DOKUMENTATION

 

Polnischer Starrsinn und deutsche Ängste

Von Anna Rubinowicz-Gründler

 

Polen wird in Deutschland als unberechenbares Land wahrgenommen, das zu plötzlichen politischen Kehrtwendungen bereit und übermäßig starrsinnig ist. Viele deutsche Politiker fürchten, dass Polen in der EU ein schwieriger Partner sein wird. (...) Was erwarten die Deutschen vom Beitritt Polens zur Europäischen Union? Als ich deutsche Experten und Politikberater danach fragte, machten sie verwunderte Gesichter, bevor sie ins Nachdenken verfielen: „Jaaa, gute Frage, genau, was erwarten wir eigentlich?“

 

Die strategischen Antworten sind offensichtlich und allgemein anerkannt – wie etwa Friedenssicherung und Stabilisierung in ganz Europa, engere wirtschaftliche Zu-sammenarbeit, die Verschiebung Deutschlands von der Peripherie ins Zentrum der EU sowie die Tatsache, dass Deutschland dann nur von Verbündeten und Partnern umgeben sein wird. Diese Antworten erhellen jedoch nicht, was Deutschland kurzfristig von dem Eintritt Polens in die EU hat, oder was Deutschland dadurch droht.

Der geschichtliche Kontext der Erweiterung ist ununterbrochen im Bewusstsein der deutschen politischen Klasse gegenwärtig: Das Gefühl einer besonderen Verantwortung Polen gegenüber, die aus der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert folgt, der Wunsch, die in Jalta entstandene Ordnung Europas zu überwinden, die Dankbarkeit für die „Solidarność“, die den Weg zur Vereinigung Deutschlands wies. „Deshalb wundere ich mich, dass wir für die Kampagne zur EU-Erwei-terung nicht den Ausspruch Willy Brandts verwenden, der sich auf die Vereinigung Deutschlands bezieht: ´Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört´“, bemerkt Cornelius Ochmann, Experte der Bertelsmann-Stiftung. „Es wissen doch alle, dass ohne Jalta Polen neben Deutschland zu den Gründungsmitgliedern der EWG gehört hätte. Und niemand ist in der Lage, sich eine Erweiterung ohne Polen vorzustellen.“

Aus strategischen und historischen Gründen hat Deutschland die polnischen Europa-Ambitionen früh unterstützt. Ihr Fürsprecher war Kanzler Kohl, der Polen noch vor 2000 in EU und NATO sah. Als verbal zurückhaltenderer, aber in der Praxis effektiver Verbündeter Polens hat sich das Tandem aus Kanzler Gerhard Schröder und Minister Joschka Fischer erwiesen. Trotz ihrer harten Verteidigung nationaler deutscher Interessen (geringere Einzahlungen in die Brüsseler Kasse, Schutz des deutschen Arbeitsmarktes vor dem Zustrom von Arbeitskräften aus den neuen Ländern der EU) haben Schröder und Fischer am entschlossensten von allen Politikern der fünfzehn Mitgliedsstaaten um die schnellstmögliche Erweiterung gekämpft.

In Deutschland wird es kein Problem mit der Ratifizierung des Beitrittsvertrages geben – die Regierung ist sich in der vergangenen Woche über den Entwurf eines Ratifizierungsgesetzes  einig geworden, an dem bereits das Parlament arbeitet; die Bundestagsdebatte darüber wird nach den Ferien stattfinden. Die Abgeordneten von CDU und CSU, die sich mit EU-Angelegenheiten befassen, sind überzeugt, dass der Ratifizierung nicht einmal die Frage der Nachkriegsvertreibungen von Deutschen aus der Tschechoslowakei und Polen im Wege steht.  Diese Problematik ist ihrer Meinung nach noch nicht vollständig gelöst.

Zerbricht die Europäische Union nicht?

Als es am 13. Dezember 2002 in Kopenhagen gelang, die Beitrittsverhandlungen zu beenden, war sich die deutsche Presse überraschend einig. Man schrieb darüber in einem ähnlichen Tonfall wie der Kommentator der „Märkischen Oderzeitung“ aus dem an Polen grenzenden Frankfurt an der Oder: „Dieser Gipfel war für Europa ein historisches Ereignis. Die Erweiterung ist vollbracht. Aber ist sie gelungen?“

Die politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten im Land freuen sich über die Erweiterung der EU, fürchten aber gleichzeitig die Folgen dieses Schritts für den Zusammenhalt der Union. Peter Glotz, bis vor kurzem Vertreter von Kanzler Schröder im Europäischen Verfassungskonvent, sagt es so: Deutschland brauche eine starke, integrierte Union – keine lose Freihandelszone. Die Deutschen haben ein halbes Jahrhundert lang positive Erfahrungen mit einem Bundesstaat gesammelt und ein solches Modell von Europa halten sie für das effektivste und nützlichste für alle. Sie sind ehrlich davon überzeugt, dass ein starkes Europa im Interesse Polens liege, und erwarten von uns ein dementsprechendes Verhalten in Brüssel. „Polen braucht keine Freihandelszone, sondern ein geschlossenes Europa, das auch in finanziellen Fragen solidarisch ist“, ist Kai-Olaf Lang überzeugt, Politologe und Polen-Experte vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit [=Stiftung Wissenschaft und Politik, Anm. d. Übers.] in Berlin, das von der deutschen Regierung als wichtigstes Zentrum für Politikberatung genutzt wird.

Andere Kommentatoren neigen zu der Auffassung, dass den Polen das britische Modell näher liegt als das deutsche – Erweiterung, aber keine Vertiefung der Union. Daraus können schon in Kürze Konflikte zwischen unseren Ländern im Verfassungskonvent und während der Konferenz der Regierungen erwachsen – auch in Zukunft, zum Beispiel bei der Erarbeitung des Budgets für 2007-2013.

Vor allem aber nimmt man Polen an Rhein und Elbe als unberechenbares Land wahr, das zu plötzlichen politischen Kehrtwendungen bereit und übermäßig starrsinnig ist. Während der Beitrittsverhandlungen habe ich sehr oft von deutschen Politikern und Diplomaten leise geäußerte Klagen über den polnischen Starrsinn gehört, den verbissenen und undiplomatischen Kampf um die eigenen Interessen. Viele deutsche Politiker fürchten, dass Polen in der EU ein schwieriger Partner sein wird.

Die Deutschen

waren entgeistert

Einen Vorgeschmack dessen, was sie von den Polen zu erwarten hätten, bekamen die Deutschen während der Verhandlungen über die Landwirtschaft, die Arbeit innerhalb der EU oder den Verkauf von Grund und Boden an Ausländer. Doch das blieb noch in den Grenzen der Normalität. Am Ende kämpft in Brüssel jeder um seine eigenen Interessen, und immer weniger Länder sind dazu bereit, ausschließlich in altruistisch-europäischen Kategorien zu denken. Ein wirklicher Schock kam Ende Januar mit dem Irak-Konflikt.

Als sich zeigte, dass Polen den „Brief der acht“ unterschrieben hatte, waren die Deutschen schlicht und einfach entgeistert. Dass sich unter dem Brief, der zur Unterstützung der US-amerikanischen Politik aufrief, die Unterschriften eines Briten, eines Spaniers oder eines Italieners befanden, hat die Deutschen natürlich etwas irritiert; die Tatsache aber, dass dort die Unterschriften eines Polen, eines Tschechen (und welches Tschechen auch noch?! Die Unterschrift des hochangesehenen Europäers Havel!) sowie anderer mitteleuropäischer Politiker zu sehen waren, hat die Deutschen aus dem Gleichgewicht gebracht. Die proamerikanischen Sympathien der Polen sind seit langem bekannt, aber niemand hatte angenommen, dass Amerika sich für uns als wichtiger erweisen würde als das benachbarte „alte“ Europa, an dessen Schwelle wir gerade stehen. Wie ist das möglich, dass wir noch nicht einmal der EU beigetreten sind, aber schon eine eigene Meinung haben – und dazu noch eine solche, die vom Standpunkt des deutsch-französischen „europäischen Motors“ abweicht? Das Schlimmste in den Augen der Deutschen aber war, dass sich das alles hinter ihrem Rücken abgespielt hatte, dass Premierminister Miller trotz seiner häufigen und vertraulichen Kontakte mit Berlin Kanzler Schröder nicht ein Sterbenswörtchen vom „Brief der acht“ verraten hatte.

In Deutschland hat es niemand gewagt, etwas Ähnliches wie Jacques Chirac zu sagen (dieser hatte festgestellt, dass die Polen eine gute Gelegenheit ausgelassen hätten, den Mund zu halten), doch die Empörung und Enttäuschung über die Haltung Polens waren maßlos. Und diese Empörung und Enttäuschung blieben nicht auf die politischen Eliten beschränkt, sondern erfassten die deutschen Normalbürger. „Haben wir mit der Aufnahme Polens in die EU einen Fehler gemacht?“ fragte den Politologen Lang nach dem „Brief der acht“ ein Journalist aus Sachsen.

Polnischer Größenwahn

Der Irak-Konflikt und die transatlantischen Beziehungen haben sich als wahre Fallstricke für die polnisch-deutschen Beziehungen erwiesen. Nach dem „Brief der acht“ kam der Kauf von Flugzeugen für die polnische Armee, und wieder hat sich Polen für die amerikanische F-16 statt für europäische Angebote entschieden. Auf Unverständnis stieß auch die Einwilligung Polens, die Kontrolle über eine der Besatzungszonen im Irak auszuüben. Ein Teil der Presse hat dies als polnischen Größenwahn und politischen Fehler Warschaus angesehen, das sich, indem es Washington auf den Leim gehe, in Europa marginalisiere. „Ein Land, das die Rolle einer Großmacht von Amerikas Gnaden spielt und in einem solchen Ausmaß seine Rolle in der Welt überschätzt, kann nicht damit rechnen, in der Europäischen Union ernstgenommen zu werden. Es wird eher verdächtig“, so die Schlussfolgerung der „tageszeitung“. Verdächtig, weil es sich von Amerika dazu ausnutzen lässt, die Teilung Europas in „alt“ und „neu“ zu verfestigen, weil es die Absicht hat, aus Brüssel Geld für die Modernisierung seiner Landwirtschaft herauszuziehen, sich gleichzeitig aber Amerika verdingt, schrieb das Münchener Boulevardblatt „Abendzeitung“. Mit einem Wort: Passt auf, Polen, dass ihr nicht der „trojanische Esel“ Amerikas in Europa werdet!

Letztes Beispiel aus der Reihe unnötiger polnisch-deutscher Streitigkeiten war das Durcheinander rund um die polnische Idee, ein polnisch-deutsch-dänisches Korps in den Irak zu schicken. Der Vorschlag, der als Geste der Versöhnung sowohl zwischen Warschau und Berlin als auch zwischen Amerika und Europa gedacht war, vergiftete die Atmosphäre zusätzlich, weil die Deutschen ihn sofort als vermeintlich nicht mit ihnen abgesprochene und absurde Idee ablehnten – absurd deshalb, weil sich das Stettiner Korps nicht für eine solche Operation eigne, wie das deutsche Verteidigungsministerium behauptet. Es ist gleichgültig, ob das stimmt oder nicht – am schlimmsten war die Impulsivität der Reaktion, so als ob alles, was aus Warschau komme, schon aus Prinzip unannehmbar sei.

Das Gipfeltreffen des Weimarer Dreiecks in Breslau hat diesen unnötigen Zwist abgemildert und einen deutsch-französisch-polnischen Konsultationsmechanismus in den wichtigsten Fragen der Europapolitik, darunter auch der Verteidigungspolitik, festgelegt. Doch ist aus dieser Kette von Ereignissen zu ersehen, wie leicht die polnisch-deutschen Beziehungen durch eine unbesonnene Geste oder das Fehlen von Empathie destabilisiert werden können.

Erstens: Loyalität

Kai-Olaf Lang warnt im Gespräch mit der „Gazeta“, dass sich diese Art von Konflikten in nächster Zeit verstärken könne. „In den Neunzigerjahren haben sich beide Länder bemüht, die Barrieren, die auf die gemeinsame schwierige Geschichte zurückzuführen sind, zu überwinden, indem sie die bilateralen Beziehungen auf die europäische Ebene verlagerten“, so Lang. „Nun aber können Konflikte, die aus der internationalen Situation folgen und sich im multilateralen Zusammenhang abspielen, ernsthafte Konsequenzen für die bilateralen polnisch-deutschen Beziehungen haben.“

Bedeutet das, dass Deutschland von Polen Beifall für all seine Initiativen erwartet? Eher nicht, aber die Deutschen verlangen absolute Loyalität gegenüber Europa und zählen sehr darauf, dass Polen sich für eine möglichst enge Integration ausspricht. Sie haben jedoch so eine Vorahnung, dass unser Land schnell die Lust an mühseligen Verhandlungen und Konsultationen mit den europäischen Partnern verlieren könnte. Mit ernstlicher Unruhe erfüllt unsere Nachbarn die Frage, ob eine so riesige Erweiterung wie die gegenwärtige die Europäische Union nicht verwässert. „Polen sollte vorsichtig damit sein, eine Politik der offenen Türen zur EU – zum Beispiel im Hinblick auf die Ukraine – zu forcieren“, so Lang, „denn die Deutschen fürchten, dass sich die EU bereits jetzt über das rechte Maß hinaus vergrößert, wodurch sie von faktischem Zerfall bedroht ist.“

Die größte politische Chance für Polen in der Union und unser tatsächlicher Beitrag zur EU könnte nach Meinung von Cornelius Ochmann ein kluges Konzept für die Ostpolitik der Gemeinschaft sein. Anfang der Neunzigerjahre waren die Deutschen, die mit Russland sehr enge Kontakte unterhalten, beunruhigt, die polnische Ostpolitik werde eine antirussische sein. Heute wissen deutsche Fachleute und Diplomaten das Know-How und die Kontakte der Polen im Osten zu schätzen, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Belarus und Russland. Konkrete Ideen, so wie etwa das von Minister Cimoszewicz [poln. Außenminister, Anm. d. Übers.] vorgeschlagene Projekt einer „östlichen Dimension der EU“, finden hier Anerkennung. (.....)

„Das Schlimmste haben wir vielleicht noch vor uns, wenn sich Polen 2004 tatsächlich in der EU befindet, in Deutschland dagegen wirkliche, schmerzhafte Wirtschaftsreformen beginnen“, warnt Cornelius Ochmann. „Auch wenn die Reformen und sozialen Einschnitte in Deutschland nichts mit der Erweiterung zu tun haben, wird der Durchschnittsdeutsche das alles in einen Topf werfen und den Polen, Tschechen oder Ungarn Vorhaltungen machen.“                                                    m

Anna Rubinowicz-Gründler, Polski upór i Niemieckie łęki, Gazeta Wyborcza vom 23. Mai 2003, Übersetzung: Mark Brüggemann, Oldenburg