Teil 2 des Artikels “Generacja
nic”
Einer recht großen Beliebtheit
erfreut sich in Polen unter jüngeren Lesern eine Literatur, die im
deutschsprachigen Raum seit einigen Jahren unter der Bezeichnung „Popliteratur“
gehandelt wird, und deren hervorstechendstes Merkmal ihre strikte
Gegenwartsbezogenheit ist. Intertextuelle Bezüge zu Klassikern der jeweiligen
Nationalliteratur oder der Weltliteratur kommen, wenn überhaupt, nur am Rande
vor, im Mittelpunkt steht die Bildung eines „Archivs der Gegenwart“, d.h. der jeweils
aktuellen Meinungen, Musik- und Kleidungsstile, Fernsehprogramme usw.1
Im Mittelpunkt steht oft ein
Erzähler, durch dessen Perspektive gebrochen das Archiv der jeweiligen Moden
und Meinungen aufgebaut wird. Neben Dorota Mas³owska mit ihrem „dresiarz” wären
als weitere Vertreter der polnischen Popliteratur unter anderem Krzysztof Varga
oder Maks Cegielski zu nennen. Varga, der nach eigenen Angaben lieber
Punk-Musiker als Schriftsteller geworden wäre, lässt etwa in seinem 2002
erschienenen Roman „Tequila“ den Sänger einer polnischen Independentband auf
dem Begräbnis seines Schlagzeugerkollegen von den „guten alten Zeiten“ des
polnischen Punk, von Tourneen und den heutigen Konzertbesuchern erzählen, die
nicht mehr wissen, was die Band mit ihrer Musik vermitteln will. Cegielski ist
vor seinem letztjährigen Debüt mit dem Roman „Masala“ bereits als Moderator der
„Radiostacja“ und Musikproduzent in Erscheinung getreten. Der Held seines
Romans, die z.T. autobiographisch angelegte Figur Max, verkörpert geradezu das
Problem der „Generation Nichts“: Als junger Journalist ist er erschlagen von
der postmodernen Vielfalt, von Schauspielern, Sportlern, Politikern und
Spinnern, für die er sich von Berufs wegen zu interessieren hat. Aus der
wahnsinnigen Medienwelt flüchtet er zunächst in den Drogenkonsum, dann nach
Indien zur Selbstfindung. Man fühlt sich bei diesen Fluchtalternativen an
„Tristesse Royale“, einen Diskussionsband deutschsprachiger Popliteraten von
1999, erinnert. Auch in diesem Buch geht es um die junge Generation und ihre
Verwicklung in den allgemeinen medialen Irrsinn; am Schluss ihrer im Berliner
Hotel „Adlon“ geführten Debatte stellen die Jungautoren zwei
Fluchtmöglichkeiten aus dieser Realität in den Raum: Den Rock und das Verschwinden.
Der Rock repräsentiert für die deutschsprachigen Popliteraten die Sehnsucht
nach einem ungebrochenen, nicht remodellierbaren Lebensentwurf – für den auch
der Ich-Erzähler in Vargas Roman „Tequila“ steht, der Punk-Sänger, dessen
Vertrag von der Plattenfirma nicht verlängert wird, weil die Musik seiner Band
nicht zum neuen Image des Musikverlags passt. Und statt für die Flucht nach
Indien – wie der Held bei Cegielski – entscheiden sich die Pop-Autoren
Christian Kracht und Joachim Bessing für den Flug nach Kambodscha, denn
„Kambodscha ist das Zentrum des Verschwindens. Interpol vermutet eintausend der
meistgesuchten Schwerverbrecher dort. Wer wirklich verschwinden will, dem
sollte es dort gelingen.“2
Bei der „Tristesse Royale“ sagt
es schon der Titel: Die Verhältnisse sind im Grunde genommen hoffnungslos,
Medien und Werbung machen Hanswürste aus uns, suggerieren uns die berufliche
Perspektive eines „Schreibtischs im Nachtleben“, aber wir durchschauen die
Verhältnisse, und das reicht uns auch. Wir amüsieren uns königlich über die
Marktmechanismen, aber auch über die Leute, die glauben, innerhalb dieses
kollektiven Irrsinns noch einen Feind erkennen zu können. Sein Highlight innerhalb des Buches
„Tristesse Royale“ findet dieser Sarkasmus in der Schilderung eines gemeinsamen
Besuchs einer Antikriegsdemonstration, die als lustlose Prozession mit
slapstickhaften Zügen beschrieben wird. Benjamin von Stuckrad-Barre, einer der
an der Diskussion in „Tristesse Royale“ beteiligten Popliteraten, über seine
Erfahrung mit Demonstrationen: „Ich habe Demonstrationen eigentlich als das
Unpolitischste überhaupt erlebt. Ich empfand es aber immer als lustig, dass
alle Demonstranten stets das Gefühl hatten, sie handelten gerade politisch und
seien wehrhafte Demokraten. Dabei waren die Demonstrationen der achtziger und
neunziger Jahre nichts weiter als Klassenfahrten.“3
Kuba Wandachowicz ist dieser
Sarkas-mus fremd: „Es gibt keinen Feind mehr, dem man sich gegenüberstellen
muss, also gibt es uns nicht mehr. Aber gibt es ganz bestimmt keinen Feind
mehr? (...) Lassen wir uns nicht einreden, dass die Postmoderne das Schlagwort ´alles war schon da´ und
sonst nichts ist (...), dass die Freiheit der freie Markt sei und nichts
darüber hinaus.“ Kritisiert wurde Wandachowicz in der „Generacja nic“-Debatte
aber dafür, dass er in seinem Essay kein konkretes gesellschaftliches
Engagement der jungen Polen einfordert bzw. dieses nicht würdigt, wo es
vorhanden ist. „Wie ist die polnische Jugend? Sie ist vor allem durch und durch
gleichgültig und egoistisch“, so Andrzej Brzeziecki in einer Replik auf den
Essay von Wandachowicz4. „Menschen, denen heutzutage Unrecht geschieht, können
nicht mit der Solidarität oder auch nur dem Interesse ´der Blüte der polnischen
Jugend´ rechnen. Für den durchschnittlichen Gymnasiasten oder Studenten ist die
Frage wichtiger, ob Ken es mit Frytka getan hat oder Frytka mit Ken [Ken und
Frytka sind Spitznamen von zwei Bewohnern des letzten „Big-Brother“-Containers
in Polen, Anm. MB] (...) Die polnische Jugend (...) ist kritisch gegenüber der
bestehenden Ordnung eingestellt; ihre Meinungen über Politiker, die Kirche oder
die Schule sind eher negativ. Im Gegensatz zu den jungen Leuten jedoch, die in
Prag oder Bologna demonstrieren, versucht sie [die polnische Jugend] jedoch
nicht, gegen die Probleme anzukämpfen, sondern ignoriert sie.“
Gilt für die polnische
„Generation Nichts“ also, was Florian Illies 2000 für die „Generation Golf“ in
Deutschland konstatierte? „Das Gros der Generation Golf (...) kümmert sich
allein um die Zukunft der eigenen Arbeitsstelle und die eigene Familienplanung.
Wir glauben, dass Gesellschaft funktioniert, ohne dass man etwas dafür tun
muss, so als hätte man einen ewigen Dauerauftrag aufgegeben.“5 – Justyna Włodarczyk,
Studentin der Universität Warschau, hat dem Verdikt Andrzej Brzezieckis, die
polnische junge Generation sei politisch passiv, in einem Essay für die „Gazeta
Wyborcza“ heftig widersprochen6. W³odarczyk verweist auf sich und ihren
Freundeskreis, aus dem viele für die Rechte der Frauen in Polen eintreten: „Ich
kenne (...) viele Leute, die (...) vor kurzem ihr Studium abgeschlossen haben.
(...) Ewa ist Absolventin der Philosophie, lehrt in einer renommierten Schule
und schreibt zugleich ihre Doktorarbeit. Wir treffen uns häufig auf Kundgebungen
und Demonstrationen. Agata arbeitet in einer Stiftung, die die Geschlechterdemokratie
fördert, macht also das, was sie immer wollte, nur in etwas formellerem Rahmen.
Und in ihrer Freizeit organisiert sie feministische Camps. Joanna, Absolventin
der Polonistik, hat eine feministische Buchhandlung eröffnet, radelt durch die
Stadt und bringt ihren Kundinnen ´umstürzlerische´ Publikationen, die man
nirgendwo sonst bekommt. Sie haben sich nicht verkauft und nicht
kommerzialisiert. Sie tun das, was sie für wichtig halten.“
Doch wie sieht es insgesamt mit
dem gesellschaftlichen Engagement junger Polen aus? In Deutschland scheint ja
die Erfolgsgeschichte von Attac die These der Popliteraten von der Uncoolness
und politischen Bedeutungslosigkeit des Demonstrierens zumindest teilweise
widerlegt zu haben – auch wenn es – wie zu allen Zeiten – nur eine Minderheit
von jungen Menschen ist, die sich in Protestbewegungen organisiert. Wie
politisch oder unpolitisch die polnische Studentenschaft ist, damit hat sich im
November 2002 eine Reportage der „Polityka“ auseinandergesetzt7. Eine der
Schlussfolgerungen: „Es ist schwer, Leute zu einer Aktion zu bewegen. Sogar zu
Demonstrationen, in denen es um soziale Angelegenheiten der Studenten geht,
kommen unter hundert Personen. Die Jugendorganisationen der Parteien haben etwa
50-100 Mitglieder, am stärksten scheint hier der SLD [=die regierenden
Postkommunisten, Anm. MB] zu sein, der immer noch, trotz vieler Enttäuschungen,
junge Leute mit dem schönen Schein künftigen Einflusses anzuziehen vermag.“ Der
Affekt gegen die institutionalisierte Politik und die Politiker scheint unter
polnischen Studenten noch stärker verbreitet zu sein als unter deutschen: „Wenn
über die Politik geredet wird, hört man von Studenten äußerst oberflächliche
Urteile: Der ist ein Idiot, der andere ist ein Dorfdepp, ein dritter hat schief
sitzende Zähne. (...) Das ist, als ob sie die Sphäre des öffentlichen Lebens
und der Politik bewusst erniedrigen und sich von ihr abgrenzen wollten, und
zwar mit Hilfe von naiven, aus dem Straßenjargon entnommenen Begriffen.“
Andererseits werden die Studenten als potentieller Politikernachwuchs auch kaum
gebraucht: „Die politischen Führungskräfte suchen ihresgleichen, Leute, die in
einem Gebiet fest verwurzelt sind, eingenistet in Verhältnissen, von denen ein
Hochschulstudent in einer Großstadt nicht die geringste Ahnung hat.“ Viele
polnische Studenten halten es auch mit ihren deutschen Altersgenossen von der
„Generation Golf“ und kümmern sich vor allem um die eigene Karriere: „Die intellektuelle
Beweglichkeit ist durch die Konfrontation mit einem freien Markt unsensibler
Arbeitgeber ziemlich abgestumpft. Studenten um das vierte Studienjahr herum
sind schon von den ganzen Prüfungen völlig erschöpft, weil sie von der
Verpflichtung gejagt werden, praktische Arbeitserfahrungen zu sammeln,
natürlich meistens auf freiwilliger Basis. Die Prosa des studentischen Lebens
ist lähmend geworden, und Erörterungen über Platons Spätwerk sind Luxus.“ An
dieser Stelle muss man erklärend hinzufügen, dass der Prüfungsstress an
polnischen Universitäten ungleich höher ist als an deutschen. Nimmt man den
größeren Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt in Polen hinzu, so ergibt sich
eine deutlich ungünstigere Ausgangslage für gesellschaftliches Engagement der
Studenten und intellektuelle Betätigung außerhalb der engen Grenzen des eigenen
Studienfachs.
Wie also ist die Debatte um die
„Generacja nic“ abschließend zu bewerten? – Kuba Wandachowicz hat in seinem
Essay viele Symptome des polnischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems
aufgezeigt, die auch in Deutschland bekannt sind – die Schwierigkeiten der
Geisteswissenschaft-ler, eine ihrer Qualifikation und ihrem intellektuellen
Anspruch entsprechende Arbeit zu finden, die Pervertierung von (nicht direkt
wirtschaftlich verwertbarer) Bildung zu (rein auf Bedürfnisse der Wirtschaft
ausgerichteter) Ausbildung, die Behandlung von Kultur als Ware, in Folge dessen
die Verwechslung von Kultur und PR, wobei kommerziell nicht lukrative
Kulturproduktion ein marginales Dasein „nach Feierabend“ fristet.
In Polen allerdings sind die
Verhältnisse aufgrund der erst vor etwas mehr als zehn Jahren erfolgten
Transformation der Wirtschaft deutlich zugespitzter als in Deutschland. Vor allem
sind in Deutschland – trotz der (teils vermeintlichen, teils realen) Sachzwänge
zum Sparen – die Möglichkeiten größer, beruflich in einem Bereich tätig zu
werden, der den eigenen politischen, kulturellen oder intellektuellen
Ambitionen entspricht. Eine solche Möglichkeit, seine intellektuellen Träume
zum Beruf zu machen, wünscht auch Wandachowicz sich und anderen Angehörigen
seiner Generation. Gleichzeitig aber fordert der Sänger der „Cool Kids of
Death“ von seinen Altersgenossen die Rebellion gegen dumme Fernsehprogramme,
Chartsmusik und den Terror der Reklame. Wandachowicz´ Kritik ist im Kern Kapitalismuskritik,
scheut aber davor zurück, sich als solche zu bezeichnen. Ohnehin fällt an der
„Generacja nic“-Debatte auf, dass die Autoren der Beiträge in der „Gazeta
Wyborcza“ kaum Zusammenhänge zur globalisierungskritischen Bewegung herstellen,
sondern sich in ihrer Argumentation im Wesentlichen auf die Situation in Polen
beschränken. Dies verwundert insofern nicht, als die „antyglobaliœci” mit ihrer
linken Symbolik und Rhetorik bei vielen Polen unangenehme Erinnerungen an die
Volksrepublik hervorrufen.
Insgesamt erscheint die
„Generacja nic“ als eine Generation mit großem Pragmatismus – um nicht zu
sagen: Anpassungsdruck – in der persönlichen Lebensplanung sowie einem
fundamentalen Misstrauen gegenüber Politik, politischem Personal und Handlungs-
und Artikulationsweisen der politischen Akteure, seien sie nun im Sejm oder
außerparlamentarisch tätig. Man weiß nicht, wem man noch trauen soll, wenn der
„Big Brother“-Star Sebastian Florek mal so eben Sejm-Abgeordneter wird, der
Populist Andrzej Lepper das Parlament als Showbühne für seine Possen nutzt, und
der Rockmusiker Kuba Wandachowicz gegen den Verrat seiner Altersgenossen an den
Kommerz wettert, obwohl er selbst bei einem großen Musikkonzern unter Vertrag
steht. Die Skepsis sinkt – wie meistens – in dem Moment, in dem man die Chance
erhält, mitzumachen. Dies verbindet die „Generation Nichts“ mit der „Generation
Golf“.
1 Zur deutschen Popliteratur vgl.
die ausgezeichnete Studie von Moritz Baßler, „Der deutsche Pop-Roman“, München
2002
2 Bessing, Joachim u.a., “Tristesse Roya-le”, München 2001, S. 165
3 „Tristesse Royale“, S. 96f.
4 „Czekaj¹c na bunt – debata o pokoleniu 20-latków”, „Gazeta Wyborcza” vom
10.9.02
5 Florian Illies, „Generation Golf“, Frankfurt(Main) 2001, S. 191
6 „Nie dostosujê siê do panów”, „Gazeta Wyborcza” vom 3.10.02
7 „Marihuana, Che i inne ideologie“, „Polityka“ vom 23.11.02 m