Export-und Agrarprobleme erschweren Polens Aufholprozess

Von Hans-Georg Draheim

 

Nach dem Verlust seines Jobs in einer Oppelner Metallwarenfirma sowie der Pleite seines kleinen Familienunternehmens, in dem Parketthölzer für den Export an einen deutschen Zwischenhändler zugeschnitten wurden, hatte Pjotr Sowa einen Neuanfang in der Agrarwirtschaft seines Heimatortes versucht. Doch inzwischen sind auch diese Hoffnungen samt der Aussichten auf schnelle EU-Fördermittel dahin.

 

Nun gehört Pjotr zum Heer der mehr als 2,7 Millionen polnischen Arbeitslosen. Der Traum vom Aufstieg in den neuen polnischen Mittelstand ist wahrscheinlich für immer geplatzt. Zusammen mit der Arbeitslosenunterstützung von 300 Z³oty im Monat reicht das laufende Einkommen der Sowas gerade noch aus, um das Existenzminimum von 400 Z³oty zu sichern. Die Zeiten des schnell verdienten Geldes und üppiger Einkaufstouren im Supermarkt auf der grünen Wiese scheinen endgültig vorbei zu sein. Zu den 77,5 Prozent der Polen, die an die Urnen gingen und für den EU-Beitritt votierten, gehörte seine Stimme jedenfalls nicht. „Die EU will doch nur die eigenen Agrarprodukte bei uns verkaufen, und wir werden dabei zugrunde gehen“, schimpft Pjotr.

Dennoch hat die hohe Zustimmung der Polen zu Europa ein positives Echo ausgelöst, wenn auch nur 68,8 Prozent der Wahl-berechtigten an die Wahlurnen gingen. „Das Resultat ist ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte. Eine große, stolze Nation hat sich von einem tragischen Jahrhundert verabschiedet“, sagte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi.

Doch die polnische Regierung unter Leszek Miller braucht für die zum EU-Bei-tritt noch ausstehenden Reformgesetze eine breite Mehrheit im Parlament. Die Konjunkturflaute sowie etliche Korruptionsaffären hatten Millers Regierung zuletzt stark geschwächt. Die große Mehrheit der Polen indes ist fest davon überzeugt, dass der Rückstand Polens gegenüber Westeuropa sowohl wirtschaftlich als auch sozial nur im Rahmen der Europäischen Union zu überwinden ist. Doch die Kluft ist vor allem wirtschaftlich noch sehr tief und die Erwartungen der Polen sind sehr hoch, aus zeitlicher Sicht vielleicht zu hoch angesichts der gravierenden strukturellen Probleme, die es im Land an der Weichsel noch zu lösen gilt. Zu Letzteren gehört vor allem die Überwindung der Schwächen der polnischen Agrar- und Exportwirtschaft, um den Aufholprozess des Landes wieder stärker beschleunigen zu können.

Großer Rückstand bei der wirtschaftlichen Produktivität

Unter den mitteleuropäischen Beitrittskandidaten ist Polen, gemessen an der Bevölkerungszahl und am Bruttoinlandsprodukt, das größte und wirtschaftlich wichtigste Land, es ist größer als Tschechien, Ungarn und die Slowakei zusammen genommen. Doch hinsichtlich der wirtschaftlichen Produktivität hat Polen im Verhältnis zum EU-Durchschnitt noch die größten Rückstände zu verzeichnen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner erreichte Polen im Jahre 2001 erst 39Prozent des EU-Durchschnitts, während die Slowakei mit 48 Prozent, Ungarn mit 51 Prozent und Tschechien mit 59 Prozent für den wirtschaftlichen Zusammenschluss offenbar besser gerüstet sind.

Noch deutlicher sind die Unterschiede zu Deutschland. Während ein Arbeitnehmer in der polnischen Industrie 2001 brutto mit monatlich umgerechnet 438 Euro nach Hause ging, brachte es sein deutscher Kollege im früheren Bundesgebiet auf immerhin 2872 und in den neuen Bundesländern auf 2012 Euro.

Der Weg, der erforderlich ist, um diesen verhältnismäßig großen Rückstand allmählich weiter abzubauen, wird für viele Polen noch durch ein tiefes Tal der Tränen führen.

Dazu gehört vor allem der konfliktreiche Prozess, der die Entwurzelung von Millionen kleinbäuerlicher Existenzen zur Folge hat, der aber zugleich mit dem Aufbau einer neuen ökonomischen und sozialen Perspektive dieser Menschen verbunden sein muss. Das polnische Dorf wird die „Idylle der Rückständigkeit“ abstreifen und schrittweise durch eine moderne Sozial- und Infrastruktur ersetzen.

Ähnlich tiefgreifend sind die ökonomischen und sozialen Veränderungen, die für große Bereiche der Industrie, vor allem im Bergbau und in der Schwerindustrie, im Gange sind, um die Weltmarktfähigkeit der polnischen Exportwirtschaft deutlich zu erhöhen. Vor allem auf diesen Bereich konzentrieren sich die gravierenden strukturellen Schwächen der Wirtschaft an der Weichsel. Während die polnische Industrie das Dreifache der Produktion Ungarns oder Tschechiens erzeugt, wird beim Export nur etwa das gleiche Niveau wie in jedem dieser Länder erreicht. Die Schwäche der polnischen Exportwirtschaft bescherte dem Lande in den vergangenen Jahren ein beachtliches Leistungsbilanzdefizit, das jährlich zwischen fünf und zehn Milliarden US-Dollar erreichte, was nicht ohne negative Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Wachstumsdynamik geblieben ist. Der wachsende Güterbedarf wurde in  zunehmendem Maße durch höhere Importsteigerungen gedeckt, während die heimische Industrie am Markt das Nachsehen hatte.

Wachstumsschub wird benötigt

Um wettbewerbsfähiger zu werden, braucht die Leistungsfähigkeit der polnische Industrie einen deutlichen Wachstumsschub, der, ähnlich wie in Tschechien und Ungarn, nur durch einen spürbaren Investitionsschub erreicht werden kann. Während diese beiden Länder ein starkes Wachstum der Investitionen zur Moder-nisierung der wirtschaftlichen Basis vor allem im Bereich der Exportwirtschaft zu verzeichnen hatten, war in Polen im starken Maße der Konsum die Grundlage des wirtschaftlichen Wachstums.

Es zeigt sich jedoch, dass nur durch das Wachstum von Investitionen neue und moderne Arbeitsplätze entstehen können, die für den strukturellen Wandel und ein ausreichendes wirtschaftliches Wachstum im Lande unverzichtbar sind, um das Ausmaß der Arbeitslosigkeit in Grenzen zu halten. Während die Arbeitslosenquote für Polen mit etwa 20 Prozent beziffert wird, ist die Situation in Ungarn mit einer Arbeitslosenquote von 6 Prozent und in Tschechien von etwa 9 Prozent weitaus günstiger. In diesem Zusammenhang sollte auch nicht übersehen werden, dass die ausländischen Direktinvestitionen in Polen seit dem Jahr 2000, als, gemessen durch den Anteil am Bruttoinlandsprodukt, noch beachtliche 5,9 Prozent erreicht wurden, kontinuierlich gesunken sind, und zwar auf 1,5 Prozent für 2002, wobei auch für 2003 noch keine Wende zum Besseren erkennbar ist.

Die anhaltende strukturelle Wachstumsschwäche führt unverkennbar zu einer wachsenden finanziellen Belastung im polnischen Finanzhaushalt. Will Polen jedoch weiterhin erfolgreich auf EU-Kurs bleiben, so muss auch bei den Staatsfinanzen langfristig eine Konsolidierung erreicht werden, was eine stärkere Orientierung am Defizitkriterium Brüssels von unter drei Prozent zur Voraussetzung hat.

Doch finanzielle Stabilität und hohes wirtschaftliches Wachstum gleichen einem Spagat, dessen erfolgreiche Bewältigung durch Polens Wirtschaft und Politik die wichtigste Voraussetzung ist, um den Vollzug des Anschluss an Europa in der vorgesehenen Frist zu erreichen. Dazu gehört zwangsläufig die allmähliche Angleichung der Wirtschafts- und Lebensbedingungen der Beitrittsländer an das Niveau Westeuropas. Doch der Abstand zwischen den Ländern dieser Regionen ist, wie sich beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner zeigt, noch erheblich. So würde Polen bei einem jährlichen Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von drei Prozent etwa 15 Jahre benötigen, um den derzeitigen EU-Durchschnitt zu erreichen. Da auch der EU-Durchschnitt weiter wachsen wird, kommen für die erforderliche Dauer des Aufholprozesses noch weitere Jahre hinzu.

Doch gegenwärtig beginnen der polnischen Regierung die Schuhe aus politischen und wirtschaftlichen Gründen stärker zu drücken als bisher.

Hohes Haushaltsdefizit

Denn das Wirtschaftswunder an der Weichsel scheint, zumindest vorläufig, verflogen zu sein. Die hohen Wachstumsraten der polnischen Wirtschaft von bis zu sieben Prozent pro Jahr gehören längst der Vergangenheit an. Im Jahr 2001 kam Polen mit 0,1 Prozent Zunahme des Bruttoinlandsprodukts nur knapp an der Rezession vorbei und das Jahr 2002 brachte nicht den erhofften Durchbruch. Ein starker Z³oty drückt auf den Export, doch die Aussichten auf den lang ersehnten Überschuss in der polnischen Leistungsbilanz und ein stärkeres Plus beim Bruttoinlandsprodukt für das laufende Jahr von mehr als drei Prozent haben sich dennoch verbessert. So wird es aus Brüsseler Sicht voraussichtlich auch möglich sein, den Finanzhaushalt 2003 nicht höher als mit einem Defizit von 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu belasten, was nicht ausreichend, aber dennoch eine Verbesserung gegenüber dem Vorjahr (minus 5,1 Prozent) ist.

Bedeutende Zusammenarbeit in den Grenzgebieten und Euroregionen

Im Kontext dieser grundlegenden wirtschaftlichen und politischen Probleme zeigen die Gebiete der gemeinsamen Euroregion entlang von Oder und Neiße, worauf es im Alltag schon jetzt für die Menschen ankommt: auf grenzübergreifende Projekte für die Infrastruktur wie Straßen- und Brückenbau, auf die Gründung gemeinsamer Wirtschaftsunternehmen, auf vielfältige gemeinsame Vorhaben in den Bereichen, Kultur, Bildung und Tourismus sowie Gesundheit und Sport. Doch das Wichtigste ist die Begegnung der Menschen von diesseits und jenseits der Oder und Neiße. Die Stadt Gorzów beispielsweise, die grüne Lunge Westpolens, wirbt intensiv um deutsche Gäste. Mit vielfältigen kulturellen Sehenswürdigkeiten und Veranstaltungen, mit einer vorzüglichen Gastronomie in den zahlreichen Restaurants der Stadt, wozu auch mehrsprachig gestaltete Speisekarten gehören, und vielem mehr gibt sich die Stadt einen zunehmend europäischen Anstrich. Dazu gehört nicht zuletzt die Pflege kultureller Traditionen.

Auch das Collegium Polonicum in Słubice und die Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder zeigen exemplarisch, was grenzüberschreitend in Europa möglich ist. Beide Städte sind wichtige Glieder in der Brückenfunktion zwischen West und Ost, vor allem in einer gemeinsamen Bildungspolitik. Andererseits kommen von den etwa 30 Professoren der Universität derzeit nur vier aus Polen. Ähnlich krass sind die Unterschiede beim Anteil der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Universität. Nur unter den Studenten sind die Gewichte annähernd normal verteilt.

Trotz gelegentlicher politischer Gewitterwolken am europäischen Himmel ist der eingeschlagene Weg des Zusammenschlusses der Länder des Kontinents mehr oder weniger nur noch eine Frage der Zeit.                                                                                                                                                                                        m