Krieg, Hass, Fundamentalismus

Der lange Widerhall der Trommel

Von Halina Bortnowska

 

Im Winter des Jahres 1943 oder 1944, also vor fast 60 Jahren, stand ein kleines Mädchen am Fenster seiner Klasse in einem Schulgebäude, das teilweise in ein deutsches Kriegslazarett umfunktioniert worden war. Gerade kam ein weiterer Transport mit Verwundeten von der Ostfront. Auf den Tragen lagen menschliche Rümpfe – ohne Beine, ohne Arme, manchmal ohne Gesicht, den Kopf wie eine Mumie verbunden: Opfer von Explosionen und schrecklichen Erfrierungen. Das Mädchen zählte die Köpfe und informierte mit Genugtuung ihre Kolleginnen, dass heute sehr viele Leute gebracht worden sind, die ganz sicher nicht überleben werden.

 

Ich verstehe dieses Mädchen. Dieses Mädchen war ich.

Entmenschlichter Schmerz

Auf meinem täglichen Schulweg in Warschau-Ochota kam ich an zwei Stellen vorbei, an denen die Deutschen kurz vorher Geiseln, die sie bei einer Razzia gefangen genommen hatten, erschossen haben. Die Salve einer der Exekutionen hörte ich einmal selbst. Aber bereits früher, seit Beginn des Krieges, war ich überzeugt, dass die Deutschen als Deutsche im Allgemeinen aufhörten, Menschen zu sein. Sie bewegen sich auf unseren Straßen, wohnen in Häusern, die uns gehörten, aber sie sind keine menschlichen Personen, nur feindliche Wesen, die man vertreiben, noch besser gleich umbringen muss. Ich hatte solche Erklärungen nicht in Wort und Schrift vor mir, niemand hat es mir so gesagt, das war nicht nötig, das war offensichtlich, ähnlich der Tatsache, dass der Kampf gegen die Deutschen die einfachste Pflicht, Ehre und Existenzberechtigung sei. Mein Traum war es, dass ich möglichst schnell zum Kampf heranwuchs. (…)

Wenn ich die Gefühle meiner Kindheit verstehe, muss ich auch die palästinensischen Kinder verstehen, die bei der Nachricht über das New-Yorker Feuer tatsächlich vor Freude tanzten, wenn sie sich freuen und stolz auf jeden gelungenen Anschlag sind.

Woher kam damals diese schreckliche Freude beim Zählen der verunstalteten Körper? Wie war das möglich? Ich war doch ein sensibles Mädchen. Die einzige mir bekannte Antwort lautet: Genau das ist Hass. Und man muss selbst im Jahre 2003 nicht erklären, woher der Hass auf die Deutschen bei einem Warschauer Kind in den vierziger Jahren kam.

Hass reicht aus, um menschliches Empfinden zu entmenschlichen, hauptsächlich dann, wenn man es von Weitem durch die Scheiben oder im Fernsehen sieht. Je näher einem die Menschen sind, denen man Schmerz und Tod zufügen will, desto mehr Hass ist nötig, der die Menschlichkeit übertüncht.

Hass ist die Antwort auf ein Schicksal, das nicht annehmbar ist oder nicht annehmbar erscheint. Zuerst kommt die Kraft des Protestes, man nimmt das Los nicht an, die Kraft zum Widerstand, um es nicht zu einer Niederlage kommen zu lassen, Schläge zu parieren, sich und andere vor ihnen zu schützen, und zu siegen durch die notwendige Verteidigung. Das ist eine hervorragende Kraft. Aber bei Kraftlosigkeit degeneriert sie.

Die letzte Station auf der Entwicklung zum Hass ist der Selbstmord-Terrorismus, eine Schreckliche Verkehrung, wo man als Opfer sein Leben gegen das Leben anderer einsetzt. Ein Lebensopfer, um den Tod zu bringen. Der Selbstmord-Terrorist stirbt nicht als Soldat. Er macht sich selbst zum Teil des Geschosses, das töten soll.

Ratlosigkeit und Erfahrung

Hass als Krebsgeschwür hat viele Bedingungen zur Entstehung. Ich selbst war als Kind äußerst anfällig für den Hass. Den Warschauer Aufstand, die Verschleppung nach Deutschland, die schlimmsten Dinge erlebte ich bereits verändert. Die folgende Zeit, die Jahre direkt nach dem Krieg, waren auch reich an Leid, wachsender Bitterkeit und Empörung, aber doch nicht so entmenschlichend wie dieser Hass.

Am Stärksten erlebte ich Hass, als ich am ratlosesten war. Ist es vielleicht so, dass völlig ratlose Menschen am meisten hassen? Und wenn sich dann endlich eine Möglichkeit eröffnet, dass sie dann blind gegenüber ihrer Grausamkeit sind?

Neben der Ratlosigkeit sehe ich bei meinem kindlichen Hass noch einen wichtigen Faktor: einfaches Denken und eine beschränkte Erfahrung auf die „eigene“ Welt. „Deutsche sind Deutsche“, ich wusste nichts über sie. Sie kamen als Besatzer gerade zu der Zeit, als ich die erste Chance hatte, ihre Sprache und eine lebende Per-son etwas kennen zu lernen. Im Frühling 1939 sollte ich eine neue Erzieherin, eine Deutsche, bekommen. Sie wurde nach einem Tag aus Sicherheitsgründen entlassen, denn als Ausländerin war sie im Hause eines höheren Offiziers unerwünscht.

Ein Kind benötigt den direkten Kontakt, um sein natürliches Denken in Kategorien und Stereotypen zu durchbrechen oder sich zu mindestens von der Existenz von Ausnahmen zu überzeugen (...)

Eine reichere Erfahrung sollte zum Schutz vor Hass führen. So geschah es bei mir später. Wichtig ist auch, dass man eine Person ist, die sich im positiven Sinne an Erfahrungen andere bereichert. „Ihr habt für mich sehr viel getan“, will ich heute noch den Deutschen sagen, die mir halfen, den Hass zu überwinden und generell ihm gegenüber gefeit zu sein.

Brot über Stacheldraht

Es lohnt sich an der Erweiterung des Horizonts seiner Mitmenschen zu arbeiten, hauptsächlich dann, wenn sie von Leid betroffen sind. Leider ist diese Art von Hil-feversuchen, Trost oder Wiedergutmachung oft fruchtlos. Wenn sich der Hass erst einmal eingepflanzt  und ausgebreitet hat, ist es schwierig zu sehen, dass der, der sich nähert, möglicherweise kein Feind ist, obwohl er von dieser verfluchten Seite kommt und in dieser ekligen Sprache spricht. Bei der Durchbrechung des Hass-reflexes benötigt man irgendein Wunder.

Während des Warschauer Aufstandes kamen wir mit der Familie nach Deutschland, zum Schluss in ein Lager für Arbeitsunfähige in Brzeg an der Oder. Es bestand aus einer von einem doppelten Zaun umgebenen Bracke auf einem Schrebergartengelände. Der Oktober war sonnig. Wir saßen an der Wand dieser Baracke und hinter dem Zaun waren Deutsche, Alte und Kinder, die die letzten Erntereste aufsammelten. Sie bemühten sich, nicht zu uns zu sehen, aber manchmal schauten sie doch in unsere Richtung. So ging es lange. Bis einer von ihnen sich angstvoll umschaute und uns heimlich über den Zaun eine Zwiebel, einen Apfel und ein in Papier eingewickeltes Stück Brot zu warf. Der erste Spender fand schnell Nachfolger.

Diese Gaben waren für uns Schätze. Zuerst hoben wir sie zögerlich auf, dann mit einer Geste des Einverständnisses, des Dankes. Irgendjemand knurrte: „Sie werfen uns etwas zu wie Tieren hinter Gittern.“ Aber so war es nicht gemeint. Woher wusste ich, dass es nicht so gemeint war? Ich wusste es einfach. Es war, als ob sich ein Vorhang heben würde, als ob mir jemand für einen kurzen Moment die Augen öffnete. Das musste auf mich gewirkt haben, ähnlich wie einige andere Ereignisse während des Aufenthaltes in Deutschland - das Zustecken einer Lebensmittelkarte, der Fingerhut Milch, der zum bitteren Ersatzkaffee gegeben wurde, würdige Sitzplätze in Kirchenbänken für uns - die schmutzigen, verlausten und zerlumpten Glaubens-genossen.

Die Behandlung des Hasses

Alle Menschen müssen gegen den Hass geimpft werden. Hass verschwindet nicht auf natürliche Weise. Er wird sowohl offen wie auch versteckt in verschiedenen Laboratorien gezüchtet und ist für politische Manipulationen, um Krieg zu akzeptieren, notwendig, für jeglichen Krieg, auch den, der angeblich ohne „eigene Verluste“ geführt werden kann.

Meine frühen Erinnerungen suggerieren eine bestimmte natürliche Weise, gegen den Hass widerstandsfähig zu werden. Sie zeigen auch, welche Ereignisse helfen, uns vom Hass zu befreien.

Zum Wachsen der Widerstandsfähigkeit tragen die Menschen bei, die anderen unabhängig von vorhandenen Grenzen und Frontlinien helfen: Ärzte ohne Grenzen, Teilnehmer an humanitären Aktionen. Aber wichtig sind auch die normalen Menschen, die, das Leid anderer sehend, so reagieren, als wäre irgendeiner „von ihnen“, jemand „ihnen nahestehender“ betroffen, und die nicht darüber nachdenken, dass es „unser Gegner sein könnte“, irgendjemand, der ein Feind war oder wieder sein könnte. Samariterähnliche Reakti-onen scheinen etwas Natürliches zu sein. Manchmal fordert sie das Gesetz (z.B. bei der Erteilung ärztlicher Hilfe von Verletzten der gegnerischen Seite). Aber oft sind sie stark blockiert, nicht nur aus Angst oder irgendeine Entmündigung des Individuums, ratlos und kraftlos, unfähig zu handeln entgegen der allgemeinen Ohnmacht oder Gleichgültigkeit. Das, was vor unseren Augen und auf dem Bildschirm des Fernsehers geschieht, dringt vielleicht nicht in das Bewusstsein.

Das sind zwar alles bekannte Dinge, doch im Allgemeinen wird die Bedeutung der Hindernisse unterschätzt, die gegen den Drang zum guten Willen aktiv sind.

Das Schlechte ausmerzen?

Die Erlebnisse meiner Kindheit schieben noch einen anderen Gedanken in den Vordergrund: den Zusammenhang von Hass und Mangel an Reife sowie eine bestimmte Primitivität des Denkens. Es geht mir hier nicht um die Verbindung von Stereotypen oder um einen Erfahrungsmangel. Bei den Leuten, die Hass zeigen, beobachte ich noch etwas anderes, tiefergehenderes. Das hängt mit der Empfänglichkeit für das Kriegstrommeln zusammen, über das neulich Ryszard Kapuścińs-ki sprach. Das Trommeln ruft zur Ausrottung des Bösen auf, zum Krieg gegen den Terrorismus, den man aus der Welt ausmerzen muss. Diesem Krieg schließt sich Putin sehr konkret und wörtlich auf dem heimischen Schlachtfeld an; auf verschiedene Weise erklären sich andere Verbündete, darunter auch Polen.

Das Trommeln ist heue mit der Hoffnung verbunden, dass man durch militärische Gewalt und der Ausgabe von viel Geld den Terrorismus ausrotten, mindestens aber ihn außerhalb des eigenen Horizonts verbannen kann. Selbstverständlich kann man Hussein die Waffen entreißen, kann man den widerlichen Diktator töten. Ich bekenne: Ich will den Krieg nicht, mindestens solange nicht, solange man weiter die todbringenden Waffen des Hussein-Regimes suchen kann und die Hand paralysieren kann, die nach ihnen greifen könnte. (...) Das ist sicherer. Denn es ist wahrscheinlich, dass die Waffen, die man nicht findet, wenn sie denn existieren, im Falle eines Krieges explodieren.

Aber davon auszugehen, dass ein Sieg über Hussein den Terrorismus eliminiert, ist so, als ob man nicht davon ausginge, dass sich sofort an Stelle des einen Rauschgiftdealers einige andere fänden. Das ist so offensichtlich, dass ich argzuwöhnen beginne, dass die Recht haben, die behaupten, dass es im Krieg gegen den Irak um etwas anderes geht.

Nur ein Fundamentalismus erlaubt, an das „Ausmerzen des Bösen“ zu glauben. Das ist u.a. deshalb so schrecklich, weil es sich auf die Opfer überträgt. Es ist manchmal sehr schwierig herauszufinden, wo etwas begann, wo der Ursprung war, manchmal liegt das lange zurück. Was jetzt passiert, ist es nur das Echo? Wo war die Ursünde?

Jede Religion hat ihren Fundamentalismus. (...) Fehlt die Religion, wächst der Fundamentalismus aus der erstbesten Ideologie. Es gibt einen Fundamentalismus, der will das Böse mit Stumpf und Stil ausrotten. Er kann religiös oder weltlich, ja sogar antireligiös sein wie er es in einem bestimmten Zeitraum auf Kuba oder in Mexiko während der Revolution war (...). Überraschend leicht kommt man gerade dann dazu, wenn sich die entsprechende Ideologie als weltlich und gestützt auf wissenschaftliche Grundlagen präsentiert.

Die Trommeln spielen mit der fundamentalistischen Vision des WIR gegen SIE zusammen, sie mobilisieren. Kapuściński möchte den Trommlern eine Debatte entgegenstellen, die nach dem 11. September 2001 begann. Ich meine, diese Debatte muss u.a. die Logik des Fundamentalismus aufdecken. Das könnte die Diskussion in eine persönliche Sphäre eindringen lassen und so hauptsächlich die Jugendlichen interessieren, die eine eigene Identität suchen.

Gefährliche Videoclips

Es lohnt sich zu überlegen, was beim menschlichen Denken und der Vorstellung über die Welt den Terrorismus begünstigen kann, aber auch die Reaktionen auf den Terrorismus, die zu einer neuen schlimmen Welle führen. Als solche Faktoren erweisen sich die Relikte des Fundamentalismus, die nur oberflächlich gesehen kritisches und pragmatisches Denken darstellen. Man muss bei sich Bilder suchen, die das, was kompliziert und überhaupt nicht eindeutig ist, glätten. So wird z.B. Hussein als schrecklicher Diktator mit Atomgeschossen in einem Faltengewand dargestellt. Der Krieg wird so zum Umsturz einer Puppe und der Entschärfung ihres monströsen Spielzeugs.

Dieses Bild hat einen wahren Kern, die irakische Diktatur ist gefährlich, der Führer ist persönlich vielleicht ein Ekel. Aber Krieg, dieses große technische Unterfan-gen, zielt nur mittelbar auf ihn. Das ist ein vereinfachtes Bild.

Es ist schade, dass wir uns im Allgemeinen die Wirkung dieser Bilder nicht bewusst machen. Wir lassen es zu, dass über unsere Reaktionen und Entschlüsse ein Comic-strip, das in unser Bewusstsein eingedrungen ist, entscheidet. Es gibt ein großes Repertoire solcher Videoclips. Sie alle operieren auf Grund der selben Technik, um Entscheidungen zu erleichtern. Das Schlechte hat immer einen konkreten Akteur, eine klare Ursache, die Ergebnisse des Handelns entsprechen genau der Absicht derjenigen, die es durchführen. Und wenn irgendjemand sagt, dass seine blumigen Worte das bedeuten, was ich verstehe, dann muss das jeder so verstehen. In solch einer Welt kann man bequem leben. Die Medaille hat nur eine Seite. Unsicherheit ist ausgeschlossen. Wir müssen nicht auf Grund einer Hypothese oder im Bewusstsein eines Fehlerrisikos handeln. (...)

Und Europa? Warum wägt es so anders, so viel vorsichtiger das Für und Wider der Aktion ab? Weil es näher am Ort des Geschehens ist? Weil es sich doch besser (...) an die unseligen Kreuzzüge (...) erinnert? Weil sich die Kriegstrommeln nicht mit der „Ode an die Freunde“ vertragen, dem großen Traum der Gründer der Union?

Das ist eine weitere Reihe von Bildern, auch nicht ohne Vereinfachungen, aber bereichernd für das innere Repertoire.

*

Es ist wieder Winter. Einer der ersten Tage nach Neujahr 2003. Eine alte Frau schaut auf das zugefrorene Fenster. Es ist ruhig. (...)

Ich schalte das Radio ein. Man hört eine Mischung aus Musik und Wortbeiträgen. Plötzlich, als ob sie neben einem zu hören wäre, erklingt die eindringliche Stimme von Präsident Bush: „We’ll win because ... the finest military in the world“. Dann Applaus und ein Chor junger Stimmen: „Hurray, Hurray“. [Beides im Original in Englisch - d. Übersetzer]. Die jungen Offiziere glauben bestimmt, dass sie einen effektiven „Krieg ohne eigene Verluste“ führen können.

In mir wirkt das Serum gegen den Hass. Es gibt keinen Krieg ohne Verluste. Und jeder Verlust ist ein eigener, denn er ist ein menschlicher, erlitten auf dem gemeinsamen Planeten.                                                                                                                                                                                                                         m

Daleki odgłos werbli, Wojna, nienawiœæ, fundamentalizm, Tygodnik Powszechny Nr. 4 vom 26. Januar 2003; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum