Sirenengesang

Wohin – SLD?

Von Julian Orwicz

 

Was gibt es neues in der Politik? Die Krise der SLD, die alle Betrachter ob ihres Ausmaßes überrascht. Jüngst urteilte auch Mieczys³aw F. Rakowski, dass dem augenblicklichen politischen System in Polen womöglich nur Übergangscharakter zuzuschreiben sei. Er deutete an, dass nach UW und AWS auch die SLD für ihre Regierungszeit eine bittere Rechnung präsentiert bekommen könnte. Noch ist es nicht so weit, denn nach Umfragewerten rangieren die Linksdemokraten immer noch ganz vorne, wobei der Abstand zu den „Verfolgern“ zusehends schmilzt. Außerdem, das wissen die Politiker seit dem überraschen Aus von AWS und der UW bei den letzten Parlamentswahlen nur zu genau, ist der polnische Wähler, was die Verlässlichkeit solcher Umfragen betrifft, letztlich unberechenbar. Also wird bereits hier und da über eine „vierte“ Republik gemutmaßt, die das Ende der jetzigen „dritten“ besiegeln und die politischen Karten völlig neu mischen würde. Wer so diskutiert hat mit der SLD in Gedanken bereits abgeschlossen. Würde es soweit kommen, hätten die gesamten Kräfte des Runden Tisches von 1989 praktisch ausgedient.

 

Als einer der ersten schlug Rakowski, den Luxus der Ferne von Amt und Würden ausnutzend, die Alarmglocke. Bereits nach den verlorengegangenen Kommunalwah-len im Herbst 2002 nahm er kein Blatt vor den Mund und stellte den Ernst der Situation unumwunden dar. Während die Verantwortlichen in der SLD sich zumeist im Schönreden der Zahlen übten, versuchte er vor allem den dramatischen Wählerrückgang und den Verlust einstiger Hochburgen zu thematisieren. Noch musste es sich als einsamer Rufer in der Wüste vorkommen. Trotz Rückgang der absoluten Wählerzahl auf unter 50% im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2001 und auf immerhin 65% im Vergleich zu den letzten Kommunalwahlen (1998) blieb vielen SLD-Kollegen der kleine Trost, von allen angetretenen Parteien immerhin noch die meisten Wählerstimmen auf sich vereint zu haben. Spätestens aber nach der Aufkündigung des Regierungsbündnisses mit der traditionsreichen Bauernpartei (PSL) durch Leszek Miller im Februar 2003 sollte vielen Beobachtern klargeworden sein, dass der stolze und scheinbar unbeirrt seine Bahnen ziehende SLD-Dampfer in gefährliches Wasser geraten war. Der Regierung aus SLD und UP stand keine parlamentarische Mehrheit mehr zur Seite, kaum jemand mochte glauben, dass ein solcher Zustand bis zum normalen Ende der Legislatur im Jahre 2005 zu halten sei. Miller rettete sich zunächst durch den Verweis auf das Referendum zum EU-Beitritt, dem aller parteipolitischer (also: kleinlicher) Streit nachgeordnet werden müsse. Präsident Kwaśniewski mischte sich während der laufenden EU-Kampagne ein, indem er verkündete, nach erfolgreichem Referendum werde es eine Regierung mit parlamentarischer Mehrheit ohne eine vorgezogene Parlamentswahl geben. Miller zögerte nicht lange und überraschte mit einem beinahe genialen Schachzug. Ein wiederholtes Mal wollte er sich der Öffentlichkeit als starker Macher präsentieren, was ihm auch gelang. Da im Sejm mittlerweile Dutzende Abgeordnete nicht mehr in ihren ursprünglichen Fraktionen sitzen, machte der Premier leichte Beute, denn wohl kaum einer dieser Abgeordneten wollte ein vorschnelles Ende der Legislaturperiode riskieren. Er rief ein konstruktives Vertrauensvotum aus und bekam, was er haben wollte: Die Bestätigung, dass seine Regierung im Sejm die Mehrheit besitzt, auch wenn zahlenmäßig SLD und UP ohne PSL strukturell eine Minderheitsregierung bilden müssen. Die nächsten Parlamentswahlen werde es erst turnusmäßig im Jahre 2005 geben. Die Medienwelt bescheinigte dem Premier auch einen klaren Sieg nach Punkten, wodurch der Präsident, wollte er glaubhaft bleiben, Revanche auf des Gegners Platz, nämlich auf den für Ende Juni angekündigten und mit Spannung erwarteten SLD-Parteitag nehmen musste.

Im Vorfeld des Parteitags wurde kräftig und heftig diskutiert. Die Krise, in die sich die eigentliche Regierungspartei monatelang hineinmanövriert hatte, war zu offensichtlich geworden. Hauptschauplatz war die eher konservativ ausgerichtete Tageszeitung „Rzeczpospolita“, deren Spalten im Mai und Juni Woche für Woche der staunenden Öffentlichkeit unterschiedlichste Sichtweisen und Einschätzungen vorstellte. Interessantes Indiz: Egal aus welcher politischen Richtung diskutiert wurde, beinahe unisono wurde als Rezept zur Gesundung empfohlen, die SLD müsse wieder zurückfinden zu ihren linken Wurzeln, weil dort ihr angestammter Platz sei. Des Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden strammer Marsch ins politische Zentrum stand somit zur Disposition, weshalb er mit starker Munition dagegen hielt: Mit einem ausgesprochen „linken Programm“ ließen sich in Polen nur höchstens 12 bis 15% der Wählerstimmen gewinnen. Wenn die Partei bei den Wahlen jedoch über 40% der abgegebenen Stimmen bekommen habe, müsse sie dem Rechnung tragen. Folglich könne die SLD keine ausgesprochene Linkspartei sein, gehöre vielmehr in die politische Mitte und schlage sich dort übrigens prächtig. Wer in der SLD anderes wolle, möge seine programmatischen Thesen doch dem deutschen Reformator gleich an die Tür anschlagen, an die des Parteisitzes in der Warschauer Rozbrat-Straße. Seinen Kritikern, die vermehrtes soziales Engagement und eine den Namen gerechtwerdende Sozialpolitik forderten, hielt er auf dem Parteitag ärgerlich entgegen, sie sollten doch weniger reden und so wie er selbst regelmäßig einen nennenswerten Betrag für karitative Zwecke spenden. Zusammen mit dem Einsatz für ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum – wofür er und seine Regierung vor der polnischen Bevölkerung in der Pflicht stehen – wäre das die augenblicklich bestmögliche Sozialpolitik.

Ganz Unrecht hat der Parteivorsitzende mit seinem Bild der Partei nicht, denn mit der 1999 erfolgten Gründung der Partei SLD erfolgte eine Weichenstellung, die aus dem bis dahin eher locker zusammengehaltenen Wahlbündnis linker Parteien und Organisationen (z. B. auch Gewerkschaften) eine straff und, wie es lange Zeit den Anschein hatte, erfolgreich geführte Partei machte. Verdienst und Werk wohl vor allem eines Mannes – Leszek Millers.

Der Auftritt des Präsidenten auf dem Parteitag indes war indes überraschend. Obwohl Kwaśniewski bis zu seiner ersten Wahl ins Amt (Dezember 1995) die Geschicke der vor allem aus ehemaligen PVAP-Mitgliedern neugebildeten Sozialdemokratie Polens leitete, aus der im Kern 1999 die SLD hervorging, hatte sich in der Zwischenzeit die Beziehung zwischen Präsidenten und seinen ehemaligen Parteikollegen merklich abgekühlt. Er will Präsident aller Polen sein und deshalb konsequent über den parteipolitischen Gräben stehen. Einzig zwischen „proeuropäischen“, also „gesunden“, und den „europaskeptischen Parteien“ wollte er noch unterscheiden. Sein Erscheinen auf dem Parteitag, offiziell begründet mit der Tatsache, dass die SLD nicht nur Regierungs-, sondern auch mit Abstand stärkste Partei des Landes sei, musste also gewichtigen Grund haben. In der Tat ermahnte der Präsident die Partei zur Überraschung zahlreicher Beobachter und scheinbar ganz im Sinne der zahlreichen linken Kritiker zu mehr Engagement in der sozialen Frage: Der Platz der Partei könne nicht auf Seiten der Reichen und Erfolgreichen sein! Die Partei müsse zu ihren Wurzeln stehen und demzufolge der Sorge um die vom marktwirtschaftlichen System benachteiligten Menschen programmatisch größeren Platz einräumen.

Ein einziger im Saal wenigstens hörte die Nachtigal trapsen: Leszek Miller, der frisch gekürte alte und neue Parteivorsitzende. Wollte der Präsident ihn wegloben, hin zu den besagten 12-15% der Linkswähler? Zu wenig für einen Politiker solchen Formats. Wie beliebt er es auf Veranstaltungen auszudrücken? Die Klasse eines Politikers zeige sich nicht darin, ob er Parteisääle für sich gewinnen, sondern ob er in der Gesellschaft etwas bewegen könne. Die aktuellen Zustimmungswerte für den Premierminister liegen übrigens bei knapp 15%, also noch weit unterhalb der Notierungen für die SLD, die sich immerhin zwischen 20 und 25% ansiedelt, immer dichter gefolgt wie gesagt von den anderen, die so allmählich sich Siegchancen bei den kommenden Parlamentswahlen auszurechnen beginnen. Voraussetzung allerdings wäre ein Mindestprogramm, auf das die zerstrittenen Oppositionsparteien sich einigen könnten. Da die politische Mitte noch recht auffällig durch die aktuelle SLD-geführte Regierung repräsentiert (manche meinen: okkupiert) wird, keine leichte Aufgabe. Wohl auch deshalb kam es kurz nach dem Parteitag im Juli zu einem bemerkenswerten Zwischenfall. Präsident Kwaśniewski äußerte sich in einem Interview mit der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ sehr abschätzig über das weithin als links geltende Tageblatt „Trybuna“, die als Blatt „linker Frustrationen“ er bezeichnete. So, als ob die Mahnungen auf dem Parteitag nie gefallen wären. Chefredakteur Barański, der politisch sein Blatt weitgehend auf Miller-Linie eingestellt hat – Ausnahme sind einzelne Feuilletons und eine überaus bemerkenswerte Freitagsbeilage („Aneks“) - antwortete postwendend. Die beißende, auf einen Opportunisten gemünzte Ironie erinnerte sogar ein wenig an den ehemaligen „Nie“-Redakteur.

Doch alle diese eigenwilligen Scharmützel vermögen nichts an der Tatsache zu ändern, dass der Parteitag eigentlich keinerlei Folgen zeitigte. Mangels personeller Alternative blieb wohl alles beim Alten. Die Kritiker mit sozialem Gewissen, die deshalb nicht zur Ruhe kommen, setzen sich zusammen aus alter Garde – der eingangs erwähnte Rakowski und Jerzy Wiatr. Letzterer versucht nahezu vergeblich wenigstens ein Quäntchen „sozialdemokratischen Gewissens“ einzufordern. Rakowski und Wiatr gelten nicht zu unrecht als geistige Taufpaten der SLD-Formation. Die Transformation zur heutigen SLD haben sie lange Zeit mitgetragen, betrachten den derzeitigen Zustand jedoch als überaus bedenklich. Sie glauben, dass die politischen Alternativen eine weitaus schärfere kapitalistische Gangart verheißen. Dazu gesellen sich mehr oder weniger prominente Einzelstimmen, von denen hier vor allem die Philosophie-Professorin Maria Szyszkowska genannt werden sollte. Sie, eine krasse Außenseiterin im politischen Geschäft, 2001 jedoch für die SLD in den Senat gewählt, begeistert oder entsetzt gerade je nach politischem Standpunkt durch einen mutigen Gesetzentwurf, nach dem auch in Polen Lebensgemeinschaften gleichgeschlechtlicher Partner zugelassen werden könnten. Als Vorsitzende der Landes-Ethik-Kommission der SLD kämpft sie einen wohl aussichtslos zu nennenden Kampf, in dem sie den Parteifreunden den Kantschen kategorischen Imperativ als Handlungsmaxime anzuempfehlen versucht. Was sie von Millers „karitativer Lösung“ der sozialen Frage hält, drückte sie bei Gelegenheit einmal so aus: „Von meinem durch Kant inspirierten Standpunkt aus ist Mildtätigkeit keine Art, sich einem Menschen gegenüber zu verhalten. Derartige Akte können höchstens ein augenblicklich drängendes Problem einer betreffenden Person lindern helfen und verbessern das Selbstgefühl der vermögenden oder besitzenden Person.“ Übrigens: Mit der PVAP hatte Frau Szyszkowska weiß Gott nie etwas am Hut – das Gegenteil ist der Fall!

Auffälligster und zugleich bissigster Kritiker indes ist ein alter Bekannter auf der publizistischen Bühne. Janusz Rolicki, von 1997 bis Anfang 2000 Chefredakteur der „Trybuna“, dann auf Anraten des SLD-Parteivorsitzenden wegen der allzu forschen Einstellung in sozialen Fragen und der kritischen Haltung zum NATO-Überfall auf Jugoslawien gefeuert. Rolickis „Trybuna“, ein Sprachrohr auch für die vielen Benachteiligten und Unzufriedenen, war für das große, stolze Projekt 40+x ganz einfach nicht tauglich. Dass er sich nun bei bester Gelegenheit als scharfsinniger und entschiedener Kritiker zeigt, liegt auf der Hand. Manch einem in der SLD gilt er als unzurechnungsfähiger Wirrkopf, der übelste Nestbeschmutzung betreibt. Wie kaum ein anderer vermag er die Dinge jedoch beim Namen zu nennen: „Um zu begreifen, was sich im gegenwärtigen Regierungslager tut, ist es nötig, mit Distanz auf den gesamten Prozess der Systemveränderung zu schauen. Obwohl im Ausland angenommen wird, dass gerade in Polen der Transformationsprozess ungewöhnlich gut verlaufen ist, sind die zahlreichen, in 14 Jahren begangenen Fehler und Sünden allzu offensichtlich. Zu den wichtigsten zählt neben der bekannten Tatsache hoher Arbeitslosigkeit und der Beseitigung ganzer Industriebereiche die Herausbildung oligarchischer Verhältnisse.“     

Soweit über Neuigkeiten in der Politik, die auf drei Säulen sich stützt: EU-Beitritt, außenpolitisches Renommee und Wirtschaftswachstum.                                    m