Deutsche in Polen

Wo sind sie hin?

Von Wulf Schade

 

Im letzten Jahr fand in Polen eine Volkszählung statt, 14 Jahre nach der letzten im Jahr 1988. Demnach leben in Polen knapp über 38 Mil. Einwohnerinnen und Einwohner, d.h. ca. 1% mehr als 1988. Davon leben etwa 62 % in den Städten und 32% auf dem Land. Die meisten Menschen wohnen in den Wojewodschaften Mazowien - hier liegt auch die Hauptstadt Polens Warschau - und Schlesien mit jeweils über 4,9 Mil. und die wenigsten in der Wojewodschaft Lubusker Land mit etwa 980.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. 471.500 Personen, d.h. 1,23 %, haben in der Rubrik ‚Nationalität’ eine andere als die Polnische eingetragen, 775.000, d.h. 2,03 %, haben diese Rubrik nicht ausgefüllt. In Polen leben laut Volkszählung Angehörige von 109 Nationalitäten bzw. ethnischen Gruppen mit polnischem Pass. Etwa 445.000 polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger besitzen neben der polnischen eine zweite Staatsangehörigkeit, u.a. 280.000 die deutsche, 30.100 die US-amerikanische, 14.500 die kanadische, 7.300 die französische. Zur deutschen Nationalität bekennen sich 153.000 Personen, zur weißrussischen 49.000 und zur ukrainischen 31.000. Die größten ethnischen Gruppen sind mit 173.000 die Schlesier und dann bereits deutlich geringer die Roma mit 13.000 Personen. Eine jüdische Zugehörigkeit gaben 1.100 Personen an.

 

Wenn man diese Zahlen betrachtet, stechen v.a. die Zahlen derjenigen, die sich zum Deutschtum gegenüber denjenigen, die sich zum Schlesiertum bekennen, hervor. Noch interessanter wird es, wenn man die Zahl derjenigen vergleicht, die sich zum ‚Deutschtum’ bekennen mit der derjenigen, die einen deutschen Pass neben dem polnischen besitzen: 153.000 bekennende Deutsche stehen 280.000 Personen mit deutschem Pass gegenüber!

Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Angabe der Sprache, die man im häuslichen Alltag spricht: Immerhin 205.000 geben Deutsch als ihre häusliche Sprache an.

Schmerzliche Revision

Als hätten einige Funktionäre der deutschen Minderheit in Polen ein für ihre Volksgruppe ähnlich schlechtes Ergebnis schon im Voraus geahnt, sprachen sie sich wie der Vorsitzende der Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Deutschen (Towarzystwo Społeczno-Kulturalne Niemców-TSKN) und Sejmabgeordnete Henryk Kroll vor der Volkszählung strikt dagegen aus, dass auf die Frage nach der Nationalität auch mit der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Volksgruppe geantwortet werden darf. Andere deutsche Funktionäre jedoch freuten sich vor der Volkszählung: „Nun kann jeder sehen wie viele wir sind.“(nach Tygodnik Powszechny vom 6. Juli 2003, S. 9). Während nun etliche deutsche Funktionäre die auch auf staatlicher Seite existierende Ratlosigkeit angesichts der hohen Bekenntniszahl zum Schlesiertum hämisch mit: „Ihr wart einverstanden mit der Möglichkeit des Bekenntnisses zum Schlesiertum, nun habt ihr es!“ (Henryk Kroll, nach: Polityka, Nr. 28 vom 12. Juli 2003, S. 22) kommentieren, meinten andere aus diesem Kreis wie der in Opposition zu Kroll stehende und aus dem Oppelner Gebiet stammende Prof. Gerhard Bartodziej: „Obwohl das Ergebnis der Volkszählung existierende deutsche Strukturen in Frage stellt und sie schmerzlich einer Wahrheitsprüfung unterzog, so geschah das doch nicht unerwartet.“ Anstatt Deutsche oder Polen zweiter Kategorie zu sein, so Bartodziej, würden etliche es vorziehen, Schlesier der ersten Kategorie zu sein, denn sie lebten hier ja seit Generationen. Deshalb bezeichnete er das Ergebnis in gewissem Sinne durchaus als positiv: „Das ist ein positiver Schritt in Richtung Bürgergesellschaft.“ (ebenda, S 20)

Bekenntnis zur schlesischen Nation ...

Auf der anderen Seite herrschte unter den Aktivisten der Bewegung für ein Autonomes Schlesien (Ruch Autonomii śląski-RAś) helle Freude über das herausragende Ergebnis. Vor der Wahl hatte man mit höchstens 100.000 Bekenntnissen zum Schlesiertum gerechnet und hätte auch das als großen Erfolg erachtet. Die RAś schreibt sich durchaus mit Recht diesen Erfolg auf ihre Fahne. Sie war es nämlich, die im Jahre 2002 durch eine breite Informationskampagne dafür eintrat, bei der Volkszählung auch mit „Schlesier“ antworten zu dürfen, wobei sie von der örtlichen und regionalen Presse unterstützt wurde. Letztlich wurde dies von staatlicher Seite öffentlich gebilligt. So wurde laut Bericht über die Volkszählung definiert:

„Nationalität bedeutet die deklarative (gestützt auf subjektivem Empfinden) individuelle Bewertung eines jeden Menschen, der seine emotionale (gefühlsmäßige), kulturelle oder genealogische (auf dem Hintergrund der Herkunft der Eltern) Beziehung mit einem bestimmten Volk ausdrückt.“

und weiter heißt es:

„Die formulierte Frage wie die angenommene Definition der Nationalität sind so offen, dass sie es einer Person erlauben, sich individuell, entsprechend dem eigenem Verständnis des Begriffes Nationalität zu bezeichnen. Die Auswerter der Volkszählung waren verpflichtet, jede von Personen ausgeführte Antwort zu notieren, die im Zusammenhang mit dem Thema Nationalität stand“. (Raport z wyników Narodowego Spisu Powszechnego Ludności i Mieszkań 2002, Rozdział 2. Struktura sopołeczna ludności, www.stat.gov.pl; eigene Übersetzung)

Ihre Werbekampange, sich bei der Volkszählung als Schlesierin bzw. Schlesier zu bezeichnen, führte die RAś auch in den Gebieten, in denen die deutsche Minder-heit besonders stark ist und wo die TKSN etliche Bürgermeister stellt, z.B. im Oppelner und Rybniker Gebiet, mit Erfolg durch.

Die Arbeit der RAś ist eigentlich nur die Fortführung ihrer Vorgängerorganisation, der man Ende der 90er Jahre vom obersten polnischen Gerichtshof die Anerkennung verweigerte, da es eine schlesische Nationalität nicht gäbe. Dieser „Bund der Bevölkerung Schlesischer Nationalität“ (Związek Ludności Narodowości śląskiej) klagte gegen die Verweigerung der Registrierung vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, das seine Klage aber zurückwies. Anfang Juli dieses Jahres begann die Berufungsverhandlung, wo man mit dem Ergebnis der Volkszählung trefflich argumentieren konnte. Mit einem Urteil des Straßburger Gerichtshofes ist im Herbst zu rechnen.

Die RAś hat immer betont und betont weiterhin, dass sie keine staatliche Loslösung von Polen wünscht. Deren Mitglieder fühlen sich als Schlesier oder polnische Schlesier, die die persönliche Staatszugehörigkeit zu Polen nicht in Frage stellen (s.a. grauer Kasten auf S. 4). Die RAŒ verweist auch auf die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung zum EU-Referendum wie auch die Zustimmung zum EU-Beitritt in Schlesien besonders hoch waren. Sie ist offen für die Zusammenarbeit mit verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kräften und bildete beispielsweise bei den Kommunal- und Wojewodschaftswahlen im letzten Jahr gemeinsame Listen mit Mitgliedern oder ausgeschlossenen Mitgliedern der TKSN.

... oder regionale Identifikation?

Viele Wissenschaftlerinnen, wie die schlesische Professorin und Senatorin Dorota Simonides, und Journalisten, die vor der Volkszählung mit ungefähr 300.000 Bekenntnisdeutschen gerechnet haben, versuchen das Schlesische Phänomen damit zu erklären, dass ein Bekenntnis zu einer konkreten Nationalität in Gebieten mit starkem autochthonen Anteil immer heikel ist und stark von politischen wie auch sozialen Faktoren abhängt. Eine schlesische Nation halten sie weiterhin nicht für existent. So steht der Journalist des Dziennik Zachodni, Krzysztof Karwat, mit seiner Meinung nicht alleine, wenn er im o.g. Tygodnik Powszechny feststellt: „Muss ich angesichts der Nationalen Volkszählung nun meine Diagnose widerrufen? Nein. Weiterhin behaupte ich, dass es eine „natio silesia“ nicht gibt. Obwohl man zufügen muss, dass niemand ausschließen kann, dass sie in Zukunft entstehen kann. Die nationenbildenden Prozesse sind lebendig und verschieden, man kann sie nicht dekretieren. Was fängt man nun mit 173 Tausend Deklarationen an? Nichts. Sie sind vor allem eine laute Manifestation der Verschiedenheit, der Andersartigkeit und innerkultureller Verknüpfungen, die die Schlesier verbinden. Das ist ein lesbares Signal, dass sich die Schlesier nicht gleichschalten lassen wollen, sie auch keine „Gleichmacherei“ in der Zeit nach der Volksrepublik haben wollen.

Und das ist sehr gut so.“.

Bundesdeutsche Reaktionen

Wie soll man sich nun erklären, dass dieses Ergebnis der Volkszählung in Deutschland bisher (Mitte August) kein Echo fand? Es ist ja schon interessant wie Informationen, die so total die alten Vorstellungen widerlegen, an die man sich gewöhnt hat oder zu denen man sich aus Staatsräson gezwungen hat zu glauben, ignoriert werden. Es gibt sie nicht, die 300.000, 500.000 oder wie manchmal erklärt 1.000.000 Deutschstämmigen, die, wenn man sie nur lässt, sich zum Deutschtum bekennen. Denn eins ist festzuhalten: Die Möglichkeit, sich zum Deutschtum zu bekennen, war uneingeschränkt möglich. Es gab keinen staatlichen Druck, niemand musste Angst haben. Nur der eigene Wille, sich dazu zu bekennen, war nötig. Und der war nicht vorhanden...                                                    m

 

[Wir waren immer Schlesier]

Bürgermeister Mrowiec [der schlesischen Gemeinde świerklany bei Rybnik – d. Übersetzer] (er gehört der RAś an) stellt fest, dass in der Gemeinde keine Agitation für das Schlesiertum betrieben wurde: „Wir fühlen und fühlten uns seit Generationen als Schlesier, sogar in der Zeit, als Polen auf den Landkarten gar nicht existierte.“

Weshalb siegte dann hier das Schlesiertum über das Polentum? Um das zu erklären, sagt Mrowiec, muss man die Geschichte dieses Gebietes kennen, seine Familie anschauen und die Liebe der Ein-heimischen zu ihren kleinen Vaterländern verstehen: „Seit Jahrhunderten lebten wir unter fremder Knute, aber wir blieben uns, den Schlesiern, treu.“

Mit der nationalen Identifikation der in Schlesien lebenden Bevölkerung war es im Laufe der Geschichte unterschiedlich. In diesem Gebiet, abhängig von der jeweiligen Situation, bekannte man sich mal zu einem Deutsch-Schlesier, mal zu einem Polen-Schlesier, einem Tchechischen-Schllsier oder zu einem Schlesier schlechthin. Solche Schicksale bereitet die Geschichte allen Gesellschaften, die in Grenzgebieten leben. Als in Deutsch-land 1910 eine Volkszählung durchgeführt wurde, bezeichneten sich 95% der Bewohner des dörflichen Gebietes, auf dem sich heute świerklany befindet, als Polen. Während des 1. Weltkrieges war der Großvater des Bürgermeisters in der deutschen Armee und kämpfte gegen die Franzosen, nahm aber danach an den [schlesischen – d. Übersetzer] Aufständen teil und kämpfte nun gegen die Deutschen. Während des Plebiszites 1921 sprachen sich 85% der Bewohner świerklanys für Polen aus und im gesamten Rybniker Gebiet über 65%. Der Vater des Bürgermeisters, der schwerkranke 88-jährige Wiktor Mrowiec, kann sich nicht mehr über die schlesische Wiedergeburt freuen: „Er lobte immer das Vorkriegspolen und die Autonomie Schlesiens“, erinnert der Sohn. „Er sagte, dass sei eine Zeit gewesen, in der die Schlesier-Polen mit erhobenem Kopf gehen konnten.“

1939 diente Wiktor Mrowiec in der polnischen Armee, kämpfte gegen die Hitlerleute und fiel in Gefangenschaft, aus der er Mitte 1940 nach Hause zurückkehrte. Aber schnell fand er sich als Zwangsarbeiter wieder. Von dort versuchte er zu fliehen, aber er wurde gefasst. Nun hatte er die Wahl: Lager oder Wehrmacht. Er wählte die deutsche Armee. Gegen Ende des Krieges kämpfte er an der Westfront, floh, schloss sich der Anders-Armeee an und kämpfte gegen die Deutschen (in den Polnischen Bewaffneten Streitkräften dienten im Westen ungefähr 200.000 Schlesier). Nach Polen kam er per Schiff 1946 zurück, wo er sich zu seinem kleinen Vaterland hingezogen fühlte, aber bereits bei der Landung wurde er wie ein Verräter Polens behandelt. „Während der gesamten Zeit der VRP [Volksrepublik Polen – d. Übers.] verbot man, ihm der Kombatantenorganisation beizutreten“, sagt sein Sohn. So galten diejenigen wie er für die nach Schlesien zugewanderte Bevölkerung als Schwaben, Kreuzritter oder Deutsche. „Dabei haben wir in der Familie niemanden mit deutscher Herkunft. Nichts verbindet uns mit ihnen. Deshalb verkümmerte mit der Zeit bei meinem Vater wie bei anderen das Polentum und als erste Stelle begann sich das Schlesiertum durchzusetzen.“

aus: Narodziny narodu, śląsku mniejszość, Jan Dziadul, Polityka Nr. 28 vom 12. Juli 2003, 20-21; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum