Macht triumphierte über Moral

Von Friedrich Leidinger

 

Es ist 60 Jahre her, da begann am 16. April 1943 mit einer Rundfunkmeldung über den Fund von Massengräbern von 10.000 polnischen Offizieren bei Smolensk eine der größten Propagandakampagnen Nazideutschlands. Zu diesem Zeitpunkt - zehn Wochen nach dem Untergang der 6. Deutschen Armee in Stalingrad - hatte der Kommandeur des Nachrichtenregiments 537, das in einem ehemaligen Erholungsheim des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in einem Waldstück nahe der Ortschaft Katyn untergebracht war, aufgrund von Hinweisen Ortsansässiger systematische Grabungen veranlasst. Diese wurden unter der fachlichen Aufsicht des Chefs des medizinischen Dienstes der Heeresgruppe Mitte, Dr. Gerhard Buhtz, der über reichlich Erfahrung mit der Obduktion in Konzentrationslagern im Auftrag der SS verfügte, durchgeführt. Man fand mehrere hundert Leichen, die aufgrund von Kleidungsstücken - durchweg polnische Uniformen - sowie persönlicher Gegenstände, Notizen, Briefe und anderer Unterlagen eindeutig als polnische Offiziere identifiziert werden konnten. Sie gehörten zu einer Gruppe von fast 15.000 Offizieren, nach deren Verbleib polnische Stellen seit Jahren verzweifelt geforscht hatten.

 

Nach dem Willen der deutschen Propaganda sollte ihr Tod dem „jüdisch-bolschewistischen System“ angelastet werden. Mindestens 10.000 bis 12.000 Opfer, das gesamte polnische Offizierskorps in sowjetischem Gewahrsam, sei im Katyner Wald ermordet wurden. Drei Tage später antwortete das sowjetische Informationsbüro seinerseits mit dem Vorwurf „die deutsch-faschistischen Mitteilungen lassen keinerlei Zweifel am tragischen Schicksal der ehemaligen polnischen Kriegsgefangenen aufkommen, die im Sommer 1941 in die Hand der deutsch-faschistischen Henker fielen, nachdem die sowjetischen Truppen sich aus dem Raum Smolensk zurückzogen. Den patentierten deutsch-faschistischen Mördern, die ihre Hände im Blut Hunderttausender unschuldiger Opfer gebadet haben, die die Bevölkerung der von ihnen besetzten Länder systematisch ausrotten und dabei weder Frauen noch Kinder oder Greise verschonen, die in Polen selbst viele Hunderttausender polnischer Bürger ausrotteten, gelingt es durch ihre niederträchtige Lüge und Verleumdungen nicht, auch nur einen einzigen zu täuschen“.

Die polnische Exilregierung in London erklärte am darauf folgenden Tag, dem 17. April 1943, ihre tiefe Beunruhigung über die Meldungen der deutschen Propaganda. Sie habe in dieser Angelegenheit das Inter-nationale Rote Kreuz um die Entsendung einer Delegation gebeten, die an Ort und Stelle den Sachverhalt aufklären sollte. Gleichzeitig verbat sich die Regierung Polens im scharfen Ton die „heuchlerische Entrüstung der deutschen Propaganda“, welche nicht die deutschen Verbrechen am polnischen Volk überdecken könnte. Erneut wandte sich die polnische Regierung auch an die Regierung der UdSSR und bat - wie bereits mehr als zwanzig Mal zuvor - um Aufklärung über das Schicksal der Gefangenen aus den Lagern Kosjelsk (polnisch: Kozielsk), Starobielsk und Ostaschkow, zu denen seit Frühjahr 1940 kein Kontakt mehr bestand. Doch die sowjetische Regierung ließ die polnische Note genauso unbeantwortet wie alle vorhergegangenen. Stattdessen überreichte der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten (Außenminister) Molotow, der keine vier Jahr zuvor mit Hitlers Außenminister Ribbentrop die beiderseitigen imperialen Interessen in Mittel- und Nordeuropa ausgehandelt und in einem Geheimabkommen fixiert hatte, dem polnischen Botschafter in Moskau eine Note, in der der Regierung Polens wegen ihrer Anfrage an das Internationale Rote Kreuz „Absprachen mit Hitler“ und eine „feindselige Haltung gegenüber der Sowjetunion“ vorgeworfen wurde, weshalb die Sowjetregierung entschieden habe, die Beziehungen mit der polnischen Regierung abzubrechen.

Innerhalb weniger Tage waren damit die Handlungsstränge eines politischen Schauspiels angelegt worden, das seinen Ausgang von einem der größten Kriegsverbrechen des 2. Weltkriegs nehmen sollte, und das die politischen Beziehungen zwischen Polen und den Nachfolgern der Sowjetunion - Russland, Belorussland und Ukraine - bis heute genauso prägt, wie es in den Familien der Opfer Schmerz und unbewältigte Trauer wach hält. Der Publizist und Militärhistoriker Gerd Kaiser hat jetzt erstmalig in deutscher Sprache eine umfassende Darstellung dieses Dramas vorgestellt1. Tatsächlich hatten sowohl die deutsche Propaganda als auch die sowjetische Gegenbehauptung Un-recht. In Katyn wurden nach heutiger Kenntnis etwa 4.300 von mehr als 4.500 Gefangenen des Lagers für polnische Offiziere in Kosjelsk ermordet. Die mehr als 6.500 Insassen des Lagers Ostaschkow waren dagegen fast vollzählig in einem Freizeitheim des NKWD bei Kalinin (heute Twer) erschossen und in einem nahe gelegenen Waldstück bei der Ortschaft Miednoje verscharrt worden. Ihre Leichen wurden erst im August 1991 aufgrund von Hinweisen sowjetischer Behörden gefunden und teilweise exhumiert. Dabei kam es am 19. August 1991, dem ersten Tag des Putsches gegen Präsident Gorbatschow, zu einem Zwischenfall: Der KGB-Chef im Bezirk Kalinin erschien auf dem Gräberfeld und erklärte den sowjetischen und polnischen Militärstaatsanwälten: „Unter den veränderten Bedingungen hat Ihre Arbeit ihren Sinn verloren. Stellen sie die Grabungsarbeiten ein! ...“ Weitere fast 4.000 Insassen des Lagers Starobielsk waren bei der Ortschaft Pjatichatki in der Nähe von Charkow ermordet und in ähnlicher Weise verscharrt worden. Auch ihre Überreste wurden erst 1991 gefunden.

Die Opfer - fast ausschließlich polnische Offiziere - gehörten zu jenen polnischen Truppenteilen, die sich im September 1939 vor der heranrückenden deutschen Armee in die polnischen Ostgebiete zurückgezogen hatten, um von hier aus die Verteidigung ihres Landes zu organisieren. Sie wurden am 17.9.1939 vom Einmarsch der sowjetischen Truppen überrascht. Opfer eines nicht erklärten Krieges ergaben sie sich den sowjetischen Militärbehörden in der Erwartung, möglichst bald in ein neutrales Land ausreisen und von dort entweder nach Hause zurückkehren oder sich anderweitig dem Kampf gegen Hitler-Deutschland anschließen zu können. Diese Hoffnung war vergebens. Gegen alle Bestimmungen des Völkerrechts wurden die Soldaten gefangen genommen und in verschiedenen Lagern interniert. Die einfachen Soldaten wurden von den Offizieren getrennt und überwiegend zur Zwangsarbeit in die arktischen Regionen verbracht. Die Offiziere dagegen - fast alle im Zivilberuf Akademiker, Hochschullehrer, Ingenieure, Ärzte, Naturwissenschaftler, Philosophen und Lehrer - wurden zunächst in den drei genannten Lagern konzentriert und vom Geheimdienst verhört. Am 05.03.1940 unterschrieb Stalin auf Vorschlag seines Volkskommissars für Innere Angelegenheiten Berija einen Geheimbefehl, wonach alle internierten polnischen Offiziere in einem Geheimverfahren zum Tode zu verurteilen und hinzurichten seien. Mit der Durchführung wurden verschiedene Stellen des Geheimdienstes beauftragt. Die „Verfahren“ waren geheim und selbst den Opfern nicht offenbar. Nur etwa 400 wurden nach bis heute nicht bekannten Kriterien von dem Massaker ausgenommen. Sie blieben am leben und kamen in andere Lager, ohne jedoch etwas über das Schicksal ihrer Leidensgenossen erfahren zu können. Ende März und Anfang April 1940 gingen die Massenerschießungen vonstatten. Die Henker erhielten abends zur Entspannung Schnaps und wurden nach Abschluss aller Exekutionen mit Zusatzgehältern und Orden belohnt.

Genauso willkürlich, wie einige wenige vor dem Massaker gerettet wurden, waren die angeblichen Gründe für die Ermordung der Opfer: als „eingefleischte, unverbesserliche Feinde der Sowjetmacht sowie Mitglieder verschiedener konterrevolutionärer Spionage- und Diversionsorganisationen, ehemalige Gutsbesitzer, Fabrikan-ten, ehemalige polnische Offiziere, Beamte und Grenzverletzer“ seien sie zu erschießen.

Erst nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion im August 1941 änderte sich die Behandlung der in sowjetischen Lagern internierten Polen grundlegend. Verschiedene überlebende Offiziere, aber auch Abgesandte der Londoner Regierung und des Warschauer Untergrundes, bemühten sich in intensiven Recherchen um Aufklärung über die aus den drei Lagern verschwundenen Offiziere. Sie sammelten Zeugenaussagen und Indizien und konfrontierten die sowjetischen Behörden mit immer präziseren und drängenderen Fragen. Da das NKWD über seine Gefangenen in der Regel eine sorgfältige Dokumentation anlegte, konnte davon ausgegangen werden, dass die Behörden bei ausreichendem Willen zur Kooperation innerhalb kürzester Zeit Aufklärung auf diese Fragen hätte geben können. Dem war nicht so. Die Fragen der Polen liefen ins Leere, jedoch wurde bis zum April 1943 nicht ein einziges Mal behauptet, die Deutschen hätten die Gefangenen bei ihrem Vormarsch in ihre Gewalt bekommen, was ohne Kenntnis sowjetischer Behörden nicht möglich gewesen wäre.

Nach der Entdeckung der Gräber in Katyn sah sich die polnische Exilregierung bald von allen allein gelassen. Weder die britischen noch die amerikanischen Verbündeten waren bereit, die Anti-Hitler-Koalition mit Stalin wegen der „bedauerlichen Schwierigkeiten“ (der britische Außenminister Anthony Eden im Unterhaus) aufs Spiel zu setzen. Dabei waren die Briten und besonders die Amerikaner über ihre Geheimdienste bestens über die wahren Zusammenhänge informiert. Doch nicht einmal im Sommer 1946 während des Nürnberger Prozesses, als der Anklage-komplex „Katyn“ gegen die deutschen Angeklagten mangels Beweisen fallen gelassen werden musste, wichen die Westmächte von ihrer Haltung gegenüber der Sowjetunion ab. So zynisch, wie der Befehl zur Auslöschung Tausender von Offizieren gegeben wurde, so zynisch wurde in den Jahrzehnten danach das Verbrechen geleugnet. In dem Bemühen, den Namen „Katyn“ gänzlich verschwinden zu lassen wurden schließlich in der Sowjetunion an zahlreichen Orten mit dem ähnlich klingenden Namen „Chatyn“ Glocken zur Erinnerung an von deutschen Soldaten und Einsatzgruppen der SS ermordete Zivilisten erinnern. Die „Glocken von Chatyn“ sollten die Fragen nach den Opfern von Katyn übertönen.

Gerichtsmediziner und Historiker arbeiten in parallelen Welten; so wie die Einen mit naturwissenschaftlichen Methoden Befunde an Leichen und Tatorten erheben, um eine Geschichte zu erzählen, so sichern die Anderen Spuren in Erinnerungen und Quellen, die sie mit kritischem Verstand und philologischer Methode dokumentieren und bewerten. Gerd Kaisers Studie hat viel mit einer gerichtsmedizinischen Untersuchung gemein: Mit notwendiger Schmerzhaftigkeit enthüllt er die Anatomie des Verbrechens, geht den kleinsten Details nach, beschreibt mit Hilfe von Dokumenten, die er zu einem nicht geringen Teil persönlich archiviert hat, das Leben der Gefangenen in den Lagern, die politischen und administrativen Hintergründe ihrer Ermordung, die Bemühungen um Irreführung und Vertuschung und die vielen Mosaiksteine, die eine historisch präzise Beweisführung über die Wahrheit dieses Verbrechens ermöglichen, eines Verbrechens, das sich nicht allein gegen die Ermordeten, sondern gegen die polnische Nation als Ganzes richtete. Die Auseinandersetzung um seine Aufklärung war zugleich auch ein Streit um die Frage, „ob eine grundlegend neue und gerechte Gesellschaftsordnung mit ‚Leichen im Keller‘ möglich ist. ...  Die historische Forschung zu Katyn verlangte und gab Antworten zum Rang gesellschaftlicher Werte, zu den Motiven von Entscheidungen über Leben und Tod von Personen, Familienverbänden, sozialen Schichten und ethnischen Gruppen“ (S. 410). Damit aber bekommt das Verbrechen von Katyn in der historischen Betrachtung eine Bedeutung, die über Polen und das polnisch-russische Verhältnis hinaus weist: Angesichts der sich abzeichnenden Frontlinien einer neuen globalen Sicherheitspolitik und des „Kampfes gegen den Terrorismus“ wird Katyn zum Lehrstück.                                                                                                                                                                                                                     m

Gerd Kaiser: Katyn. Das Staatsverbre-chen - das Staatsgeheimnis. Aufbau Ta-schenbuchverlag GmbH, Berlin 2002. ISBN 3-7466-8078-6, 476 Seiten; mit zahlreichen Abbildungen und Karten. 12,00 €