Teil 2 des Artikels “Generacja nic”

Sinnsuche im Nichts: Der Pop-Roman

Von Mark Brüggemann

 

Einer recht großen Beliebtheit erfreut sich in Polen unter jüngeren Lesern eine Literatur, die im deutschsprachigen Raum seit einigen Jahren unter der Bezeichnung „Popliteratur“ gehandelt wird, und deren hervorstechendstes Merkmal ihre strikte Gegenwartsbezogenheit ist. Intertextuelle Bezüge zu Klassikern der jeweiligen Nationalliteratur oder der Weltliteratur kommen, wenn überhaupt, nur am Rande vor, im Mittelpunkt steht die Bildung eines „Archivs der Gegenwart“, d.h. der jeweils aktuellen Meinungen, Musik- und Kleidungsstile, Fernsehprogramme usw.1

 

Im Mittelpunkt steht oft ein Erzähler, durch dessen Perspektive gebrochen das Archiv der jeweiligen Moden und Meinungen aufgebaut wird. Neben Dorota Mas³owska mit ihrem „dresiarz” wären als weitere Vertreter der polnischen Popliteratur unter anderem Krzysztof Varga oder Maks Cegielski zu nennen. Varga, der nach eigenen Angaben lieber Punk-Musiker als Schriftsteller geworden wäre, lässt etwa in seinem 2002 erschienenen Roman „Tequila“ den Sänger einer polnischen Independentband auf dem Begräbnis seines Schlagzeugerkollegen von den „guten alten Zeiten“ des polnischen Punk, von Tourneen und den heutigen Konzertbesuchern erzählen, die nicht mehr wissen, was die Band mit ihrer Musik vermitteln will. Cegielski ist vor seinem letztjährigen Debüt mit dem Roman „Masala“ bereits als Moderator der „Radiostacja“ und Musikproduzent in Erscheinung getreten. Der Held seines Romans, die z.T. autobiographisch angelegte Figur Max, verkörpert geradezu das Problem der „Generation Nichts“: Als junger Journalist ist er erschlagen von der postmodernen Vielfalt, von Schauspielern, Sportlern, Politikern und Spinnern, für die er sich von Berufs wegen zu interessieren hat. Aus der wahnsinnigen Medienwelt flüchtet er zunächst in den Drogenkonsum, dann nach Indien zur Selbstfindung. Man fühlt sich bei diesen Fluchtalternativen an „Tristesse Royale“, einen Diskussionsband deutschsprachiger Popliteraten von 1999, erinnert. Auch in diesem Buch geht es um die junge Generation und ihre Verwicklung in den allgemeinen medialen Irrsinn; am Schluss ihrer im Berliner Hotel „Adlon“ geführten Debatte stellen die Jungautoren zwei Fluchtmöglichkeiten aus dieser Realität in den Raum: Den Rock und das Verschwinden. Der Rock repräsentiert für die deutschsprachigen Popliteraten die Sehnsucht nach einem ungebrochenen, nicht remodellierbaren Lebensentwurf – für den auch der Ich-Erzähler in Vargas Roman „Tequila“ steht, der Punk-Sänger, dessen Vertrag von der Plattenfirma nicht verlängert wird, weil die Musik seiner Band nicht zum neuen Image des Musikverlags passt. Und statt für die Flucht nach Indien – wie der Held bei Cegielski – entscheiden sich die Pop-Autoren Christian Kracht und Joachim Bessing für den Flug nach Kambodscha, denn „Kambodscha ist das Zentrum des Verschwindens. Interpol vermutet eintausend der meistgesuchten Schwerverbrecher dort. Wer wirklich verschwinden will, dem sollte es dort gelingen.“2        

Bei der „Tristesse Royale“ sagt es schon der Titel: Die Verhältnisse sind im Grunde genommen hoffnungslos, Medien und Werbung machen Hanswürste aus uns, suggerieren uns die berufliche Perspektive eines „Schreibtischs im Nachtleben“, aber wir durchschauen die Verhältnisse, und das reicht uns auch. Wir amüsieren uns königlich über die Marktmechanismen, aber auch über die Leute, die glauben, innerhalb dieses kollektiven Irrsinns noch einen Feind erkennen zu können.  Sein Highlight innerhalb des Buches „Tristesse Royale“ findet dieser Sarkasmus in der Schilderung eines gemeinsamen Besuchs einer Antikriegsdemonstration, die als lustlose Prozession mit slapstickhaften Zügen beschrieben wird. Benjamin von Stuckrad-Barre, einer der an der Diskussion in „Tristesse Royale“ beteiligten Popliteraten, über seine Erfahrung mit Demonstrationen: „Ich habe Demonstrationen eigentlich als das Unpolitischste überhaupt erlebt. Ich empfand es aber immer als lustig, dass alle Demonstranten stets das Gefühl hatten, sie handelten gerade politisch und seien wehrhafte Demokraten. Dabei waren die Demonstrationen der achtziger und neunziger Jahre nichts weiter als Klassenfahrten.“3

Politik als Dauerauftrag?

Kuba Wandachowicz ist dieser Sarkas-mus fremd: „Es gibt keinen Feind mehr, dem man sich gegenüberstellen muss, also gibt es uns nicht mehr. Aber gibt es ganz bestimmt keinen Feind mehr? (...) Lassen wir uns nicht einreden, dass die Postmoderne  das Schlagwort ´alles war schon da´ und sonst nichts ist (...), dass die Freiheit der freie Markt sei und nichts darüber hinaus.“ Kritisiert wurde Wandachowicz in der „Generacja nic“-Debatte aber dafür, dass er in seinem Essay kein konkretes gesellschaftliches Engagement der jungen Polen einfordert bzw. dieses nicht würdigt, wo es vorhanden ist. „Wie ist die polnische Jugend? Sie ist vor allem durch und durch gleichgültig und egoistisch“, so Andrzej Brzeziecki in einer Replik auf den Essay von Wandachowicz4. „Menschen, denen heutzutage Unrecht geschieht, können nicht mit der Solidarität oder auch nur dem Interesse ´der Blüte der polnischen Jugend´ rechnen. Für den durchschnittlichen Gymnasiasten oder Studenten ist die Frage wichtiger, ob Ken es mit Frytka getan hat oder Frytka mit Ken [Ken und Frytka sind Spitznamen von zwei Bewohnern des letzten „Big-Brother“-Containers in Polen, Anm. MB] (...) Die polnische Jugend (...) ist kritisch gegenüber der bestehenden Ordnung eingestellt; ihre Meinungen über Politiker, die Kirche oder die Schule sind eher negativ. Im Gegensatz zu den jungen Leuten jedoch, die in Prag oder Bologna demonstrieren, versucht sie [die polnische Jugend] jedoch nicht, gegen die Probleme anzukämpfen, sondern ignoriert sie.“

Gilt für die polnische „Generation Nichts“ also, was Florian Illies 2000 für die „Generation Golf“ in Deutschland konstatierte? „Das Gros der Generation Golf (...) kümmert sich allein um die Zukunft der eigenen Arbeitsstelle und die eigene Familienplanung. Wir glauben, dass Gesellschaft funktioniert, ohne dass man etwas dafür tun muss, so als hätte man einen ewigen Dauerauftrag aufgegeben.“5 – Justyna Włodarczyk, Studentin der Universität Warschau, hat dem Verdikt Andrzej Brzezieckis, die polnische junge Generation sei politisch passiv, in einem Essay für die „Gazeta Wyborcza“ heftig widersprochen6. W³odarczyk verweist auf sich und ihren Freundeskreis, aus dem viele für die Rechte der Frauen in Polen eintreten: „Ich kenne (...) viele Leute, die (...) vor kurzem ihr Studium abgeschlossen haben. (...) Ewa ist Absolventin der Philosophie, lehrt in einer renommierten Schule und schreibt zugleich ihre Doktorarbeit. Wir treffen uns häufig auf Kundgebungen und Demonstrationen. Agata arbeitet in einer Stiftung, die die Geschlechterdemokratie fördert, macht also das, was sie immer wollte, nur in etwas formellerem Rahmen. Und in ihrer Freizeit organisiert sie feministische Camps. Joanna, Absolventin der Polonistik, hat eine feministische Buchhandlung eröffnet, radelt durch die Stadt und bringt ihren Kundinnen ´umstürzlerische´ Publikationen, die man nirgendwo sonst bekommt. Sie haben sich nicht verkauft und nicht kommerzialisiert. Sie tun das, was sie für wichtig halten.“

Desinteresse an Politik?

Doch wie sieht es insgesamt mit dem gesellschaftlichen Engagement junger Polen aus? In Deutschland scheint ja die Erfolgsgeschichte von Attac die These der Popliteraten von der Uncoolness und politischen Bedeutungslosigkeit des Demonstrierens zumindest teilweise widerlegt zu haben – auch wenn es – wie zu allen Zeiten – nur eine Minderheit von jungen Menschen ist, die sich in Protestbewegungen organisiert. Wie politisch oder unpolitisch die polnische Studentenschaft ist, damit hat sich im November 2002 eine Reportage der „Polityka“ auseinandergesetzt7. Eine der Schlussfolgerungen: „Es ist schwer, Leute zu einer Aktion zu bewegen. Sogar zu Demonstrationen, in denen es um soziale Angelegenheiten der Studenten geht, kommen unter hundert Personen. Die Jugendorganisationen der Parteien haben etwa 50-100 Mitglieder, am stärksten scheint hier der SLD [=die regierenden Postkommunisten, Anm. MB] zu sein, der immer noch, trotz vieler Enttäuschungen, junge Leute mit dem schönen Schein künftigen Einflusses anzuziehen vermag.“ Der Affekt gegen die institutionalisierte Politik und die Politiker scheint unter polnischen Studenten noch stärker verbreitet zu sein als unter deutschen: „Wenn über die Politik geredet wird, hört man von Studenten äußerst oberflächliche Urteile: Der ist ein Idiot, der andere ist ein Dorfdepp, ein dritter hat schief sitzende Zähne. (...) Das ist, als ob sie die Sphäre des öffentlichen Lebens und der Politik bewusst erniedrigen und sich von ihr abgrenzen wollten, und zwar mit Hilfe von naiven, aus dem Straßenjargon entnommenen Begriffen.“ Andererseits werden die Studenten als potentieller Politikernachwuchs auch kaum gebraucht: „Die politischen Führungskräfte suchen ihresgleichen, Leute, die in einem Gebiet fest verwurzelt sind, eingenistet in Verhältnissen, von denen ein Hochschulstudent in einer Großstadt nicht die geringste Ahnung hat.“ Viele polnische Studenten halten es auch mit ihren deutschen Altersgenossen von der „Generation Golf“ und kümmern sich vor allem um die eigene Karriere: „Die intellektuelle Beweglichkeit ist durch die Konfrontation mit einem freien Markt unsensibler Arbeitgeber ziemlich abgestumpft. Studenten um das vierte Studienjahr herum sind schon von den ganzen Prüfungen völlig erschöpft, weil sie von der Verpflichtung gejagt werden, praktische Arbeitserfahrungen zu sammeln, natürlich meistens auf freiwilliger Basis. Die Prosa des studentischen Lebens ist lähmend geworden, und Erörterungen über Platons Spätwerk sind Luxus.“ An dieser Stelle muss man erklärend hinzufügen, dass der Prüfungsstress an polnischen Universitäten ungleich höher ist als an deutschen. Nimmt man den größeren Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt in Polen hinzu, so ergibt sich eine deutlich ungünstigere Ausgangslage für gesellschaftliches Engagement der Studenten und intellektuelle Betätigung außerhalb der engen Grenzen des eigenen Studienfachs.

Wie also ist die Debatte um die „Generacja nic“ abschließend zu bewerten? – Kuba Wandachowicz hat in seinem Essay viele Symptome des polnischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems aufgezeigt, die auch in Deutschland bekannt sind – die Schwierigkeiten der Geisteswissenschaft-ler, eine ihrer Qualifikation und ihrem intellektuellen Anspruch entsprechende Arbeit zu finden, die Pervertierung von (nicht direkt wirtschaftlich verwertbarer) Bildung zu (rein auf Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichteter) Ausbildung, die Behandlung von Kultur als Ware, in Folge dessen die Verwechslung von Kultur und PR, wobei kommerziell nicht lukrative Kulturproduktion ein marginales Dasein „nach Feierabend“ fristet.

Trau keinem, bis er dich mitspielen lässt

In Polen allerdings sind die Verhältnisse aufgrund der erst vor etwas mehr als zehn Jahren erfolgten Transformation der Wirtschaft deutlich zugespitzter als in Deutschland. Vor allem sind in Deutschland – trotz der (teils vermeintlichen, teils realen) Sachzwänge zum Sparen – die Möglichkeiten größer, beruflich in einem Bereich tätig zu werden, der den eigenen politischen, kulturellen oder intellektuellen Ambitionen entspricht. Eine solche Möglichkeit, seine intellektuellen Träume zum Beruf zu machen, wünscht auch Wandachowicz sich und anderen Angehörigen seiner Generation. Gleichzeitig aber fordert der Sänger der „Cool Kids of Death“ von seinen Altersgenossen die Rebellion gegen dumme Fernsehprogramme, Chartsmusik und den Terror der Reklame. Wandachowicz´ Kritik ist im Kern Kapitalismuskritik, scheut aber davor zurück, sich als solche zu bezeichnen. Ohnehin fällt an der „Generacja nic“-Debatte auf, dass die Autoren der Beiträge in der „Gazeta Wyborcza“ kaum Zusammenhänge zur globalisierungskritischen Bewegung herstellen, sondern sich in ihrer Argumentation im Wesentlichen auf die Situation in Polen beschränken. Dies verwundert insofern nicht, als die „antyglobaliœci” mit ihrer linken Symbolik und Rhetorik bei vielen Polen unangenehme Erinnerungen an die Volksrepublik hervorrufen.

Insgesamt erscheint die „Generacja nic“ als eine Generation mit großem Pragmatismus – um nicht zu sagen: Anpassungsdruck – in der persönlichen Lebensplanung sowie einem fundamentalen Misstrauen gegenüber Politik, politischem Personal und Handlungs- und Artikulationsweisen der politischen Akteure, seien sie nun im Sejm oder außerparlamentarisch tätig. Man weiß nicht, wem man noch trauen soll, wenn der „Big Brother“-Star Sebastian Florek mal so eben Sejm-Abgeordneter wird, der Populist Andrzej Lepper das Parlament als Showbühne für seine Possen nutzt, und der Rockmusiker Kuba Wandachowicz gegen den Verrat seiner Altersgenossen an den Kommerz wettert, obwohl er selbst bei einem großen Musikkonzern unter Vertrag steht. Die Skepsis sinkt – wie meistens – in dem Moment, in dem man die Chance erhält, mitzumachen. Dies verbindet die „Generation Nichts“ mit der „Generation Golf“.

 

1 Zur deutschen Popliteratur vgl. die ausgezeichnete Studie von Moritz Baßler, „Der deutsche Pop-Roman“, München 2002

2 Bessing, Joachim u.a., “Tristesse Roya-le”, München 2001, S. 165

3 „Tristesse Royale“, S. 96f.

4 „Czekaj¹c na bunt – debata o pokoleniu 20-latków”, „Gazeta Wyborcza” vom 10.9.02

5 Florian Illies, „Generation Golf“, Frankfurt(Main) 2001, S. 191

6 „Nie dostosujê siê do panów”, „Gazeta Wyborcza” vom 3.10.02

7 „Marihuana, Che i inne ideologie“, „Polityka“ vom 23.11.02                                                                                                                                                    m