Und Schlesier gibt es doch!

Von Marcin Pazurek

 

Die Ergebnisse der ersten allgemeinen Volkszählung in Polens dritter Republik überraschten alle – 173.000 Personen erklärten ihre schlesische Nationalität. Die Schlesier sind die größte nationale Minderheit, auf dem zweiten Platz die Deutschen – mit 150.000. Aber eigentlich sind die schlesischen Deutschen, jedenfalls die Mehrheit von ihnen, ebenfalls Schlesier. Sogar wenn wir anerkennen, dass 300.000 Menschen in zwei schlesischen Wojewodschaften - śląsk und Opole – das Polentum abgelehnt haben, wobei das noch kein großer Prozentsatz ist, reicht das hin, um die politischen und kulturellen Eliten unserer Region in helle Aufregung zu versetzen.

 

Die Vertreter der schlesischen Autonomiebewegung (Ruch Autonomii śląska – RAś) triumphieren. Jerzy Gorzelik, der Anführer der Bewegung, berief sich in seiner schlüssigen Argumentation vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen-rechte in Straßbourg am 2. Juli auf die gerade veröffentlichten Ergebnisse der Volks-zählung. Dort forderte er die Registrierung des Bundes der Bevölkerung schlesischer Nationalität (Związek Ludności Narodowości śląskiej - ZLNŒ). Der Kom-mentar des Vertreters der polnischen Regierung war eine Blamage – Professor Krzysztof Drzewicki redete an der Sache vorbei. Er verlegte sich angesichts des für den Betrachter offensichtlichen Fehlens vernünftiger Argumente aufs Scherzen. Zweifel an der Existenz einer schlesischen Nationalität in dieser Situation, in der 173.000 Personen aus freiem Willen ihre Zugehörigkeit zu eben jener erklären, zeigen das Unbehagen der polnischen Behörden.

Im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Volkszählung lohnt es, an einen anderen Fakt aus der zeitgenössischen Geschichte Schlesiens zu erinnern – die Massenabwanderung der Oberschlesier nach Deutschland, die 1945 begann und bis heute anhält. Die Schlesier haben nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Füßen abgestimmt. Heute kann man getrost sagen, dass mehr gebürtige Oberschlesier und ihre Nachfahren in Deutschland wohnen als in Polen.

Wer und was sind schuld?

Die Resultate der Volkszählung geben Anlass zum Nachdenken. Warum wählten fast 350.000 Einwohner Schlesiens eine andere Nationalität als die polnische? Heute kann man im Unterschied zur Volksabstimmung in den Nachkriegsjahren nicht alles auf die Zeiten der Germanisierung und Siedler aus dem Inneren des Reiches abwälzen. Deutsche Siedler gibt es schon lange nicht mehr, und nach dem Krieg hatten wir eine 50 Jahre andauernde und wirksame Polonisierung. Ungeachtet dessen sind die Ergebnisse nicht erfreulich. Welche Fehler im Verhältnis zu Schlesien und den Schlesiern begingen polnische Regierung und Gesellschaft?

Um diese Frage zu beantworten, muss man auf die Zwischenkriegszeit zurückblicken, als man ungeachtet des autonomen Charakters der Schlesischen Wojewodschaft begann, den Schlesiern lediglich die eine „richtige“ Art des Polentums aufzuzwingen. Die Schlesier, könnte man sagen, bescherten die Polen sich selbst. Ein bedeutender Teil der Bewohner Oberschlesiens unterstützte die Aufstände in dem Glauben, danach endlich selbst über sich bestimmen zu können. Die schlesische Arbeiterklasse glaubte, dass mit dem Anschluss Schlesiens an Polen die Ausbeutung durch das deutsche Kapital enden würde. Es kam anders. Sogar wenn deutsches Kapital verschwand, wurde es durch französisches, amerikanisches oder polnisches ersetzt.

Die Lage der schlesischen Arbeiter verschlechterte sich erheblich, anstatt sich zu verbessern, insbesondere in der Krisenzeit seit den dreißiger Jahren. Die Hoffnung darauf, dass die Schlesier endlich selbst über sich entscheiden könnten, verschwand schnell.

Ungeachtet einer breiten Autonomie wurden die Behörden in der Schlesischen Wojewodschaft durch von außen kommende Menschen beherrscht.

Nach Schlesien kamen Beamte, Lehrer, Priester und Militärs, besonders während der Amtszeit des langjährigen Wojewoden Michał Grażyński [1926-1939 – d. Übersetzer]. Willkürlich wurde eine Polonisierung durchgeführt, die die Schlesier von ihrer Vergangenheit abschnitt. Mit der Überzeugung, alles in Schlesien habe erst im Jahr 1922 begonnen, ignorierte man einen bedeutenden Teil der Tradition und des Erbes Oberschlesiens. Die Beseitigung der deutschen Wurzeln ging soweit, dass in Katowice von 1922 bis auf den heutigen Tag keine Straße den Namen der Stadtgründer Grundmann und Winckler trägt, nur deshalb, weil sie Deutsche waren.

Nationalistisch gefärbter Stalinismus

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr Schlesien die wahrscheinlich schlimmste Art von Stalinismus in stark nationalistischer und revanchistischer Färbung. Im Gegensatz zum Rest des Landes, wo die Repression vor allem Menschen in Verbindung mit ihrer Klassenherkunft berührte, waren die Schlesier ohne Charakterisierung ihrer Klassenzugehörigkeit Ziel des stalinistischen Repressionssystems. So wie die Polen zur Zeit der Volksrepublik unter sich über Katyn flüsterten, so flüsterten die Schlesier über die Lager in świętochłowice, Jaworznia und Łambinowice. Bis heute erinnert man sich in vielen schlesischen Häusern daran, wie bald nach dem Einmarsch der Sowjetarmee vom Markt in Katowice, die Gliwicka-Straße entlang, über Chorzów Tausende Einwohner schlesischer Städte nach Œwiêtoch³owice getrieben wurden. An fast jeder Querstraße wurden es mehr. Die Mehrheit der nach świętochłowice Vertriebenen kehrte nie in ihre Häuser zurück. Die Behörden behandelten die Schlesier wie Verräter, begannen Massenprozesse, d.h. erniedrigende Vorstellungen, während derer Familiemitglieder aufeinander gehetzt wurden und Denunziation gefördert wurde. Die Angeklagten mussten ihr Polentum nachweisen. Die Vertreibungsaktion hatte die Bestrafung von Nazi-Verbrechern und NSDAP-Mitgliedern zum Ziel, um endlich alle so genannten Verbrecher aus Schlesien hinauszuwerfen. Allerdings war die Mehrheit der wirklichen, nicht vermeintlichen Verbrecher, wie hohe Funktionäre der NSDAP, noch vor dem Einmarsch der Sowjetarmee aus Schlesien geflüchtet. Verbrecher hätte man in der Tiefe des Reiches suchen sollen, aber nicht in Schlesien, wo sie schon nicht mehr waren. Die traumatischen Erlebnisse der ersten Jahre nach dem Krieg nahmen den Schlesiern wirkungsvoll die Zuneigung zum neuen System. Bis heute besteht ein grundlegender Unterschied im Verhältnis zum vergangenen System zwischen den Arbeitern aus Oberschlesien und den Menschen aus dem benachbarten Revier Dąbrowskie. Die Menschen aus dem Re-vier werden das ehemalige System mit sozialem Aufstieg und dem Ende der Angst vor dem Okkupanten und Kapitalisten verbinden, im historischen Gedächtnis der Schlesier bleiben Angst und ein Gefühl der Reserviertheit gegenüber dem Neuen. Der soziale Aufstieg, der im Zuge der Entstehung der Volksrepublik breite Schichten der Polen erfasste, betraf nur in sehr geringem Umfang die Schlesier. Im Rahmen eines zentralistisch-sozialistischen Staates begann man die Klassen-unterschiede auszugleichen und bei der Gelegenheit ebenfalls das Lebensniveau in den verschiedenen Regionen des Landes. Die Schlesier haben davon wenig profitiert, ehrlich gesagt, sie haben wohl eher verloren. Die Wohnungen nach neuestem Standard waren für die Neuankömmlinge von außen bestimmt, die Einheimischen warteten zehn und mehr Jahre auf solche Wohnungen. Große Investitionen, die zur Zeit der Volksrepublik Oberschlesien erreichten, konzentrierten sich hauptsächlich auf das Revier D¹browskie und einige schlesische Städte: die Hauptstadt der Region – Katowice, daneben Tychy und Jastrzębia-Zdrój. Große Investitionen umgingen viele oberschlesische Städte wie Chorzów, Zabrze, Gliwice oder Bytom. Dutzende Schulen, Parks, wie der wojewodschaftseigene Kultur- und Erholungspark oder das Symbol Oberschlesiens – die Sport- und Kongresshalle „Spodek“, wurden hauptsächlich auf Kosten der zu der Zeit prosperierenden schlesischen Hütten und Bergwerke gebaut.

Graupensuppe statt Arbeit

Die Regierungen der Dritten Republik änderten wenig in dieser Hinsicht. Es entstanden einige Vereine in der Art des Oberschlesischen Bundes. Viele Politiker und Vertreter der Selbstverwaltungen brüsten sich aus Anlass von Wahlen ihres Schlesiertums. In den zurückliegenden Jahren ging von schlesischem Boden leider die am stärksten antischlesische und zu-gleich am meisten gegen die Arbeiter gerichtete Regierung des neuen Systems, die Regierung Jerzy Buzek, hervor - übrigens in bedeutendem Maße gefördert durch das Wirken des Oberschlesischen Bundes. Die Arbeiterklasse in unserer Region wurde in den letzten 14 Jahren wirksam dezimiert. Allein im Steinkohlebergbau waren während des alten Systems 300.000 Arbeiter beschäftigt. Heute ist ihre Zahl um mehr als die Hälfte geringer.

Die polnischen politischen Eliten laufen internationalen Ölkonzernen hinterher, hauptsächlich angelsächsischen und russischen. Die polnische Wirtschaft stellt sich immer mehr von der Steinkohle auf alternative Energieträger um. Die Worte des Außenministers W³odzimierz Cimoszewicz, gedacht als Rechtfertigung des polnischen Engagements im Irak, wonach es nötig sei, Erdöl- und Erdgasquellen für die polnische Industrie zu suchen, bestätigt nur diese Tendenz. Schlesien hört auf, für Polen wichtig zu sein.

Die Schlesier verstehen es, daraus Schlüsse zu ziehen und suchen ihr ökonomisches Interesse woanders. Nicht durch Zufall war hier die Unterstützung für die Integration in die EU am größten, die laut Prognosen des Senators Jerzy Markowski zukünftig bedeutende Energiereserven benötigen wird. 

Schlesien könnte in Zukunft für das so genannte alte Europa (Frankreich, Deutschland, Belgien), durch die Amerikaner abgeschnitten von Öl und Gas, zu einer Art Energiereservoir werden.

Bei anderer Gelegenheit

Die Aktivisten der Autonomiebewegung (RAŒ), die Initiatoren der ganzen Verwirrung, sollten von Seiten der sozial engagierten schlesischen Linken sorgsam be-achtet und mit Vorschlägen konfrontiert werden. Grundlage ist aber, dass ihrem ökonomischen Programm mehr Aufmerksamkeit geschenkt werde als der von ihnen erträumten selbstregierten Wojewodschaft Schlesien. Ich denke, dass sie sich sehr wohl bewusst sind, dass die Schlesier eine sehr egalitäre, sich auf Lohnarbeit stützende Gesellschaft sind. Ob es einem gefällt oder nicht, die Wirtschaft Schlesiens wird sich auf die Schwerindustrie stützen, vor allem auf Bergbau und Hüttenwesen. Vom Zustand dieser Branchen der schlesischen Industrie hängt das Wohlergehen anderer Wirtschaftssektoren, des Handels sowie von Bildung und Kultur ab. Die schlesischen Autonomieanhänger sollten sich Unterstützung bei Gewerkschaften und Arbeitslosen- sowie Mieterverbänden ohne Ansicht von Herkunft oder Geburtsort suchen. Eine große Bedrohung für die schlesische Autonomiebewegung wäre ein Aufhetzen der Schlesier gegen die zugezogene Bevölkerung. Ohne auf die demographischen Daten zu schauen: Die gebürtigen Schlesier alleine hätten keine Chance, den Kampf um die Selbstverwaltungen zu ge-winnen – sie brauchen auf jeden Fall einen guten Teil der Zugezogenen. Bisher ist ein solcher Wille in den Reihen der RAŒ nicht zu erkennen, es dominiert eher die sinnlose Freude darüber, dass die Zugewanderten Oberschlesien wieder verlassen. (...)                                                                                                               m

 

Marcin Pazurek, ślązacy jednak istnieją, Robotnik śląski, Nr. 7/2003, Übersetzung: Sebastian Nagel, Warschau/Berlin