nämlich noch nicht die Endstation, ich musste noch nach Kreuzberg. Toll! Also fahre ich weiter, aber wohin und womit? Mit der U-Bahn?! Das ist keine schlechte Idee. Ich brauche jetzt also einen Liniennetzplan. Ich habe einen. Ich werfe ein Auge auf das S- und U-Bahnnetz. Also los! Kreuzberg. Im Westen Berlins. Eine Dreizimmer-WG-Wohnung in einem schönen großen Altbau. Das ist mein neues Heim. Meine Mitbewohner sind Berliner. Wie sich erst später gezeigt hat, ist es keine einfache Sache, einen richtigen Berliner in Berlin zu treffen. Ich habe also Glück. Noch am selben Abend kam die Zeit, Kreuzberg mit meinen Vorstellungen und mit der Wirklich-keit zu vergleichen. Ist der türkische Bezirk wirklich so gefährlich? Ich lande im Zentrum von Kreuzberg - Kottbusser Tor. Ich mache einen kurzen Spaziergang. Ich esse türkische Pizza. Es ist schon dunkel, trotzdem fühle ich mich hier sicher. Heute sehe ich nichts mehr. Ich sitze vor meinem ersten Weizenbier. Ich bin in Berlin. Mein Aufenthalt in Berlin ist mit Recherchen zu meiner wissenschaftlichen Arbeit verbunden. Die Tatsache verkuppelt mich mit der Humboldt Universität. Der Semesterbeginn war sehr spannend: Was sich hinter der berühmten deutschen Ordnung verbirgt, schlug mir sogleich bei meinem ersten Universitätsbesuch, der Immatrikulation, entgegen. Zuständige Mitarbeiter auf dem Ausländeramt halfen uns, den Alptraum der Immatrikulation zu überleben. Ihre Geduldigkeit und Hilfsbereitschaft waren wirklich bewundernswert. Meine Ungeduld und der Wille, alle Formalitäten möglichst schell zu erledigen, haben die ganze Sache mit Sicherheit nicht leichter gemacht. Die Bestätigung, dass ich Studentin bin, die die Form eines provisorischen Ausweises hatte, bekam ich erst nach ein paar Tagen. Und den richtigen Studentenausweis, der meinen Status an der Universität bestätigte, bekam ich mit Hilfe der Deutschen Post ein paar Wochen später. So geschah es, dass ich, Dorota B. aus Krakau an der Weichsel, eine ordentliche Studentin (formell zur Erstsemesterin degradiert) an der HU, einer der ältesten und renommiertesten Hochschulen Deutschlands, wurde. Mein Traum, an einer deutschen Hochschule mit Tradition zu studieren und meine Fachkenntnisse vertiefen zu können, wurde zur unmittelbar greifbaren Realität. In diesem Moment fühlte ich, dass ich ein Mitglied der Universitätsgemeinschaft geworden war. Nun konnte ich grenzenlos in den Archiven und Bibliotheken wüten, suchend nach brauchbaren Publikationen. Doch meine wissenschaftliche Aktivität hat mir bald nicht mehr gereicht. Ich habe beschlossen, etwas nützliches zu machen. Diese Idee schien mir nicht ganz sinnlos zu sein. Und so führten mich meine ersten Schritte zu einer der NGOs (Nichtregierungs-Organisation), die in meinem Viertel wirkte. Es stellte sich heraus, dass Freiwillige immer willkommen sind. Ich wurde also ein Mitglied eines Teams. Dank der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen konnte ich das wirkliche Berliner Flair erleben. Bei dieser Arbeit konnte ich auch meine pädagogischen Fähigkeiten nutzen. Als dieses Praktikum zu Ende war, habe ich angefangen, mich schnell nach einem anderen umzuschauen. Berlin und die Berliner auf diese Weise kennen zu lernen, war für mich unheimlich interessant. Wie in einem Kaleidoskop wechselten die Orte und die Leute, die ich kennen lernte. Dank eines von mehreren Praktika, die ich gemacht habe - und dies war ein Journalistenpraktikum - wurde ich Teilnehmerin eines Treffens mit Vertretern der deutschen politischen Elite. Mein Presseausweis, der mir den Eintritt in den Deutschen Bundestag ermöglichte, war für mich zugleich ein Passierschein in eine andere Welt. Ich habe nie davon geträumt, Auge in Auge mit Helmut Kohl oder Gerhard Schröder zu stehen, um nur einige von den Großen zu erwähnen. Ich bin auch an solchen Orten gewesen, die nicht jeder Sterbliche aus der Nähe betrachten kann. Im Fernsehstudio in Adlershof konnte ich ein TV-Duell live beobachten. Und die heiße Wahlkampfphase konnte ich im Bundestag und im SPD-Haus - also im Zentrum des Geschehens - betrachten. Ich fing also mit der Zähmung der Berliner Bezirke an meinem Wohnort an. Kreuzberg - sowohl 61 als auch 36 - habe ich schnell kennen gelernt. Worin besteht eigentlich der Zauber dieses Kiezes? Kreuzberg ist wahrscheinlich einer der lebendigsten Kieze von Berlin. Das wahre Gesicht des Bezirks lernte ich am 1. Mai kennen, dem Tag, an dem man alljährlich in Berlin den Tag der Arbeit feiert. Dieser Tag verläuft in Kreuzberg seit Jahren unter der Devise der Straßenkämpfe zwischen den Demonstrierenden und den Vertretern des Rechts. Warum sollte ich das eigentlich nicht aus der Nähe betrachten? Vielleicht ist das ein bisschen gefährlich, aber dadurch auch sehr spannend. Außerdem sorgen da Tausende von Polizisten für Ordnung. Die Entscheidung, dass ich zur Oranienstraße fahre, fiel blitzartig. Ich nähere mich dem Görlitzer Bahnhof. Die Straße entlang stehen Hunderte von grünen Panzerwagen. Auf den Straßen zwischen den Jugendgruppen spazieren die Rechtshüter. Außer dass es hier viel mehr Menschen als an einem gewöhnlichen Tag gibt, passiert nichts besonderes. Am Mariannenplatz findet ein Konzert statt. Trotz der lauten Musik hört man die Gespräche. Plötzlich geschieht etwas. Man hört die Polizeisirenen heulen. Jemand ist in das PLUS-Geschäft eingebrochen, die jungen Menschen plündern die in der Nähe des Platzes stehenden Autos, ein paar Autos stehen in Brand, alle laufen nervös hin und her. Vielleicht ist das ein guter Moment, um das Schlachtfeld zu verlassen, bevor die Panzerwagen erscheinen und uns mit heftigen Wasserstrahlen nach Hause schicken. Ja. Ich kehre nach Hause zurück. Leider nicht auf dem kürzesten Weg, weil der gerade von einem Kordon bewaffneter Polizisten gesperrt ist. Aber Kreuzberg lebt nicht nur am 1. Mai. Kotti, das Zentrum 36 mit der Oranienstraße (O-Straße) ist ein außergewöhnlich bunter Ort. Die Geschäfte, Boutiquen, Cafés, Kneipen, Restaurants, Clubs, Imbisse - hier gibt es alles. SO 36, Franken, Die Rote Harfe, Roses, Schabelber, Bateau Ivre. Und ein Schritt weiter an der Wienerstraße, die eine Verlängerung der O-Straße ist, lockt uns Morena, Madonna, Wild at Heart, Wiener Blut, Hannibal und der polnische Klub Kopernik. An allen diesen Orten kann man auch die Antwort finden, warum gerade Kreuzberg? Das besonders Gute an Kreuzberg ist, dass es hier zwischen Tag und Nacht eigentlich gar keinen Unterschied gibt. Ich ziehe in den Ostteil um. Der Bezirk, wo ich jetzt leben kann, das ist Mitte. Eine herrliche Terasse auf dem Dach mit einem Blick auf den Fernsehturm, das ist die Erfüllung meiner Träume. Dieses Berlin-Symbol war schon immer mein liebstes. Der tägliche Anblick des Fernsehturms überzeugte mich, dass ich in Berlin wohne. Mitte, das ist das kulturelle Zentrum, viele Institutionen, an denen man nicht vorbeigehen kann. Galerien, Bühnen, Theater, Kinos, Ateliers, Klubs, Bars. Jeder findet hier etwas für sich. Unbestreitbar zeugt davon der Name eines der Cafés: „Zosch“ (polnisch Coś = Etwas). Aber Mitte ist auch das politische Zentrum des Staates. Hier befinden sich verschiedene Ministerien und Bundesbehörden. Mitte, das ist auch der Alexanderplatz - durch die Berliner freundlich als Alex bezeichnet. Wenn ich hier stehe, habe ich den Eindruck, dass ich wirklich in Berlin bin. Ich unterstreiche das, weil ich in dieser großen Stadt nur zwei Orte gefunden habe, wo ich mich wirklich wie in Berlin fühlte, der eine war der Alex und der zweite der Kudamm. Alex und Kudamm, das sind Gegensätze. Der Alex mit der Weltzeituhr und mit sozialistischer Architektur ist ein Ort, wo die Zeit stehen geblieben ist. Der Kudamm mit der Gedächtniskirche ist ein nobler Stadtteil mit exklusiven Geschäften, wo die Zeit sehr schnell fließt. Ein ganz anderes Berlin kann man in Marzahn und in Hellersdorf sehen. Nicht anspruchsvoller Aufbau, niedrige vieretagige Wohnblocks und ein bisschen höhere Himmelkratzer, viel Grün und schon ähnlich einer der Krakauer Siedlungen. Wenn wir noch weiter nach Osten fahren, landen wir in Köpenick. Das ist noch Berlin, aber wie anders. Das ist wie ein kleines Städtchen mit kleinen Häuschen, mit eigenem Marktplatz, altem Rathaus und schönem Schloss. Und der hinreißende Müggelsee, worüber auch Marlene Dietrich gesungen hat. Köpenick scheint mir eine selbstausreichende Stadt zu sein, komischer Weise von Berlin annektiert. Berlin als kulturelle Metropole bietet auch verschiedene Veranstaltungen. Alles in Berlin sehen, was die Stadt anbietet, ist natürlich unmöglich. Aus zahlreichen Angeboten habe ich ein paar gewählt. Das, was ich gesehen habe, war wirklich imposant. Kreuzberger Karneval der Kulturen, Christopher Street Day, Love Pa-rade, Yong Euro Classic, Europäischer Musiksommer Berlin, Hotel Adlon - eines der elegantesten Hotels der Stadt, Kreuzberger Nächte, Bierfestival, Museums Insel Festival, All Nationes Festival, Tag der offenen Tür in Botschaften, Kinderkarneval der Kulturen, Friedrichstadtpalast - das modernste Reviertheater in Europa, Varieté Wintergarten, Unitet Space Parade. Ich habe Berlin gezähmt. In der Zähmungszeit habe ich sehr viel erlebt, viel erfahren und viel gelernt. Ich muss sagen, dass ich in relativ kurzer Zeit eine angenehme Zahl ebenso angenehmer Zeitgenossen kennen gelernt habe. Jetzt weiß ich, dass Kreuzberg keine türkische Enklave ist. Ich kenne den Unterschied zwischen Pfannkuchen und Berliner. Ich weiß, was Berliner Weiße ist und wo man bis zum Morgengrauen nicht trinken sollte. Ich weiß auch, dass, wenn ich denn will, ich in einem der Berliner Cafés sogar bis 16 Uhr frühstücken kann. Ich bin an das Berliner Leben gewöhnt und ich weiß, dass, solange die Spree noch durch Berlin fließt, mich diese Stadt immer locken wird. Und obwohl mein Koffer nicht mehr in Berlin ist, werde ich ihn gerne packen, um ihn dorthin zu bringen. Nach Krakau habe ich etwas Berliner Luft mitgenommen. Marlene sang, Berliner Luft ist auch ganz fein. Auf meinem Regal steht also eine Dose mit Berliner Luft. Sie kann ich nun immer genießen. Und ich möchte meine Momentaufnahme zu sechs Monaten in Berlin damit schließen und allen, die sich an mich erinnern, ein Hallo und Tschüs und Auf Wiedersehen entgegenschicken.              m