Erst die deutschen Hausaufgaben machen

Die zwei Projekte für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ sind nur vor dem Hintergrund einer unaufrichtigen Vertriebenenpolitik verständlich

Von Eva und Hans Henning Hahn

 

Zwei Projekte eines Zentrums gegen Vertreibungen machen zur Zeit die Runde in der deutschen Diskursarena. Der Bund der Vertriebenen (BdV) setzt sich für ein Zentrum als eine nationale Gedenkstätte ein, während der SPD-Abgeordnete Markus Meckel ein „Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“ propagiert und dafür auch Fürsprecher in mehreren östlichen Nachbarstaaten fand. Der Vorschlag einer Europäisierung der Erinnerung will erklärtermaßen den Vertriebenenverbänden die Stirn bieten, gibt aber gleichzeitig auch Anlass zu misstrauischen Fragen, drängt sich doch bei genauerer Lektüre die Nähe zu deren Traditionen auf.

 

Europäisierung ist kein neuer Gedanke. Auch die Chefin des BdV, Erika Steinbach, 1943 als Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten im polnischen Rumia geboren, ermahnt schon lange die Deutschen, die gesamteuropäische Bedeutung ihres eigenen Opferschicksals zu erkennen: „Wer die deutschen Opfer nicht auch als europäische Opfer anerkennt, lebt in überholten nationalistischen Kategorien und hat Europas Geist nicht verstanden“ (SZ vom 25. April 2002).

Der ihr zur Seite stehende Sozialdemokrat Peter Glotz, 1939 in dem damals dem Großdeutschen Reich zugeschlagenen tschechoslowakischen Städtchen Cheb ge-boren, beklagt den europäischen Irrweg des Nationalstaats und betont die Notwendigkeit, auch das Erinnern international zu gestalten: „Versöhnung ist nur möglich, wenn beide Seiten klar machen, dass sie die Verbrechen der Vergangenheit bedauern“ (taz vom 4. Juli 2002). Unermüdlich fordert ferner der 1956 im badischen Pforzheim geborene CSU-Politiker Bernd Posselt Veränderungen in der Rechtsordnung in Tschechien, die er für unvereinbar mit der europäischen Rechtsordnung hält: „Wir wollen mitarbeiten an einer neuen Völkerordnung“ (Sudetendeutsche Ztg. vom 8. Juni 2001).

Beide Projekt-Entwürfe beschwören die europäische Gemeinsamkeit und in beiden steht eindeutig die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa im Mittelpunkt. Beide beziehen sich auf ethnische Säuberungen wie auf einen Bazillus, der die Europäer im 20. Jahrhundert mit einer Epidemie überzogen habe. Nun soll von deutscher Seite für das Heil der künftigen Generationen Europas gesorgt werden. Die Meinungsunterschiede betreffen nur die Frage, ob dabei die anderen weniger oder mehr miteinbezogen werden sollen.

In beiden Fällen werden am Ende viel beschriebenes Papier, Bilder, Filme und Ausstellungen eine gewichtige Interpretation dessen konstruieren, was sich im 20. Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent ereignet habe; und kaum jemand wird mit ihr konkurrieren können. Bei dem kleinen, nationalen Vorschlag von Erika Steinbach wird ein Pole oder ein Tscheche wenigstens noch sagen können, es sei eine deutsche Interpretation, aber bei dem anderen Projekt wird man kaum noch Abweichendes öffentlich zu Gehör bringen können, denn schließlich hat die Interpretation hier ja eine europäische Sanktion erhalten, ist im Namen Europas festgeschrieben worden.

Wichtigster Stein des Anstoßes in beiden Texten ist jedoch die Verschleierung historischer und politischer Zusammenhänge durch das Schlagwort „ethnische Säube-rungen“. Es suggeriert, die Sehnsucht nach ethnischer Homogenität sei der Hauptgrund dafür gewesen, dass die Gegner Hitlerdeutschlands während des Zweiten Weltkriegs auf die Idee gekommen seien, deutsche Minderheiten aus Osteuropa auszusiedeln. Die Chimäre des mono-ethnischen Staates sei die Ursache dafür gewesen, warum sie die furchtbaren Umsiedlungen sanktioniert hätten.

Der Mythos vom deutschen Osten

Dabei wird unterschlagen, dass es der großdeutsch-völkische Unwille, die Multikulturalität des östlichen Europa zu akzeptieren und zu respektieren, war, der die ethnische Säuberung Ostmitteleuropas herbeigeführt hat. Da sollte man sich an jenen Auftakt erinnern, von dem Hans Ulrich Wehler im Zusammenhang mit der Aus-weisung von 32.000 Polen im März 1885 gesprochen hat. Gehört nicht auch der im 19. Jahrhundert ausgebildete Mythos vom deutschen Osten und einer deutschen Mission im Osten in diesen Zusammenhang?

Die am Ende des Zweiten Weltkriegs im gesamten nichtdeutschen Europa vorherrschende Akzeptanz des Gedankens, die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa sei eine Notwendigkeit, ist ohne eine klare Benennung der Kausalitäten nicht erklärbar. Dennoch: Die Vertriebenenorganisationen haben da aus ihrer Sicht keinen Hehl gemacht: „Wenn diese Beschlüsse auch als Reaktion auf den vom deutschen Nationalsozialismus ausgelösten zweiten Weltkrieg erscheinen, so wird es doch täglich klarer, dass sie in erster Linie ein Triumph der slawisch-nationalistischen Bewegung waren, die dem deutschen Nationalsozialismus ebenbürtig an die Seite zu stellen ist“, hieß es 1950 in der Einleitung eines Sammelbandes sudetendeutscher Wissenschaftler; dem müsse man „eine europäische Konzeption“ entgegensetzen (H.Preidel Hg., Die Deutschen in Böhmen und Mähren. Ein historischer Rückblick, 1950). Bei dem Bemühen darum, mit einer konzeptionellen Europäisierung den Nationalsozialismus „ebenbürtig“ zu machen, spielte die Verdrehung der Kausalitäten (nicht der Zweite Weltkrieg mit seinen Ursachen und genozidalen Erscheinungsformen, sondern traditioneller slawischer Deutschenhass) eine ausschlaggebende Rolle. Wenn einzelne tschechische oder polnische Stimmen damals und heute den Transfer der Deutschen, wie es in Potsdam hieß, mit ethnischen Argumenten zu rechtfertigen bemüht waren oder noch sind, so ist das bedauerlich und wird zu Recht kritisiert. Die Vertreibung, 1945 durchgeführt und in Potsdam sanktioniert, war die Frucht einer Ratlosigkeit angesichts des Krieges und seiner Vorgeschichte. Dies mit dem Schlagwort ethnische Säuberung zu europäisieren, ist keine adäquate historische Interpretation. Es verschleiert, verdeckt, vernebelt und führt letztlich dazu, den Nationalsozialismus und seine Praxis „ebenbürtig“ zu machen.

Für die Vertriebenenverbände und ihre seit über 50 Jahren als ready-made angebotene Argumentationsfigur erweist sich die Vokabel „ethnische Säuberung“ heute als höchst dienlich. Wäre es nicht an der Zeit, zunächst die deutschen Hausaufgaben zu erledigen, bevor man daran geht, das europäische Gedächtnis an die Vertreibungen zu gestalten?

Dazu gehört die Frage, warum die Unrecht-Rhetorik der Vertriebenenverbände in keinem einzigen europäischen Staat bis heute positiven Anklang fand? Warum steht die Bundesrepublik Deutschland allein in ihrem Beharren darauf offiziell die Beschlüsse von Potsdam nicht als geltende völkerrechtliche Dokumente anzuerkennen? Warum hat das von bundesrepublikanischen Völkerrechtlern propagierte „Recht auf Heimat“ keinen Anklang in der internationalen Völkerrechtswissenschaft gefunden?

Missbrauch der Erinnerung

Der Gedanke, dass „eine Politik der sog. ethnischen Säuberung zu Gunsten eines homogenen Staatsverbandes“ aus heutiger Sicht abzulehnen sei, gehört zum Allgemeingut; zur Popularisierung dieser Erkenntnis braucht Europa kein spezielles Dokumentationszentrum. Niemand hat je das individuell erlittene Leid der einzelnen Vertriebenen in Abrede gestellt. Die Problematik der Erinnerungskultur an Flucht und Vertreibung liegt nicht im Mangel an Mitleid oder Einsichtsfähigkeit diesseits und jenseits der deutschen Grenzen begründet, sondern im politischen Missbrauch dieser Erinnerungen während des Kalten Krieges und der Fortführung der damals entwickelten argumentativen und rhetorischen Figuren.

Beide Vertreibungszentrums-Projekte, das Steinbachsche und das Meckelsche, sind nur auf dem Hintergrund einer unaufrichtigen bundesdeutschen Vertriebenenpolitik seit 1950 verständlich. Hier einen Ausweg zu suchen, ist sicherlich löblich. Warum aber die übrigen Mitteleuropäer dabei mithelfen sollen, die unbewältigten Probleme des deutschen Diskurses zu lösen und Hilfestellung beim Missbrauch der Vokabel „europäisch“ zu leisten, bleibt unerfindlich. So ähnlich wie die kommunistische Agitationsvokabel Klassenkampf wird heute das neumodische Zauberwort „ethnische Säuberung“ benutzt, um konkretes Geschehen zu verschleiern und Unterschiedliches über einen Kamm zu scheren.

Der notwendigen und erkenntnisfördernden Polyphonie historischer Erinnerungen, Perspektiven und Interpretationen werden Schlagworte übergestülpt. Davor kann nur gewarnt werden. Eine angestrebte gemeinsame gesamteuropäische Gedächtniskultur darf nicht nationale Erinnerungsprobleme europäisch verwässern und entsorgen. Eine neue europäische Erinnerungskultur darf nicht darin bestehen, sich auf eine gemeinsame Interpretation im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners zu einigen.

Vielleicht sollte man damit beginnen, dass die deutsche Öffentlichkeit die Gepflogenheit von Abgeordneten unter die Lupe nimmt, sich als Vertriebene zu gebärden, wenn sie als Kinder von Besatzungssoldaten in Polen auf die Welt kamen; oder als Geburtsort Rahmel/Westpreußen oder Eger/Sudetenland angeben, anstatt die heute international üblichen Ortsbezeichnungen zu verwenden; oder sich auf die Vorfahren zu berufen, wenn sie sich als Sudetendeutsche präsentieren und das „Recht auf Heimat“ im benachbarten Tschechien fordern. Seit über einem halben Jahrhundert hat ganz Europa seinen Frieden mit den Folgen des Krieges gemacht. Dazu gehört auch die Tatsache, dass die früheren deutschen Minderheiten das „Recht auf Heimat“ in den östliche Nachbarstaaten unwiederbringlich verloren haben. Klare und eindeutige Stellungnahmen deutscher Politiker zu den revisionistischen Forderungen der Vertriebenenverbände würden die Erinnerungen an die Vertreibung von Altlasten des Kalten Krieges mehr befreien als irgendein noch so großes und von ambivalenten Gründungsintentionen belastetes Zentrum gegen Vertreibungen.                                                                                                                                                                                                                                     m

Eva Hahn ist Historikerin, gebürtige Pragerin und lebt seit 1968 in Deutschland, Hans Henning Hahn ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Carl v. Ossietzky Universität Oldenburg. Wir danken beiden für die Nachdruckerlaubnis des Artikels, der am  25. Juli 2003 in der Frankfurter Rundschau erschienen ist.