Vor 60 Jahren, im April 1943 begann der Warschauer Ghettoaufstand gegen die Deutsche Wehrmacht, der bis in den Mai dauerte. Allein in den Monaten Juli bis September 1942 deportierte und erschoss die deutsche Sicherheitspolizei rund 300.000 Ghettobewohner. Die Redaktion von POLEN und wir erinnert an das Leben und den Aufstand im Warschauer Ghetto, in dem wir auf eine Ausstellung hinweisen, die zur Zeit durch Nordrhein-Westfalen wandert – in Bochum wurde sie z.B. in diesem Sommer in der Katholischen Familienbildungsstätte gezeigt - und ab 2005 an einem noch zu bestimmendem Ort in NRW dauerhaft gezeigt werden soll. Wir können den Besuch der Ausstellung, die unter der Federführung des Jüdischen Instituts Warschau (ZIH) erarbeitet wurde und von Arbeit und Leben Nordrhein-Westfalen begleitet wird, sehr empfehlen. Die Ausstellung wird durch einen wertvollen Katalog ergänzt, aus dem wir leicht gekürzt den folgenden Beitrag über die Ausstellung und die Abbildungen übernommen haben.

 

Oneg Schabbat oder Freude an den Samstagstreffen Dokumente

»Die ersten Grundlagen für das Archiv schuf ich im Oktober 1939,

[ ... ] als jeder Tag neue Restriktionen für die Juden brachte.«

Emanuel Ringelblum, Ende 1943

Von Eleonora Bergmann

 

Die Sammlung von Dokumenten, die Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums im Warschauer Ghetto zusammentrugen, ist als Ringelblum-Archiv in die Geschichte eingegangen. Am 22. November 1940, eine Woche, nachdem das Ghetto von der Stadt abgeschnitten worden war, fand in der Wohnung Ringelblums in der Leszno-Straße 18 ein Treffen statt, auf dem er und seine Mitarbeiter beschlossen, nach welchen Grundsätzen und Methoden sie künftig bei ihrer gemeinsamen Arbeit vorgehen wollten. Spätere Zusammenkünfte erfolgten u.a. im Gebäude der Judaistischen Hauptbibliothek - heute Sitz des Jüdischen Historischen Instituts -, wo bis zum April 1942 auch die offiziell zugelassenen jüdischen karitativen Organisationen ihre Geschäftsstellen hatten. Die Sitzungen der Archivmitarbeiter fanden gewöhnlich samstags statt, sodass dafür und somit indirekt auch für das Archiv selbst der Deckname Oneg Schabbat, d.h. Freude an den Samstagstreffen, in Gebrauch kam.

 

Gesammelt wurden sowohl amtliche Dokumente (Bekanntmachungen der Besatzungsbehörden, Abschriften offizieller Korrespondenz, Postaufdrucke, Lebens-mittelkarten) als auch Papiere einzelner Personen (Ausweise, Arbeitsbescheinigungen, Meldekarten, Einberufungsbescheide zur Zwangsarbeit); man dokumentierte die wirtschaftliche und kulturelle Tätigkeit, führte Untersuchungen aufgrund von Umfragen durch, fertigte Berichte über die Lage verschiedener Berufs- und Bevölkerungsgruppen an - wobei unter letzteren Kindern und Frauen ein gesteigertes Interesse galt -, trug Berichte über das Schicksal der Juden in anderen Distrikten und Ghettos zusammen, vervollständigte bereits laufende Listen von Umsiedlern und Zwangsarbeitern. Desgleichen befinden sich im Archiv auch Materialien derjenigen Organisationen, die im Sommer 1942 die Jüdische Kampforganisation (ZOB) gründeten. Für ein Projekt »Zweieinhalb Jahre« [zu ergänzen: Krieg; E.B.] wurde an Arbeitsthesen und Sachbeiträgen gearbeitet. Bevor sie abgeschlossen werden konnten, setzten am 22. Juli die täglichen Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka ein. Nahezu alle diese Dokumente dienten daher zugleich als Unterlagen für die alarmierenden Berichte, mit denen die westlichen Alliierten von der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung im deutsch besetzten Polen informiert werden sollten und die seit März 1942 über die Vertretung der polnischen Exilregierung nach London gelangten.

Die Materialien, die für die Archivsammlung vorgesehen waren, wurden zur Sicherheit an mehr als nur einem Ort versteckt. Bereits Mitte Juli 1942 hatten polnische Untergrundorganisationen warnend auf die Gefahr hingewiesen, die den Bewohnern des Warschauer Ghettos durch geplante Massendeportationen drohte. Nach dem 22. Juli, dem Beginn der sog. Großaktion, entschloss sich die engere Führungsgruppe von Oneg Schabbat, die Sammlungen zu sichern. Jedoch geschah dies erst am 3. August, als in Durchführung der deutschen Ausrottungspläne bereits den 13. Tag in Folge jeweils zwischen sechs- und zehntausend Menschen in das eigens eingerichtete Vernichtungslager Treblinka geschafft worden waren. Israel Lichtensztajn, ein Mitarbeiter des Archivs, und seine beiden Schüler Nachum Grzywacz und Dawid Graber verpackten die Dokumente in zehn Metallkästen, die sie anschließend im Keller des Schulgebäudes in der Nowolipki-Straße 68 vergruben.

Wer vom Oneg Schabbat-Kreis den Deportationen entgangen war und den sie begleitenden Terror zwischen Sommer und Frühherbst überlebt hatte, setzte in den darauf folgenden Monaten im sog. Restghetto die Sammelarbeit fort. Zwischen dem 18. und 22. Januar 1943 forderte die nächste »Aktion«, worauf diesmal die Selbstverteidigung von Seiten der Jüdischen Kampforganisation reagierte, auch unter den Oneg Schabbat-Mitarbeitern weitere Opfer. Ende Februar 1943 wurde die nächste Partie Archivalien ebenfalls im Keller der Schule in der Nowolipki-Straße 68 in Sicherheit gebracht; nun in zwei großen Milchkannen, die eingemauert wurden. Ein dritter Teil des noch vorhandenen Materials wurde auf dem Grundstück świętojerska-Straße 34 in der Nacht zwischen dem 18. und 19. April versteckt, d.h. un-mittelbar vor dem Aufstand im Ghetto.

Der erste Teil des Archivs konnte am 18. September 1946 aufgrund genauer Angaben von Hersz Wasser geborgen werden. Auf den zweiten Teil stieß man erst am 1. Dezember 1950 bei Erdarbeiten. In der Nähe der Stelle, wo sich der dritte Teil der Archivalien hätte befinden sollen, wurden lediglich einige stark beschädigte Seiten aus einem Heft gefunden: Es waren die Überreste der Tagebuchaufzeichnungen von Szmuel Winter, einem Mitglied von Oneg Schabbat.

Der geborgene Bestand des Untergrundarchivs des Warschauer Ghettos, der in beliebiger Reihenfolge hastig verpackt worden war, ist seit ca. 50 Jahren Gegen-stand einer mit wechselnder Intensität betriebenen Forschung von Archivaren, Historikern und Wissenschaftlern anderer Disziplinen. Gegenwärtig sind der For-schung 1692 Archiveinheiten zugänglich; jede von ihnen enthält zwischen einem oder über einem Dutzend [verschiedenartiger] Dokumente: kurze Notizen nur auf einem Blatt oder Zettel bis hin zu mehrseitigen Ausarbeitungen. Die Dokumente sind in Polnisch, Jiddisch, Deutsch und Hebräisch verfasst. Handschriften und Typoskripte (einschließlich ihrer Abschriften mit Hand oder Schreibmaschine) stellen den überwiegenden Teil der Archivalien dar und haben völlig verschiedenes Format. Als Schreibpapier wurde zumeist Altpapier jeglicher Art, Durchschlagpapier und Firmenpapier aus der Vorkriegszeit verwendet; geschrieben wurde zumeist mit Tinte oder Kopierstift. Verschiedentlich wurden von einigen Aufzeichnungen mehrere Kopien angefertigt. Außerdem gehören zum Bestand etwa 70 Fotografien, ferner Aquarelle, Handzeichnungen und eine über 40 Titel umfassende bedeutende Sammlung der Untergrundpresse aus dem Ghetto. Insgesamt umfasst das Archiv etwa 30 000 Blatt.

Das Ringelblum-Archiv ist das Herzstück des Archivs des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. (...)

In der Ausstellung werden die durch Archivmaterial abgedeckte Problemfelder lediglich signalisiert; zudem berücksichtigen die ausgestellten Originaldokumente nur einige der bedeutsamsten Punkte, so die Maßnahmen deutscher Dienststellen zur schrittweisen Ausrottung der Juden und korrespondierend dazu die Bemühungen der jüdischen Gemeinschaft, ein Überleben zu ermöglichen; das Verhalten der jüdischen Bevölkerung angesichts der nahe bevorstehenden Katastrophe; die Versuche der jüdischen Untergrundorganisationen, Ziel und Umfang der deutschen nationalsozialistischen Ausrottungspolitik zu erkennen und den bewaffneten Kampf vorzubereiten. Die ausgewählten Dokumente und Exponate illustrieren die Etappen der Ausrottung und die jeweils besonders charakteristischen Erscheinungen, wie Hunger, Zwangsarbeit und das weite Feld der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe (JSS), die sich insbesondere der Unterstützung von Kindern im Ghetto widmete. Zeitgenössische Kommentare stammen von Emanuel Ringelblum aus seiner Ghetto-Chronik und von der Gruppe Oneg Schabbat, deren Berichte vom April und Juni 1942 zur Situation der polnischen Juden die Exilregierung in London alarmieren sollten.

Nicht zuletzt ist es Ziel der Ausstellung, die ebenso erstaunliche wie charakteristische Vielfalt des Quellenmaterials zu zeigen, das in knapp drei Jahren geschaffen und zusammengetragen wurde. Die Be-dingungen, unter denen dies geschah, die Realität des Warschauer Ghettos, werden nur andeutungsweise gezeigt: zum einen durch ausgewählte Fotografien und zum andern mit dem Film Oneg Schabbat von Agnieszka Arnold, die sich von Quellentexten aus dem Untergrundarchiv hat anregen und leiten lassen. Zu den Mitarbeitern von Oneg Schabbat gehörten Persönlichkeiten wie Janusz Korczak und Jehoszua Perle, die bereits vor 1939 berühmt und bekannt waren; von anderen wissen wir oft kaum etwas, mitunter wird ihre Existenz nur durch das im Archiv erhaltene Material belegt. In einigen Fällen ließ sich keine Fotografie finden, in anderen nicht einmal das Geburtsdatum. Doch ihre Todesdaten stimmen fast immer überein: 1942 oder 1943, und als Orte, an denen sie fast immer ermordet wurden, sind am häufigsten das Warschauer Ghetto oder das Vernichtungslager in Treblinka genannt.

„Oneg Schabbat ist keine Vereinigung von Wissenschaftlern, die miteinander rivalisieren und sich gegenseitig bekämpfen, sondern es ist eine Korporation, ein brüderlicher Bund, in dem jeder jedem hilft und ein und dasselbe Ziel anstrebt. Lange Monate hindurch hat der fromme Rabbiner Huberband neben Hersz Wasser, dem Vertreter der linken Poale Zion, und Abraham Lewin, dem allgemeinen Zionisten, an einem Tisch gesessen. [...] Jeder Mitarbeiter von Oneg Schabbat wusste, dass seine Mühen und Qualen, seine harte Arbeit und sein Leid und schließlich der Einsatz seines Lebens beim Befördern der Materialien von Ort zu Ort und zwar an jedem Tag 24 Stunden lang einer großen Idee dienen, und dass die Gesellschaft dies am Tag der Freiheit zu würdigen wissen und mit den höchsten Auszeichnungen belohnen würde, die einem freien Europa zu Gebot stehen.“

Emanuel Ringelblum, Ende Januar 1943

Katalog zur Ausstellung: Oneg Schabbat, Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos, Ringelblum Archiv, Zydowski Instytut Historyczny, Warszawa, War-schau 3. Aufl. 2003, ISBN 83-858888-72-1

 

Dokumentenauszug:

“Wie bei uns die Aussiedlung aussah

Aussiedlung ist etwas Grauenhaftes. Zuerst siedelten sie uns ins Ghetto aus. Jeder musste seine eigene Wohnung zurücklassen und sich irgendwo einen Unterschlupf suchen. Wenn es auch schwer fiel, so fanden wir uns doch damit ab. Lange sollte das nicht so bleiben. Wir hatten gerade mal zwei Wochen dort gewohnt, da wurde schon gemunkelt, wir würden nach Warschau ausgesiedelt werden. Das wollten wir nicht glauben. Doch es dauerte nicht lange, da hingen Bekanntmachungen in den Straßen, dass die Stadt bis 1. Februar frei von Juden sein sollte und wir nur 25 kg [Gepäck] mitnehmen dürften. Diese Nachricht traf uns schwer. Die Menschen packte Hektik, und sie fragten sich, wie das weitergehen würde. Was sollte man als erstes zusammenpacken? Wer noch Geld besaß, leistete sich ein Fuhrwerk und fuhr los; wer kein Geld mehr hatte, ging zu Fuß und ließ alles zurück. Mein Lebtag lang werde ich unsere Aussiedlung vor Augen haben.

Efrajmowicz Laja”