„Generacja nic“ –
die Debatte über eine Generation, die es gar nicht gibt
Von Mark Brüggemann
Schlicht und einfach „Radiostacja“ heißt ein polnischer Radiosender, der bei jungen Polen wegen seiner musikalischen Trendsetterfunktion einerseits und origineller Programmgestaltung andererseits in den letzten Jahren recht beliebt war1. Zu empfangen ist der Sender allerdings bislang nur in sieben polnischen Großstädten, mit sehr viel Glück und Geduld auch über das Internet2. Eine Zeitlang habe ich die „Radiostacja“ immer mal wieder über das Internet gehört, in letzter Zeit aber gelingt die Verbindung kaum noch. Im Frühjahr lief auf dem Sender sehr häufig ein Lied, das mich musikalisch an die Bands der sogenannten „Hamburger Schule“ wie Blumfeld oder Tocotronic erinnerte: Melodischer Gitarrenrock und Sprechgesang mit prägnantem Text, mit dem sich junge Hörer identifizieren können. „Uważaj” heißt das Lied, auf deutsch etwa „Sieh dich vor!“, und der Text ist eine Drohung, gerichtet an eine imaginäre „Neupolin“, die sich in der Welt von Mode, Reklame und In-Clubs bewegt.
Die Band dieses Titel hat den
etwas dick aufgetragenen Namen „Cool Kids of Death“, der jedoch von einem
gleichnamigen Songtitel der britischen Independent-Popband „Saint Etienne“
übernommen wurde. Auf der Internetseite der Band3 war, als dieser Text entstand, neben einem Video zu „Uważaj”
auch das Video zu einem zweiten Hit der „Cool Kids of Death“ zu finden, nämlich
zu dem Lied „Butelki z benzyną i kamienie” (deutsch: „Flaschen mit Benzin
und Steine“). Gegen wen die Band ihre Flaschen mit Benzin und Steine gerichtet
hat, geht aus dem Text eindeutig hervor:
Hej, człowieku w pierwszym rzêdzie,
Panie decydencie z agencji reklamowej.
Hej, panie menadżerze, z MTV prezenterze,
Słynna dziennikarko.
Mamy butelki z benzyną i kamienie
Wymierzone w ciebie
Attackiert werden in dem
zitierten Textausschnitt der „Mann in der ersten Reihe“, der „Herr
Entscheidungsträger aus der Werbeagentur“, der „Herr Manager“, der
„MTV-Moderator“ und die „berühmte Journalistin“. An einer anderen Stelle in dem
Lied kommen etwa noch der „Herr Redakteur“, der „schicke Schauspieler“, der
Dichter und Sänger dazu. Mit Hilfe von eingeblendeten Parolen setzt sich die
Band in dem Video in Verhältnis zu „ihrer“ Generation: „nie czujemy się częścia
naszego pokolenia” („wir fühlen uns nicht als Teil unserer Generation“), „nie
chcemy być głosem naszego pokolenia” („wir wollen nicht Stimme
unserer Generation sein“), „nienawidzimy naszego pokolenia“ („wir hassen unsere
Generation“). Ins Auge sticht außerdem die Verwendung des „Big Brother“-Logos
mit der Inschrift „Idiota“.
Kurzum: Die „Cool Kids of Death“
richten sich mit ihren Liedern gegen die Vertreter der Verblödungsmaschinerie,
die in Polen etwas mehr als zehn Jahre nach dem Sieg des Kapitalismus fröhliche
Urstände feiert – vor allem aber gegen die Werbeindustrie, die immer neue
Wünsche über den polnischen Durchschnittsbürger verhängt. „Ich kann mich nicht mit einer Situation
abfinden, in der mich von allen Seiten der Dreck anspringt“, sagt Krzysztof
Ostrowski, Sänger der Cool Kids of Death, in einem Interview4. „Erniedrigte
ästhetische Normen, die von zynischen, völlig geschmack-losen Mitarbeitern von
Werbeagenturen diktiert werden, selbsternannte Eliten ohne Klasse. Wo, verdammt
noch mal, sind die intelligenten Menschen geblieben? Im Radio laufen Lieder,
die nichts über mich aussagen. Und was soll ich da tun? Eigentlich ist jeder in
einer solchen Situation machtlos, also ist die Manifestation des Widerstandes
sehr wichtig.“ Der geballte Hass der „Cool Kids of Death“ auf die
Werbeagenturen könnte auf die Lektüre von Frédéric Beigbeders Roman „39,90“
verweisen, der 2001 auch ins Polnische übersetzt wurde. Beigbeder, selbst in
der Werbebranche tätig, schrieb seinen Enthüllungsroman über die Werbung, ließ
sich von seiner Agentur rauswerfen und ist seitdem in Frankreichs Medien
allgegenwärtig. Dies brachte ihm den Vorwurf ein, sich dieselben Mechanismen
zunutze zu machen, die er in seinem Roman anprangert. Auch die „Cool Kids of
Death“ sind nicht frei vom Verdacht des inszenierten Skandals. Schließlich
erscheinen ihre CDs nicht in Hunderterauflage im Selbstverlag, sondern bei der
Bertelsmann Music Group. Und verkaufen sich nicht nur wegen ihrer musikalischen
Qualität, sondern auch aufgrund der großen Medienpräsenz der Band wie geschnitten
Brot. In ihrer Art, sich und ihre Botschaft darzustellen, knüpfen die Musiker
jedenfalls an die Punk-Tradition (wer hätte gedacht, dass diese beiden Begriffe
einmal zusammengehen würden!) an. „Wir leben in solchen Zeiten, in denen die
einfache, ruhige Abneigung gegen etwas ein Luxus ist, den man sich nicht
erlauben kann. Wenn dir etwas nicht passt, dann musst du das mit ganzer Kraft
hassen und auf alle nur möglichen Arten bekämpfen. Man muss diese Scheißwut von
frühmorgens an haben“, sagt der Sänger der Band im bereits zitierten Interview.
Wie das Video zum Lied „Butelki z
benzyną i kamienie” zeigt, richtet sich die „Scheißwut“ der Band aber
nicht nur gegen die geschmacklosen Produzenten des Massengeschmacks, sondern
auch gegen die eigene Generation der polnischen „Twentysomethings“. Warum, das
erfuhr die interessierte Öffentlichkeit am 4. September von Kuba Wandachowicz,
dem Gitarristen der „Cool Kids of Death“. An diesem Tag weitete die Band ihre
Kampfzone auf das Feuilleton der großen Ta-geszeitung „Gazeta Wyborcza“ aus.
Der von Wandachowicz verfasste Essay „Generacja nic“ („Generation Nichts“)
löste eine bis Anfang Dezember letzten Jahres dauernde Debatte über die
Situation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen in Polen aus.
„Generation Nichts“ vs. „Jahrgang
der traumhaften Chance“
Was ist das Wesen der Generation,
die Wandachowicz in seinem Text für die „Gazeta Wyborcza“ beschreibt? – „Die
Generation, die ich ´Generation Nichts´ nenne, ist auf folgende Weise eine
spezifische: Während Repressionen, die das Leben anderer Generationen
begleiteten, in Verbindung mit verschiedenen Arten von begrenzendem Zwang
(Kriege, Totalitarismen) standen, verliert heute die Jugend gegen die Freiheit,
um die in der Vergangenheit der Kampf geführt wurde. Freiheit ist in unserer
Zeit zum Begriff für die intellektuelle Leere der jungen Menschen geworden, die
an keinem Diskurs teilnehmen wollen – ob nun an einem gesellschaftlichen,
politischen oder welchem auch immer. Dieser Unwille trägt dabei keinerlei
Merkmale eines Manifests einer Generation und drückt keinen durchdachten
Standpunkt aus – er ist ganz einfach eine Aufgabe intellektueller Ansprüche.“
Wandachowicz verwendet hier
genaugenommen zwei verschiedene Freiheitsbegriffe: Der eine meint die Freiheit,
um die vergangene Generationen gekämpft haben, gegen die die gegenwärtige
Generation der jungen Polen aber verliert, weil sie von ihr überfordert wird –
die Freiheit zur Entwicklung der eigenen intellektuellen Ansprüche. Das
Zerrbild von Freiheit, das Wandachowicz dieser „eigentlichen“ Freiheit
entgegenstellt, ist die Freiheit von Diskurs in jeder Form: „Die Freiheit, die
unser Land nach 1989 erlangt hat, ist in einem gewissen Augenblick zum Wort
geworden, das jeglichen Diskurs beendet hat. Wenn man ausdrückte „wir sind
frei“, begann dies immer häufiger zu bedeuten, dass wir ein Recht auf ein Leben
ohne Ideen haben, ein Recht darauf, von einem Tag auf den anderen zu leben und
uns daran zu erfreuen, was wir uns für unser hart verdientes Geld kaufen
können.“
Nun muss diesem „Recht“ ja
irgendwer zu allgemeiner Anerkennung und faktischer Durchsetzung verholfen
haben. Dafür macht Wandachowicz die Eliten in Politik und Wirtschaft Polens
verantwortlich: „(...) Die finanziellen Eliten in diesem Land haben sich nach
sehr merkwürdigen Gesetzen entwickelt (es ist bekannt, dass der größte Teil der
Geschäfte nach 1989 aufgrund von irrsinnigen Papieren über die Bühne ging,
wobei die unterschiedlichsten rechtlichen und organisatorischen Lücken
ausgenutzt wurden; hinzu kommt das Problem der in der Volksrepublik Polen
erworbenen und der aus der Polnischen Arbeiterpartei stammenden Vermögen). Die
Entscheidungsträger in Polen waren immer außergewöhnlich fern von den
kulturellen Eliten, und für sie [die Entscheidungsträger, Anm. MB] zu arbeiten, musste (und muss immer noch)
eine Qual für jeden sein, der irgendwann einmal Ambitionen hatte, den Kreis
jener intellektuellen und kulturellen Milieus zu bereichern.“ Das Problem, das
hier offenbar angeschnitten wird, ist die Kontinuität der Eliten aus Zeiten der
Volksrepublik in die Nachwendezeit hinein. Antiintellektuell eingestellte
Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft des sozialistischen Polen blieben
demnach auch im kapitalistischen Polen in politischer Verantwortung (vor allem
in der postkommunistischen Partei SLD) bzw. bildeten zum großen Teil die
finanzielle Elite der neu entstandenen Marktwirtschaft.
Die Generation der heute Zwanzig-
bis Dreißigjährigen in Polen hat zudem damit zu kämpfen, dass die Schaltstellen
in Wirtschaft und Medien auf lange Zeit von denen besetzt sein werden, die zur
Zeit der politischen Wende zwischen 20 und 30 Jahren alt waren. Das polnische
Nachrichtenmagazin „Polityka“ hat dieser Vorgängergeneration unlängst ein
Feature unter der Überschrift „Rocznik cudownej szansy“ („Jahrgang der
traumhaften Chance“) gewidmet5. Über diese Generation der heute Dreißig- bis
Vierzigjährigen heißt es: „Sie mussten nicht auf dem Arbeitsmarkt kämpfen, als
die Staatsbetriebe fielen – die Arbeit fiel ihnen von selbst zu und riss sie
aus den Universitäten. Sie mussten den Älteren nichts wegnehmen, sondern
füllten eine Lücke neu entstehender oder sich wandelnder Branchen auf dem Markt
aus: In Reklame, Marketing, Consulting, Recht, den Medien, der Verwaltung. Die
heutigen Zwanzig- bis Dreißigjährigen sind zu marktwirtschaftlicher Normalität
und langjährigem Aufstieg in die Positionen verdammt, die ihre Vorgänger fast
von Beginn an einnahmen.“ Im Gegensatz zum „Jahrgang der traumhaften Chance“
kann es sich ein heutiger polnischer Abiturient kaum noch erlauben, sein
Studienfach in erster Linie nach Interesse zu wählen. Wer überhaupt eine Chance
haben will, die ersten Stufen der Karriereleiter betreten zu dürfen, muss von
Anfang an marktkompatibel studieren – im Gegensatz zur Vorgängergeneration, für
die vor allem die Devise „Learning by doing“ galt.
Psychologisch betrachtet, steht
somit der Euphorie der Studentengeneration in der ersten Hälfte der 90er Jahre
strikter Pragmatismus, zum Teil aber auch Resignation der heutigen polnischen
Studenten gegenüber. Kuba Wandachowicz als Autor des Generationsportraits
„Generacja nic“ steht aufgrund seines Alters von 27 Jahren für die Phase des
Umschwungs von der einen Grundhaltung zu der anderen: „Als ich zum Studium
zugelassen wurde (1994), war ein gewisses Versprechen zu spüren, eine gewisse
reale Möglichkeit zu Veränderungen, das Gefühl, auf die intellektuellen Bahnen,
in denen sich die neu entstandene Realität bewegte, Einfluss nehmen zu können.
(...) Damals wusste ich noch nicht, dass uns niemand die Realisierung
einigermaßen ambitionierter Absichten erlauben wird, wir selbst aber so schwach
werden sollten, dass wir keine Kraft haben würden, irgendetwas aus dem Leben
herauszuholen.“
Den Hauptfeind der „Generacja
nic“ hat Wandachowicz im von ihm so genannten „anonymen Kunden“ ausgemacht. Die
heutigen Zwanzig- bis Dreißigjährigen stünden vor der Wahl, entweder arbeitslos
zu sein oder den niederen Instinkten dieses „neuen Idols“ zu huldigen. Dass Wandachowicz
an diesem Zustand seinen Altersgenossen in den Werbeagenturen eine gehörige
Mitschuld gibt, verbindet ihn wiederum mit dem französischen Autor Beigbeder:
„Wir haben uns in einen Teu-felskreis drängen lassen“, so Wandachowicz, „denn
durch Unterwerfung unter die Launen dieses seltsamen Geschöpfs [des „anonymen
Kunden“, Anm. MB] haben wir begonnen, aktiv an der Gestaltung dieses Wesens
teilzunehmen und seine atavistischen Triebe und geschmacklosen Marotten zu
festigen. (...) Ist niemand in der Lage, den Unterschied zwischen Marketing und
der Sphäre eines weit gefassten Kulturbegriffs zu bemerken?“ Im Roman „39,90“
heißt es: „Marketing ist eine Perversion der Demokratie – das Orchester
dirigiert den Dirigenten. (...) So wird jede Innovation, Originalität,
Kreativität und Rebellion erstickt.“6
Die Argumentation des Bandleaders
der „Cool Kids of Death“, der auch in
der polnischen Gesellschaft gern die Rolle eines Dirigenten einnähme, ist
jedoch etwas verschwommen: Einerseits prangert er den Teil seiner
Altersgenossen an, der in PR-Agenturen, Marketing, Consulting-Unternehmen und
anderen den Marktmechanismen Folge und Vorschub leistet. Andererseits aber
beklagt Wandachowicz, dass so viele dieser Stellen von der Vorgängergeneration
in Beschlag gehalten werden – als wäre er geradezu begierig darauf, mitspielen
zu dürfen. Ebenfalls nicht ganz verständlich – zumindest für den Autor dieses
Textes als zugegebenermaßen Außenstehenden – ist, inwiefern der junge polnische
(Turbo-)Kapitalismus Mitte der 90er Jahre Wandachowicz und seinen
Generations-genossen die Hoffnung vermitteln konnte, der Markt warte förmlich
auf junge bildende Künstler, experimentelle Musiker, Schriftsteller abseits des
Mainstreams und andere, um sie für ihre intellektuelle Tätigkeit zum Wohle des
Landes angemessen zu entlohnen. „Wir dachten, dass die Realität des neuen Polen
uns Zwanzigjährigen erlauben würde, eine irgendwie spektakuläre Existenz zu
beginnen.“ Das klingt, als würde sich Wandachowicz staatliche oder private
Stipendien für gesellschaftliche Rebellion wünschen. Sein Fazit ist resignativ
und bezieht sich nicht nur auf Polen, sondern auf die ganze „Welt als
Supermarkt“: „In unserer Welt ist Rebellion insofern schwierig, als wir, wenn
wir gegen die Verdummungsmechanismen der marktwirtschaftlichen Indoktrination
rebellieren und endlich ein Asyl finden wollen, das uns relative Autonomie und
Zeit für größere Ideen und Ideale gibt, gleichzeitig gegen uns selbst
rebellieren müssen, zumindest aber gegen unsere Mägen. Es ist traurig, dass
wir, wenn wir in Einklang mit unseren gar nicht hohen, völlig verständlichen
Anforderungen leben wollen, ganz offenkundig am fortschreitenden Prozess der
Verdummung von uns selbst und anderen teilnehmen müssen.“
Doch ist dies in Polen wirklich
so? In der Zeitschrift „Nowe Państwo” ist im Dezember 2001 ein Artikel
erschienen, der sich mit der materiellen Situation von Schriftstellern in Polen
befasst7. Der Artikel scheint Wandachowicz´ Diagnose auf den ersten Blick zu
bestätigen: „(...) Dichter können in unseren kommerzialisierten Zeiten nicht
mit Erfolg auf dem Markt rechnen (der sich als messbarer finanzieller Erfolg
niederschlagen würde). Sie müssen also anders klarkommen – natürlich, sie
schreiben Gedichte, aber Verdienstmöglichkeiten finden sie woanders.“
Im Anschluss an diese Feststellung
führt der Autor Bereiche auf, in denen polnische Schriftsteller außerhalb der
Schriftstellerei tätig sind. Hierzu zählt etwa der Wissenschaftsbetrieb. Dieser
wäre ein Beispiel dafür, dass man nicht zwangsläufig in die Marktmechanismen
eingebunden sein muss, um als Intellektueller für seinen Lebensunterhalt zu
sorgen. Dafür besteht die Gefahr einer zu großen „Abgehobenheit“, eines Lebens
im wissenschaftlichen „Elfenbeinturm“, das sich auf das Schaffen des jeweiligen
Künstlers auswirken kann. Zudem sind unter jungen polnischen Absolventen häufig
Klagen über die ungerechte Zuteilung von Stipendien für Pro-motionsstudien zu
hören. Auch Wandachowicz, selbst Absolvent der Philosophie, ärgert sich
darüber: „In den akademischen Milieus herrscht – wie überall – ein
geheimnisvolles System von persönlichen Abhängigkeiten, und die meisten Dinge
muss man sich einfach irgendwie ´besorgen´.“ Und so völlig losgelöst von
Markt-mechanismen ist auch der in der Wissenschaft tätige Intellektuelle nicht;
schon die Wahl eines Themas für eine Doktorarbeit hängt davon ab, ob man für
das jeweilige Thema einen wissenschaftlichen Betreuer findet, und ob Bedarf –
ausgedrückt in ausgeschriebenen Stellen - an Forschung und Lehre auf diesem
Gebiet besteht.
Viele polnische Schriftsteller
sind auch Redakteure oder freie Journalisten bei polnischen Zeitungen und
Zeitschriften. Auch hier fordert der Markt seinen Tribut – thematisch wie
stilistisch. Denn die potentielle Leserschaft für Kunst- und Kulturzeitschriften
ist zu gering, um viele Redakteure in Lohn und Brot zu halten. Also arbeiten
die meisten Literaten bei Tageszeitungen und „gewöhnlichen“ Wochenzeitschriften.
Vorteil dieser Eingebundenheit in den Wettlauf um das tagesaktuelle Geschehen
ist die möglicherweise größere Nähe dieser Schriftsteller zu aktuell
diskutierten gesellschaftlichen Fragen. Schriftsteller, die gleichzeitig
Journalisten bei großen Zeitungen sind, sind tendenziell sicher eher dazu
geneigt, im Sinne von Wandachowicz „spektakulär zu existieren“ und sich nicht
nur durch ihre Literatur, sondern auch in Form von Kommentaren und Essays in aktuelle Debatten
einzuschalten.
Viele Künstler in Polen führen
aber auch geradezu ein Patchwork-Berufsleben. „Dichter, Artillerist,
Feuerwehrmann, Erzieher schwieriger Jugendlicher, Lagerist, Sekretär,
Textbearbeiter, Korrektor, Wachmann“ – diese Berufsangaben hat etwa Marcin Swietlicki
in den biographischen Anmerkungen seines Erstlings „Zimne kraje“ („Kalte
Landschaften“) gemacht. Swietlicki, der allerdings mit 41 Jahren deutlich älter
ist als die Angehörigen der „Generation Nichts“, ist in Polen nicht nur als
Dichter, sondern vor allem auch als Sänger der Rockband „Swietliki“ bekannt.
Daneben gibt es noch die
schreibenden Schüler und Studenten, zu deren prominentester Vertreterin in
diesem Jahr die 19jährige Dorota Mas³owska aus Wej-herowo bei Danzig geworden
ist. Ihr erster Roman, „Wojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną”
(„Polnisch-russischer Krieg unter weiß-roter Flagge“), wirft ein Licht auf das
Milieu der sogenannten „dresiarze“. Das Wort „dresiarz“ bezeichnet in Polen
Menschen mit niederer Bildung, die tagsüber zwischen den Häuserblocks
herumhängen und deren Interessen hauptsächlich um Autos, Videofilme, Frauen,
Alkohol, Drogen und kriminelle Geschäfte kreisen. Die Bezeichnung „dresiarz“
stammt von dem Wort „dres“, das „Trainingsanzug“ bedeutet – Trainingsanzüge
sind die bevorzugte Kleidung dieses Milieus. Mas³owska hat den Roman, der zum
Zeitpunkt, in dem dieser Text verfasst wurde, auf Platz 1 der polnischen Bestsellerliste
stand, während der Vorbereitung auf ihr
Abitur geschrieben. Den Stoff dafür hat sie – was das konkrete Verhalten ihrer
Helden betrifft - aus eigener Anschauung in Wejherowo gewonnen, über viele der
von den Helden vertretenen Meinungen und Weltsichten hat sich die Autorin zudem
durch die Lektüre von Jugendzeitschriften und erzkonservativen Tageszeitungen
informiert8: „’Wojna polsko-ruska’ ist kein Generationsroman über einen
´dresiarz´, sondern mehr: Es handelt sich ganz einfach um die Niederschrift des
mentalen Zustandes eines heutigen Polen, für den sich alles mit allem
vermischt, und in dem Juden, Russen, McDonald´s, Wojaczek [ein vor allem bei
jungen Polen beliebter polnischer Dichter, Anm. MB], Satanismus, Ökologie, die
Rechte und die Linke hoffnungslos miteinander verflochten sind“, schreibt die
„Polityka“ über den Ro-man9. Der große Erfolg des Buches könnte glatt als ein
Gegenbeispiel zur These von Kuba Wandachowicz durchgehen, dass intellektueller
Anspruch und kommerzieller Erfolg im Nachwendepolen unvereinbar sind. Im
übrigen hat sich auch Dorota Masłowska mit einem eigenen Beitrag in der
„Gazeta Wyborcza” in die „Generacja nic”-Debatte eingeschaltet10.
Schließlich gibt es unter Polens Künstlern aber auch noch
diejenigen, die hauptberuflich in PR, Marketing und all den benachbarten
Berufszweigen tätig sind, denen Kuba Wandachowicz eine besondere Schuld an der
Verspaßgesellschaftung Polens gibt. Ein Vertreter dieser Gruppe, Jarosław
Kamiński, hat mit einem Essay auf die Vorwürfe des Gitarristen der „Cool
Kids of Death“ reagiert11: „Seit Beginn ihrer Existenz in Polen hat die Reklame
eine Vielzahl von talentierten Leuten ab-sorbiert, Studenten von
Kunsthochschulen, philosophischen und soziologischen Fakultäten, Polonisten.
Denn sie hat ihnen nicht nur die Chance gegeben, sich künstlerisch zu
verwirklichen, sondern auch die Möglichkeit, auf einem angemessenen Niveau Geld
zu verdienen. (...) Viele von ihnen schreiben jedoch weiterhin Gedichte oder
Romane, malen oder fotografieren – nur dass sie dies für sich selbst und ihren
Freundeskreis nach getaner Arbeit machen, als Hobby.“ Für die Tatsache, dass so
viele talentierte Künstler in die Werbung „abwandern“, macht Kamiński das
Desinteresse seiner Landsleute an nichtkommerzieller Kunst verantwortlich:
„Bevor wir andere wegen ihrer Kommerzialität anklagen, sollten wir uns selbst
fragen: Wie viele originelle Bilder haben wir in letzter Zeit gekauft, wie
viele Literaturzeitschriften abonnieren wir, welche Bücher polnischer Autoren,
die im vergangenen Jahr herausgegeben worden sind, haben wir gelesen, haben wir
im Theater nach Aufführungen polnischer Dramaturgen gesucht? Das Fazit dieser
Umfrage wäre wahrscheinlich wie folgt: Die Polen haben kein Interesse an
polnischer Kunst. Nicht nur die gewöhnlichen (Nicht-)Rezipienten. Rezensenten
schreiben lieber über englische Romane, Musikkritiker über amerikanische
Platten, Schauspieler zweifeln von vornherein an dem Handwerk polnischer
Dramaturgen, ohne überhaupt deren Texte zu lesen usw.“
Ist das tatsächlich so? Dass
Dorota Masłowskas Roman und nicht etwa ein Autor aus dem angelsächsischen
Raum Ende Dezember/Anfang Januar auf Platz 1 der Bestsellerliste stand, wurde
bereits erwähnt. Insgesamt fanden sich am 2. Januar unter den bestverkauften
fünfzehn Büchern des polnischen Internetversandes vivid. com.pl – die
Bestsellerliste ist leider nicht in Belletristik und Sachbücher unterteilt –
vier polnische und ebenso viele ausländische belletristische Titel. Beim Konkurrenten
merlin.com.pl überwog dagegen unter den Top 15 mit fünf Titeln die ausländische
Belletristik gegenüber nur zwei polnischen Titeln. In den Musikcharts bei
vivid.com.pl lagen mit zwölf Albumplatzierungen unter den Top 20 die polnischen
Künstler deutlich vor den internationalen mit acht Titeln. Zum Vergleich: In
der Spiegel-Bestsellerliste für Belletristik fanden sich in der ersten
Januarwoche unter den Top 20 18(!) ausländische und nur zwei deutsche Autoren;
die Media-Control-Charts wiesen in derselben Woche unter den Top 25 zehn deutsche
und fünfzehn ausländische Alben aus. Angesichts dieser Stichprobe erscheint die
Klage Kamińskis über den
mangelnden „kulturellen Patriotismus“ der Polen übertrieben – wie sehr müssten
dann erst deutsche Autoren über das mangelnde Käuferinteresse an ihrer
Literatur klagen!
m
1Eine Reportage über die
„Radiostacja“ und ihre Hörer ist zu finden in „Polityka“ Nr. 43 (2373) vom 26.
Oktober 2002
2 Adresse für den RealPlayer:
rtsp: //212.244.204.105/encoder/radio.rm
3 www.ckod.com.pl
4Quelle: http://muzyka.wp.pl/wywiady. html?idn=109
5 „Rocznik cudownej szansy“, in: Polityka Nr. 45 (2375), 9.11.2002
6 Frédéric Beigbeder, „39,90“,
Reinbek bei Hamburg 2002, S. 36
7 „Z czego żyją poeci?”, in: „Nowe Państwo” Nr. 51-52
(317-318), 21.-28.12.2001
8 Vgl. das Interview mit Masłowska in der „Gazeta Wyborcza”:
http://www2.gazeta. pl/obcasy/1,25368,1029574.html
9 „Powieść w czasach recesji”, in: „Polityka” Nr. 49(2379),
7.12.2002
10 Dorota Masłowska, „Przyszkoleni do jedzenia“, „Gazeta Wyborcza“,
4.10.2002
11 Jarosław Kamiński, „To ja – zapluty karzeł reklamy”,
„Gazeta Wyborcza”, 19.9.2002