Von Friedrich Leidinger und Holger Politt
Warschau, im Januar: Włodzimierz Cimoszewicz, der Außenminister
Polens erklärt im Sejm, er schließe eine militärische Aktion an der Seite der
USA auch ohne ein ausdrückliches UN-Mandat nicht aus; Polen sei zum aktiven
Kampf gegen den Irak bereit. Eine Woche später gehört Polens Premier Leszek
Miller zu den 8 europäischen Regierungschefs, die in einer spektakulären
Zeitungsannonce die USA ihrer Solidarität versichern. Und am selben Tage kann
man das Dementi lesen: Nein, Polens Präsident Aleksander Kwaśniewski wolle
keineswegs Nachfolger des scheidenden NATO-Generalsekretärs Robertson werden.
Obwohl auch die Mehrheit der
polnischen Bevölkerung eindeutig gegen eine Beteiligung an einer bewaffneten
Auseinandersetzung im Irak ist (s. Kasten) stellte sich die Regierung gerade in
diesem Zusammenhang als treuester Verbündeter der USA in Europa dar und
inspirierte den amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zu seiner
Unterscheidung zwischen dem „alten“ und dem „neuen Europa“.
Noch vor wenigen Jahren waren die Machtverhältnisse in
Europa übersichtlich geordnet – Ost und West standen sich bis an die Zähne
bewaffnet gegenüber. Dann nagte die Entspannungspolitik an den Blöcken der
europäischen Nachkriegsordnung, und der politische Umbruch in Polen, Ungarn,
Tschechoslowakei und DDR überwand schließlich die Teilung des Kontinents. Der
jugoslawische Bürgerkrieg mit seinen Hunderttausenden von Opfern erschien vor
dem Lauf der Geschichte als atavistische Stammesfehde, die keinesfalls die
europäische Einigung in Frage stellte, vielmehr im Gegenteil die Notwendigkeit
und Schlüssigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik
demonstrierte. Die „Osterweiterung“ Europas, die sich durch die Eingliederung
der Gebiete der ehemaligen DDR in das NATO-Gebiet programmatisch ankündigte,
führte die westlichen Staaten des ehemaligen RGW in die NATO und anschließend
in die EU. Zu der Idee eines politisch, wirtschaftlich und sozial geeinten
Europa schien es keine Alternative zu geben, und das durch die Vereinigung von
BRD und DDR nach Osten gerückte Deutschland galt als wichtigster Fürsprecher
der Interessen der EU-Neulinge – allen voran Polen - gegenüber den
Mittelmeeranliegern und insbesondere Frankreich.
Mit dem Konflikt zwischen den
„neuen“ und „alten“ Europäern, der sich an ihrer Haltung in der Irak-Frage
entzündet hat, ist das Projekt einer gemeinsamen europäischen Außen- und
Sicherheitspolitik bis auf weiteres gescheitert. Ganz offenkundig geht es in
dieser Sache um mehr als um einen Krieg gegen Bagdad.
Betrachten wir zunächst die
vordergründige Konfliktebene: Die Haltung der USA gegenüber in Jahrhunderten
gewachsenen völkerrechtlichen Normen ist erschreck-
end. Hier wird ein
zivilisatorischer Grundsatz, für den die USA noch vor 60 Jahren in den Krieg
gegen Deutschland gezogen sind, aufgegeben. Die Position der Bundesregierung, bei
der Vorbereitung eines völkerrechtlich verbotenen Angriffskrieges ihre
Mitwirkung zu versagen, ist von der UN-Charta und vom Grundgesetz geboten und
alternativlos. Daran ändert auch nichts, dass die Politik der Bundesregierung
handwerklich ungeschickt und weniger rational begründet als vielmehr
populistisch legitimiert erscheint, und dass sie sich wenigstens zum Teil
antiamerikanischer Ressentiments bedient. So ist Donald Rumsfelds Vergleich der
BRD mit Kuba und Libyen nicht ohne Hintersinn formuliert. (Jenseits des
Atlantik wird man sich des einen oder anderen Bush-Hitler-Vergleichs
ausgerechnet von Vertretern eines Landes, das seiner Verantwortung für die
Schulden eines „Tausendjährigen Reichs“ reichlich spät und erst nach kräftigem
Nachdruck amerikanischer Anwälte und Aktiengesellschaften nachgekommen ist,
noch länger erinnern.)
Die kritische Zurückhaltung der
Bundesregierung vor einer Militäraktion als Ultima Ratio hätten wir uns nicht
nur im Falle eines Saddam Hussein, sondern auch im Falle eines Slobodan
Milosevic gewünscht, zumal der serbische Präsident im Unterschied zum
irakischen Diktator keine Giftgasangriffe gegen politisch unbotmäßige
Landsleute geführt hat. Und es erscheint fragwürdig, dass Deutschland sich
einerseits auf legalistische Prinzipien des Völkerrechts beruft, andererseits
aber erklärt, selbst im Falle einer erneuten Resolution des Sicherheitsrates
keinen Grund zum militärischen Handeln zu sehen. Hier zeichnet sich ein
seltsames Prinzip von Gewaltlosigkeit ab, wonach Gewalt nur zur Rettung
vermeintlich Unschuldiger – die im Irakkonflikt nicht prima vista zu erkennen
sind – legitimiert ist. Auch entbehrt es nicht einer gewissen Delikatesse, dass
neben Frankreich, das in seinen afrikanischen Ex-Kolonien nicht gerade für
militärische Abstinenz bekannt ist, der im Tschetschenien-Konflikt eigentlich
keinen praktikablen Ausweg aus der militärischen Logik weisende russische
Präsident Putin als Garant der von Berlin ausgehenden Friedensmission herhalten
soll. Doch trotz aller Einwände und auch wenn sie die Antwort auf die Frage,
wie die Waffen, die auch mit Wissen und Erlaubnis deutscher Behörden in den
Irak geliefert worden sind, wieder eingesammelt werden sollen, schuldig bleibt,
ist doch die klare Haltung der Bundesregierung gegen einen Krieg richtig.
Demgegenüber erscheint die
Haltung der polnischen Regierung besonders dramatisch. Zwar pflegt Polen im
Vergleich zu Deutschland eine völlig andere Tradition des Militärischen - die
polnische Armee gilt aus guten Gründen als eine nationale Befreiungsarmee und
pazifistische Ideen waren östlich der Oder aus nahe liegenden Gründen nie
besonders populär. Bemerkenswert aber ist, dass die polnische Regierung - trotz
der angeblich noch vor kurzem exzellenten Beziehungen zwischen Berlin und
Warschau - noch nicht einmal das Bemühen erkennen lässt, den Dissens mit
Deutschland zu dissimulieren oder herab zu spielen, sondern ihn im Gegenteil
kräftig betont. Die Dinge stehen in einem umgekehrten Zusammenhang zueinander:
Das Verhältnis Polen-USA erscheint umso strahlender, als die deutsch-polnischen
Beziehungen kümmern.
Darüber darf sich nur wundern,
wer die von Berlin und Warschau in den vergangenen Jahren aus unterschiedlichen
Gründen verbreitete Harmoniepropaganda für die alleinige Wahrheit gehalten hat.
Tatsächlich besteht bei allen Fortschritten auf gesellschaftlicher Ebene –
natürlich haben die seit Anfang der 1990er Jahre auch von staatlicher Seite
geförderten Begegnungen und Kooperationen in zahlreichen kulturellen, sozialen
und wirtschaftlichen Feldern eine neue Wirklichkeit geschaffen - eine ziemliche
Inkongruenz der polnischen und deutschen Interessen in Zusammenhang mit dem
Beitritt Polens zur EU.
An der Weichsel hat sich das
politische Klima spürbar gewandelt: Im November und Dezember gab es in den
polnischen Medien kein wichtigeres Thema als die Beitrittsverhandlungen und den
anvisierten EU-Beitritt. Dementsprechend wurde häufig genug auf die
verlässliche Zusammenarbeit mit den beiden mit Abstand wichtigsten
Wirtschaftspartnern des Landes – mit Frankreich und Deutschland – verwiesen.
Seit Januar hat sich ein eindeutiger Schwenk vollzogen. Mitunter kann man den
Eindruck gewinnen, Polen werde sich 2004 nicht der EU sondern den Vereinigten
Staaten anschließen. Den Auftakt bildete das in Teilen der polnischen Öffentlichkeit
nach wie vor umstrittene Geschäft mit den US-Kampfflugzeugen. In diesem Zusammenhang
vor allem stehen die Besuche des Präsidenten und Ministerpräsidenten in den
USA. Jeder politische Beobachter in Warschau weiß nur zu gut, dass das
versprochene finanzielle Rahmenpaket um jeden Preis kommen muss, sonst
verlieren mindestens zwei prominente politische Köpfe ihre Reputation.
Auf der Suche nach Hintergründen
für dieses merkwürdige Erkalten der polnischen Gefühle für die europäische Integration
fällt einem auf, dass genau jene Bereiche, auf die die meisten
EU-Gesellschaften zu Recht stolz sein dürften (soziale Sicherheit,
Verbraucherschutz, Umweltschutz, Gesundheitsschutz etc.), in Polen teilweise
sträflich vernachlässigt werden. Viele Überlegungen zu einer Wirtschafts- und
Sozialreform in Polen, die bis in die 1970er Jahre des vorigen Jahrhunderts
zurück reichen, orientieren sich kaum an „sozialdemokratischen“ Vorstellungen
Westeuropas, wie sie mehr oder weniger in allen EU-Staaten die Wirklichkeit
bestimmen. Vielmehr sind es Staaten wie Südkorea oder Brasilien, die die
Phantasie vieler Funktionseliten in Wirtschaft und Politik beflügelt haben. Der
in Warschau auch von einer „sozialdemokratischen“ Regierung vertretene liberale
Kurs in der Sozialpolitik würde wohl in Washington mehr Anhänger finden, als in
Berlin, Brüssel oder Paris.
Der Abstand zum EU-Standard ist
seit Amtsantritt der jetzigen – linken - Regierung nicht nur nicht kleiner
geworden, er hat sich spürbar vergrößert. Nach einem Beitritt würden Polen mit
Sicherheit aus Brüssel einige ernste Fragen zu seiner Gesundheits-, Umwelt-,
Bildungs- und Sozialpolitik vorgelegt. Doch davon ist in der politischen
Öffentlichkeit und in den Medien kaum noch die Rede. Zwar werden einzelne Missstände
an den Pranger gestellt, aber alles folgt weiterhin deiner Logik, nach der es
für das Land wichtigere Dinge gebe. Zu einem solchen wichtigeren Ding ist aus
polnischer Sicht der Konflikt USA-Irak geworden.
Just zum Zeitpunkt, wo es an der
Zeit wäre, den Dingen des alltäglichen Lebens einer modernen europäischen
Gesellschaft tatsächlich auf den Grund zu gehen, wird eine außenpolitische
Karte gespielt, die dem Land erkennbar keinerlei Nutzen bringen wird. Im
Gegenteil: es werden unnötige patriotische Gefühle mobilisiert und merklich vor
einer Situation gewarnt vor einer Lage, in der Deutschland und Russland sich
wieder einmal verständigen könnten, ohne dass Polen auch nur ansatzweise
gefragt wäre. Fast scheint es, als bestätige die offizielle polnische Haltung
die Warnungen eines Roman Dmowski. Dieser nationalkonservative Politiker hat
vor 100 Jahren zwar viel Unheilvolles in den politischen Alltag Polens
einbringen können. Dennoch ist ihm ein geradezu genialer Instinkt für die
komplizierte Interessenlage des Landes zwischen Russland und Deutschland nicht
abzusprechen. Seine Empfehlung an die politische Klasse: Die Hauptaufgabe der
Politik des Landes müsse darin bestehen, die eigenen Interessen geschickt und
nachhaltig vor allem gegenüber dem übergroßen Nachbarn im Westen zu
positionieren. Tue sie das nicht, laufe sie Gefahr, ein Opfer der Schimären des
eigenen politischen Romantizismus zu werden.
Seit einigen Jahren hat Polen
schon im Vorgriff auf den EU-Beitritt die Außensicherung der Ostgrenze der
Gemeinschaft gegen eindringende Flüchtlinge übernommen. Ein großer Teil der
Polizeiarbeit der EU wird an Bug und San verrichtet. Bundesinnenminister Otto
Schily wird nicht müde, die Erfolge der von deutschen Firmen ausgestatteten und
von Deutschen trainierten polnischen Polizei zu loben. Doch diese Grenze trennt
Polen von Gebieten ab, zu denen besondere historische Beziehungen bestehen und
in denen zahlreiche polnisch sprechende Einwohner zu Hause sind, die kulturell
und wirtschaftlich mit Polen eng verbunden geblieben sind. Dass nach dem Ende
der Sowjetunion ausgerechnet hier der Preis für die europäische Integration
durch erneute Abgrenzung zu zahlen ist, fällt vielen Menschen in Polen schwer.
Aus polnischer Sicht muss ein starkes Wirtschaftsgefälle im Osten vermieden,
müssen die Nachbarn wirtschaftlich in die EU integriert werden. Dafür gibt es
allerdings nicht einmal langfristig eine Perspektive. Die zu verarmen drohenden
GUS-Länder sind auf dem besten Wege, sich als Lieferanten billiger Energie,
Rohstoffe und Arbeitskräfte im europäischen Hinterhof dauerhaft ein zu richten.
So könnte Polen Gefahr laufen, im Interesse einer von Berlin dominierten EU ein
wirtschaftlicher, politischer und langfristig auch militärischer Puffer
gegenüber dem Osten zu werden.
Die politische Klasse Polens hat
auch noch ein weiteres verstanden. Jahrelang war Deutschland mit sich selbst
beschäftigt, hatte die alte BRD die ehemalige DDR, die sie sich einverleibt
hatte, zu „verdauen“. Die Regierung Schröder/Fischer hat diese Phase beendigt
und versucht, eine „aktive Rolle“ in Europa und in der Welt zu spielen. Diese
Bemühungen fallen unter den Begriff der Normalisierung; sie sind nicht falsch,
denn eine Sonderrolle Deutschlands hätte in Europa keine Funktion mehr.
Doch folgt daraus automatisch der
Anspruch Deutschlands auf ständige Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat, wie
die politische Klasse Berlins nicht müde wird zu behaupten? Und wie passt eine
Politik der Normalisierung zu der Anmaßung, mit welcher der Bundeskanzler - sich
über die Rechte und Interessen kleinerer EU-Mitglieder hinweg setzend – mit
Frankreichs Präsident Chirac die Richtlinien seiner Europa-Politik verkündet?
Nur ein Beispiel aus jüngerer Zeit war die Ver-ständigung über eine zukünftige
EU-Verfassung unter Umgehung des Verfassungskonvents unter Valérie Giscard
D’Estaing.
Manche Beobachter könnten meinen,
im Gebaren Gerhard Schröders scheine ein arroganter Machtanspruch Deutschlands
gegenüber Nachbarn und Partnern auf, und sie fragen sich, ob hier Linien eines
„deutschen Sonderwegs“ angedeutet sind. Ein deutscher Sonderweg – als darunter
kennt die Geschichte eine politische Entwicklung außerhalb der politischen
Werte von Freiheit, Respekt der zwischenstaatlichen Ordnung und zivilisierter
Umgangsformen im Inneren wie im Äußeren, außerhalb der völkerrechtlichen
Gepflogenheiten und Normen.
Im Lichte eines so sich
andeutenden „deutschen Sonderweges“ würden die kritisierten Mängel der
deutschen Sicherheits- und Außenpolitik weniger als zufällige handwerkliche
Fehler (davon mag es sicher genug geben), sondern vielmehr als Ausdruck der
eigentlichen Sache erscheinen. In diesem Lichte würde die Haltung Berlins zur
Irak-Frage zum Instrument eines Machtkampfes innerhalb der EU und zwischen EU
und den USA werden.
Hier liegt eine der Ursachen für
die Heftigkeit der amerikanischen Kritik an der Bundesregierung. Und hier liegt
auch eine der Ursachen, warum Warschau der Berliner Haltung seine Unterstützung
versagt. Polen vertritt polnische Interessen, und die kollidieren – wie wir
gesehen haben - in einigen wesentlichen Punkten mit den deutschen.
Bei solchen Interessengegensätzen
ist ein Blick in das Binnenverhältnis der Beteiligten aufklärend. Denn die
deutsch-polnische Nachbarschaft ist keineswegs so ungetrübt, wie bei feierlichen
Anlässen gern behauptet wird. Da lagert weiterhin eine Menge historischen
Unrats – Entschädigungsansprüche ehemaliger deutscher Grundeigentümer,
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Stellung der westlichen
Wojewodschaften Polens etc. – die sich unter Umständen zu einer kritischen
Masse verdichten ließe. Polen kann kein sonderliches Interesse haben, die nach
Dominanz strebenden Deutschen durch Gefolgschaft auch noch zu unterstützen.
Daher liegt es auf der Hand, den nach europäischer Unterstützung suchenden USA
als ein verlässlicher und über jeden Zweifel erhabener Bündnispartner gegenüber
zu treten. Eigene Interessen Polens am Persischen Golf kann man getrost
verneinen, aber ein starker Einfluss des transatlantischen Bündnispartners auf
die Dinge in Europa mag nicht nur Polen, sondern auch den anderen Mitgliedern
des „neuen Europa“ am Herzen liegen.
So liefern die Zweifel an der
politischen Zuverlässigkeit Deutschlands den europäischen Nachbarn das
Hauptargument für die Allianz mit den Vereinigten Staaten. Für sie ist diese
Allianz ein Garant gegen eine aus vielerlei Gründen wieder mögliche deutsche
Übermacht in Mitteleuropa. Niemand unterstellt der Bundesrepublik, sie bedrohe
aktuell die Sicherheit ihrer europäischen Nachbarn. Aber Zweifel sind nicht
gänzlich ausgeräumt; Zweifel, die den Wunsch der östlichen Nachbarn nach einer
Sicherheitsgarantie auch vor Deutschland begründen, Zweifel, für die Berlin ein
gerüttelt Maß Verantwortung trägt. m