NS - Prozesse in den beiden deutschen Staaten

Zwischen Todesstrafe und Amnestie

Von Heiner Lichtenstein

 

25. Mai 1983. Im Stadtgericht Ost-Berlin herrscht Hochbetrieb. Vor dem klassizistischen Gebäude mit Spuren von Bombardements und Straßenkämpfen während des Zweiten Weltkrieges stehen Übertragungswagen des Ostfernsehens, in dem imposanten Eingangsbereich hasten Männer und Frauen die breiten Treppen hinauf, Journalisten mit Schreibzeug, Kameras und Fotoapparaten stehen vor der hohen Eingangstür und holen ihre Presseausweise ab. Justizwachtmeister fordern sie auffallend freundlich auf, ihre Plätze in den vorderen Reihen des Sitzungssaales einzunehmen. Punkt neun Uhr wird die Tür geschlossen, um 9.02 Uhr betritt das Gericht den Saal. Nicht in schwarzen Roben, wie man sie aus der BRD kennt, sondern in gedeckten Straßenanzügen. Der Vorsitzende Richter Dr. Heinz Hugot (58) stellt die Identität des Angeklagten fest und nennt die Namen der beiden Verteidiger. Es sind Friedrich Wolff und H. Graubner.

 

Dann hat Staatsanwalt Horst Busse das Wort. “Ich klage an: Den ehemaligen SS- Obersturmführer Heinz Barth, geboren am 15.10.1920 in Gransee, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in okkupierten Gebieten der Tschechoslowakischen Republik und der Republik Frankreich begangen zu haben, indem er:

            1. als Angehöriger der 3. Kompanie des Reservepolizeibataillons Kolin am 9.6.1942 bei Klatory sowie am 9.7.1943 in Pardubice an Standrechtlichen Erschießungen von 92 tschechoslowakischen Männern und Frauen als Mordschütze und Sicherungsposten;

            2. als Zugführer des 1.Zuges der 3.Kompanie des 1.Bataillons des SS-Panzergrenadier-Regiments 4 ‚Der Führer’ am 10.6.1944 an der Ermordung von 642 französischen Einwohnern von Oradour sur Glane sowie der Niederbrennung des Ortes durch Leitung der Einkreisung, dem Zusammentreiben von Bewohnern und Teilnahme an der Erschießung arbeitseilig mitwirkte.”

Nach zwei Wochen, am 7. Juni 1983, war die Hauptverhandlung zu Ende, Barth wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Wir waren damals etwa 50 Journalisten. Die meisten vertraten Medien der DDR, mich hatte der WDR zur Berichterstattung geschickt. Das Verfahren unterschied sich von anderen NS-Prozessen in der DDR mindestens durch drei Besonderheiten. Es war am 28. April 1983, also vier Wochen vor Beginn, vom Deutschen Depeschendienst (der DDR) angekündigt worden, die Verhandlung war öffentlich und einige wenige ausländische Journalisten durften berichten. Was wir nicht erfuhren, war, wie Barth so lange unbehelligt in der DDR als Geschäftsführer einer Konsumfiliale hatte leben können. Versuche, das in vertraulichen Gesprächen mit einem Vertreter der Anklage und einem der beiden Verteidiger herauszubekommen, schlugen fehl. Und so schien sich zu bestätigen, was in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten gemunkelt wurde: Die DDR-Behörden kennen noch viele mutmaßliche NS-Verbrecher, klagen sie aber nur dann an, wenn sie dadurch der Bundesrepublik schaden können. Sozusagen als Trumpfkarten im Ärmel.

Das war definitiv nicht so. Dies herausbekommen zu haben, ist das Verdienst eines niederländischen Wissenschaftlers, der seit Jahrzehnten die NS-Prozesse in der Bundsrepublik erforscht, in bisher 26 voluminösen Bänden 662 rechtskräftige Urteile veröffentlicht hat und nun die ersten drei Bände mit entsprechenden Urteilen der DDR-Justiz vorgelegt hat. Es ist der Professor für Strafrecht an der Universität Amsterdam, Prof. Dr. Christiaan F. Rüter. Als er kürzlich die drei DDR-Bände vorstellte, machte er auf die wesentlichen Unterschiede in den beiden deutschen Staaten aufmerksam. Aus der DDR gibt es fast ebenso viele Urteile wie aus der BRD, nämlich etwa 920, obwohl die BRD vier mal so viele Einwohner hatte wie die DDR. Rüter: “Trotzdem ist die westdeutsche Sammlung wesentlich umfangreicher: Bei den Osturteilen reichen uns etwa elf Bände, für die Westurteile werden wir wohl 50 brauchen. Das kommt daher, dass ostdeutsche Urteile selten mehr als 70 Seiten umfassen, während im Westen das fünf- bis zehnfache keine Ausnahme ist.” Das liegt u.a. daran, dass die Westverfahren oft Jahre dauerten, viele Zeugen gehört wurden und Wissenschaftler umfangreiche historische Gutachten vortrugen.

Es gibt einen weiteren Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland: Die Ostsammlung enthält alle Urteile, die Westsammlung nur die rechtskräftigen, nicht die aufgehobenen. Als Rüter 1968 den ersten Band veröffentlichte, hatte er schwere Zeiten hinter sich. Anfangs stellten sich die Justizminister stur und lehnten jede Zusammenarbeit ab. Die DDR schickte nur einige Urteile, die allerdings nicht ankamen. Rüter erinnerte sich: “Bei mir klingelte nicht die Post. sondern die Kripo, die mir eröffnete, der Herr Generalbundesanwalt habe geruht, gegen mich ein Verfahren wegen Einfuhr verfassungsverräterischer Publikationen nach § 93 StGB einzuleiten.” Rüter arbeitete damals als Stipendiat der Humboldtstiftung in Freiburg. Rüter weiter: “Dass es 1968 trotzdem zur Veröffentlichung der westdeutschen Urteile kam, lag einfach daran, dass die Urteile ... bereits in meinem Besitz waren.” Nach dem Ende der DDR konnte er dann mit der Veröffentlichung der ostdeutschen Urteile beginnen, wobei ihm der pensionierte DDR - Staatsanwalt Dr. Günther Wieland eine große Hilfe war und ist.

Rüter, Wieland und andere Experten aus Ost und West machten sich u. a. auf die Suche nach den angeblich in Reserve gehaltenen mutmaßlichen NS-Tätern, wobei Wieland von vorn herein die westdeutsche These bestritt. Dergleichen habe es nie gegeben, sagte er und er musste es wissen. Schließlich war Wieland einer der führenden Ankläger in ostdeutschen NS-Prozessen. Auch die These, in der DDR habe man NS-Täter „nicht aus einem inneren Bedürfnis heraus verfolgt, sondern nur, um Westdeutschland international bloß zu stellen“, konnten die Mitarbeiter der Dokumentation nicht belegen. Rüter: „Zwölf Jahre nach der Wende sind diese vielen Hunderte von Namen und Fällen noch immer nicht aufgetaucht.“ Weder er habe sie bei seinen Recherchen gefunden noch die Staatsanwälte der Zentralen Stelle Ludwigsburg, „die immerhin jahrelang die Archive des MfS durchforscht haben.“

Zumindest in einer Hinsicht haben die ostdeutschen Gerichte mehr gegen NS-Verbrecher unternommen als die Kollegen im Westen. Sie haben deutlich mehr Täter früh aufgespürt, angeklagt und verurteilt. Bis 1960 war die DDR mit 88 Prozent ihrer NS-Prozesse fertig, die westdeutsche Justiz erst mit 55 Prozent. Die im Osten Angeklagten erhielten wesentlich höhere Strafen und wurden von jeder Amnestie ausgenommen, es gab weniger Freisprüche und Einstellungen. Im Osten wurden auch NS-Richter und NS-Staatsanwälte sowie Angehörige von Wehrmachtsstrafanstalten verurteilt, was in der Bundesrepublik bekanntlich unterblieb - zur Schande der westdeutschen Justiz. In einer Hinsicht freilich kommt der Westen besser weg. Ostdeutsche Verfahren wegen Verbrechen in Vernichtungslagern waren nach Rüter „eher Zufallsverfahren, während die viel zahlreicheren westdeutschen Verfahren wohl das Ergebnis mehr systematischer, auf diese Lager abzielender Ermittlungen sein dürften.“

Belegt sind hingegen nun zwei Thesen, die gegen die DDR-Justiz sprechen. Erstens gab es Fälle, in denen trotz dringenden Tatverdachts nicht angeklagt wurde und zweitens hat zeitweise der Druck der UdSSR auf die NS-Prozesse in der DDR zu rechtsstaatlich nicht zu verantwortenden Verfahren geführt. Ursula Wolf, pensionierte Staatsanwältin der DDR, formulierte das ziemlich umständlich so: Sollte sich bei Ermittlungen gegen einen ehemaligen KZ-Arzt herausstellen, „dass dieser ehemalige Lagerarzt eine gute ärztliche Tätigkeit in der DDR ausgeübt hat, würde (der ermittelnde) Genosse W. keine strafrechtliche Relevanz sehen. Darüber hinaus würde die Einleitung strafprozessualer Maßnahmen ein Politikum unter der älteren Ärzteschaft der DDR schaffen.“ Mit anderen Worten: Wegen des Ärztemangels in der DDR wurden NS-Arzte nicht angeklagt. Günther Wieland sagte es direkt. Es gab Fälle, in denen „operative Diensteinheiten verfügten, von weiteren Recherchen abzusehen. Vorwiegend gilt das für alle Fälle, die Mediziner betrafen.“

Wieland bestätigte die alte Kritik an den berüchtigten Massenverfahren Anfang der 50er Jahre im sächsischen Waldheim. Walter Ulbricht hatte sich damals direkt eingemischt und verfügt, die Verfahren müssten wegen der im Herbst 1950 anstehenden Volkskammerwahlen binnen „sechs Wochen durchgezogen“ werden. So seien jene Prozesse “geheim, hektisch, und oberflächlich durchgeführt” worden, aber die Ausnahme gewesen.

Insgesamt hat die Justiz der DDR ihre Strafverfahren wegen NS-Verbrechen konsequent und unter Beachtung des DDR-Rechts geführt. Die Beweise dafür liegen nun auf dem Tisch. Wann die nächsten Bände der Reihen „Justiz und NS-Verbrechen“ sowie „DDR-Justiz und NS-Verbrechen“ folgen werden, hat Rüter nicht gesagt, aber dass sie kommen werden, dafür steht der Amsterdamer Forscher. Im Internet findet man die Sammlungen unter www.jur.uva.nl/iunsv. Eine Kurzfassung dieses Berichts ist Anfang Dezember 2002 in “TRISONE - Zeitschrift zum Verständnis des Judentums” erschienen.                                                      m