Unser sehr einfacher Weg

Eine Familiensaga in der Mitte Europas

Von Friedrich Leidinger

 

Als unter dem Geschützlärm des großen Krieges die alte Ordnung, die Ordnung der Unterdrückerstaaten und ausbeuterischen Reiche zusammengebrochen war, als die Kaiser und Fürsten von ihren Thronen vertrieben waren, als das Elend der Massen die Welt bewegte, war die Hoffnung auf eine bessere Welt so groß wie nie zuvor. Eine Zukunft ohne Ausbeutung und Krieg, eine Welt von Wohlstand und Völkerfreundschaft lag den Menschen zum Greifen nahe vor Augen. Und die Große Revolution in Russland wies den Weg, auf dem man in diese Welt gelangen würde. Heute wissen wir, wie die Geschichte weiter ging; dass jener Aufbruch schon den Keim des Scheiterns, der Zerstörung in sich trug. Statt in Freiheit zu erblühen, ernteten die Völker Europas Tyrannei, statt Völkerfreundschaft verfielen sie in Nationalismus und Rassismus, statt Frieden bekamen sie Krieg, statt der Wahrheit die Lüge.

 

Im Zentrum dieses Scheiterns standen Menschen. Sie waren Hand und Herz der Utopie von einer besseren Welt und sie gaben ihr einen Namen und eine Gestalt. Die Brüder Witold und Stefan Leder, der eine geboren 1913, der andere 1919, haben die Geschichte ihrer Familie, einer Familie von revolutionären Kämpfern für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, durch eineinhalb Jahrhunderte europäischer Geschichte erzählt.

Über diese Familiengeschichte der besonderen Art schreibt Witold Leder: „Mein Bruder und ich hatten es am einfachsten. Wir waren in einer Familie aufgewachsen, in der sowohl Vater wie Mutter in der revolutionären Arbeiterbewegung aufs Aktivste engagiert waren. Wir hatten also den Kommunismus buchstäblich mit der Muttermilch eingesogen. Wir wuchsen in der Überzeugung auf, die Welt sei schlecht eingerichtet, Ausbeutung und Unterdrückung seien die Grundübel, welche man bekämpfen müsse und könne, und jeder von uns hätte die Pflicht, sich dafür einzusetzen. Und das war unser sehr einfacher Weg zum Kommunismus.“

Im Mittelpunkt ihrer Familiengeschichte stehen die Biografie und das publizistische Werk von W³adys³aw Feinstein, der später den Namen Leder annahm. Er ist der Vater der beiden Herausgeber, der 1880 als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie in Warschau geboren wurde und 1938 auf dem Transport in ein stalinistisches Lager ums Leben kam. W³adys³aw Feinstein schloss sich als junger Mann der marxistischen Sozialdemokratischen Partei im Königreich Polen und Litauen (SDKPiL) an und wurde 1903 - nach Abbruch seines Studiums - als Journalist und Sekretär für diese Partei hauptamtlich tätig. So wurde er nächster Mitarbeiter und Freund von Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Feliks Dzierżyński, Julian Marchlewski, Adolf Warski und anderen Mitgliedern der Parteileitung. Er heiratete Lilli Hirschfeld, ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammend, aus der zahlreiche revolutionäre Aktivisten hervorgingen. Zu den bekanntesten gehört die ältere Schwester von Lilli, Edda Hirschfeld (1878 – 1952), die mit Jan Tennenbaum (1881 – 1937) einem anderen führenden Funktionär der SDKPiL verheiratet war. Tennenbaum starb 1937 in einem sowjetischen Lager, nachdem er unter haltlosen Anschuldigen verhaftet worden war. Auch Edda Tennenbaum wurde 1937 verhaftet und lebte bis 1946 im Lager in Kasachstan. Schon wenige Monate nach ihrer Freilassung kehrte sie in das kriegszerstörte Warschau zurück und traf dort den deutschen Karl Wloch. Mit ihm und mit weiteren Antifaschisten organisierte sie auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos politische Aufklärung und Erziehungsarbeit für deutsche Kriegsgefangene. Hermann Kant hat ihr dafür in seinem Roman „Der Aufenthalt“ ein literarisches Denkmal gesetzt.

Władysław Feinstein-Leder beschäftigte sich in seinen frühen Schriften mit den Perspektiven für die nach Unabhängigkeit und sozialer Gerechtigkeit strebenden Völkern Mitteleuropas. Der Titel seiner juristischen Dissertation, die er nach 1915 an der Universität Lausanne als Kriegsflüchtling verteidigte, lautete: „La question polonaise au point de vue du droit des gens“ (Die polnische Frage unter dem Aspekt des Völkerrechts). Er beschrieb die Vision eines europäischen Staatenbundes und trat entschieden für eine Vereinigung der linken Arbeiterparteien ein. Innerhalb seiner eigenen Partei kritisierte er autoritäre und antidemokratische Methoden. Nach dem Scheitern der Revolution in Deutschland und Polen 1919 ging Leder mit seiner Familie zunächst nach Moskau, wo er maßgeblich an der Gründung der „Roten Gewerkschaftsinternationale“ im Juli 1921 beteiligt war. Es folgten Wanderjahre durch verschiedene europäische Länder, in denen er in verschiedenen Funktionen der Sache der Arbeiterbewegung dient. Eine Fülle von Publikationen ist in einer umfassenden Bibliografie erstmalig zusammengestellt.

Witold und Stefan Leder nahmen das Erbe ihrer Familie an und verschrieben sich ihrerseits - der eine als Publizist und Übersetzer, der andere als Arzt - einem lebenslangen politischen Engagement. Nach aktiver Teilnahme am Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland in der polnischen Armee arbeitete Witold Leder nach dem Krieg zunächst im Sicherheitsdienst, bis er genauso wie sein Vater 20 Jahre zuvor in den Strudel stalinistischer, antisemitischer Repression geriet. Er überlebte mehrere Jahre im Gefängnis und begann nach seiner Freilassung eine Tätigkeit als Übersetzer und Herausgeber deutschsprachiger Literatur in Polen. Sein Bruder Stefan hat sich nach seiner Zeit als Sanitätsoffizier in der sowjetischen und in der polnischen Armee dem Aufbau einer menschenwürdigen psychiatrischen Ver-sorgung in Polen verschrieben. Nach den verheerenden Zerstörungen des Krieges und den Massenmorden der Deutschen an psychisch Kranken und an dem sie betreuenden Personal war die Lage der psychisch Kranken im Nachkriegspolen erbärmlich. So gingen fachliches und politisches Engagement Hand in Hand.

„Unbeirrbar rot“ ist die Geschichte von Menschen, die sich nicht angepasst haben und für ihre Überzeugungen mit großem persönlichen Mut eingetreten sind. Dafür lernten Sie die Gefängnisse des Zarenreichs, die Lager des GULAG und die Ghettos und Lager der Nazis kennen. Viele von ihnen wurden hingerichtet oder starben an Entbehrungen und Entkräftung. Einige überlebten und gingen unbeirrbar den einmal eingeschlagenen Weg weiter. Sie hinterließen ein umfangreiches Werk von Schriften, von denen einige in diesem Buch versammelt sind. Der Leser findet mehrere Aufsätze von Władysław Leder über die Judenfrage in Russland, die Nationalitätenpolitik Lenins, zu theoretischen Fragen der Arbeiterbewegung, zum Arbeitsrecht und zur Strategie der Gewerkschaften, einen Bericht aus der Feder Edda Tennbaums über ihre Haftzeit im Gefängnis in Łódź und die Deportation nach Sibirien, einen Auszug aus Vera Figners „Nacht über Russland“, das von Lilly Hirschfeld aus dem Russischen übersetzt und erstmalig 1926 im Malik-Verlag erschienen ist, ein Kapitel aus Władysław Leders Biographie über Leo Jogiches-Tyszka, zugleich ein Schlaglicht auf die sozialen und politischen Verhältnisse in Litauen im ausgehenden 19. Jahrhundert, Erinnerungen von Sabina Feinstein-Marczak an ihr Überleben im Warschauer Ghetto und schließlich eine Rede Stefan Leders vor dem Polnischen Psychiatrie-Kongress 2001 über die Zukunft der Versorgung psychisch Kranker in einer von Kommerzialisierung global beherrschten Welt. In allen Beiträgen treffen wir auf eine Sprache, deren Pathos noch echt ist, deren Bilder und Begriffe uns mit ihrer Ernsthaftigkeit unmittelbar anrühren. Die Mitglieder dieser Familien sprachen deutsch und polnisch, russisch und französisch, italienisch und englisch. Sie vermittelten und übersetzten zwischen den Völkern Mitteleuropas - Deutschen, Polen und Russen. Ihr Festhalten an ihren humanistischen Idealen und ihr konsequenter internationalistischer Standpunkt machten sie in den Augen nationalistisch denkender Machthaber und ihrer Diener suspekt. Angesichts der Globalisierung und des gerade in den letzten Jahren in Europa wieder auflebenden völkischen Nationalismus, jener unverwüstlichen politischen Religion, erscheint die Vision der Arbeiter- und Soldatenräte von München bis Petersburg, die aus den Trümmern der Feudalreiche einen Staat jenseits aller Nationalismen entstehen sah, von großer Evidenz. Diese Vision wurde noch in der Volksrepublik Polen öffentlich als schwerer politischer Fehler der Arbeiterparteien, als „Luxemburgismus“ diffamiert; und noch kürzer ist es her, dass ein deutscher Außenminister die Sezession Sloweniens mit dem Argument begrüßte, diese jugoslawische Teilrepublik sei ethnisch relativ homogen.

Die Familiengeschichte der Hirschfelds, Tennenbaums, Feinsteins und Leders erzählt vom Lernen aus der Geschichte und vom Festhalten an der Wahrheit. Sie ist in der von dem Historiker Gerd Kaiser betreuten Edition im Verlag Bodoni-Museum mit nahezu bibliophiler Sorgfalt und Liebe rekonstruiert worden. Es ist den beiden Brüdern Leder zu danken, ihren verstorbenen Vorfahren und Angehörigen dieses literarische Denkmal gesetzt zu haben, das uns Nachgeborenen Ermutigung gibt: Und dennoch, unbeirrbar an der Utopie einer freien, solidarischen und friedlichen Welt festzuhalten.

Unbeirrbar ROT. Zeugen und Zeugnisse einer Familie. Eineinhalb Jahrhunderte Familiensaga. Erzählt und ausgewählt von Stefan und Witold Leder. Herausgegeben von Gerd Kaiser. Edition Bodoni. Berlin 2002. ISBN 3-929390-62-0. Zu bestellen über das Bodoni-Museum. Linienstraße 65, 10119 Berlin. 374 Seiten; 28,00 Euro.                                                                                                                                                                                                                                         m