Abkürzung nicht in Sicht

Die innenpolitische Diskussion holt sich verlorenes Terrain zurück

Von Holger Politt

 

Vielleicht werden die Monate zwischen Dezember 2002 und Dezember 2003 von Zeitgeschichtlern einst als Periode großer Fehler bezeichnet werden. Es ist aber müßig, bereits heute über dieses Attribut streiten zu wollen. Ein Beispiel: Auf einer wissenschaftlichen Konferenz der Militärakademie in Warschau wurde dem polnischen Engagement im Irak an der Seite der Bush-Administration höchstes Lob gezollt. Das Eingreifen im Irak habe die drohende Destabilisierung der ganzen Region gestoppt. Polens Ansehen als glaubwürdiger und solider Partner sei gestiegen. Wenn das Land in NATO und EU etwas zählen will, muss es bereit sein, auch in Zukunft ähnliche Entscheidungen zu treffen. Der politische Schaden – der Bedeutungsverlust der UNO und die Frontenbildung innerhalb der NATO – sei bedauerlich, dürfe jedoch nicht überbewertet werden. Doch an dieser Stelle weniger über Irakpolitik, denn die Publizistik des Landes hält sich in der Kommentierung vornehm zurück. Um so interessanter ist, was sich in der Beurteilung der innenpolitischen Lage tut.

 

Auf den vielgelesenen Meinungsseiten der „Gazeta Wyborcza“ hat sich mit einem längeren Beitrag Andrzej Walicki als Kronzeuge in Sachen Liberalismus zu Wort gemeldet. Anlass ist der praktizierte Umgang mit der Tradition des liberalen Denkens in seinem Heimatland. Eine schallende Ohrfeige - ausgeteilt ausgerechnet auf Zeitungsseiten, auf denen Woche für Woche nicht genug gewarnt werden kann vor der drohenden Unterwerfung unter alle möglichen sozialen Forderungen und Erpressungen, durch deren Berücksichtigungen das alte politische System gewissermaßen durch die Hintertür sich in die neuen Herrlichkeiten einzuschleichen drohe. Ein gerne vorgezeigter Heiliger der allzu vielen Jünger des „freien Marktes“ ist Friedrich v. Hayek, dessen Warnungen vor jeglichem staatlichen Eingriff gerne und ungeprüft für bare Münze genommen werden: „Die Unterscheidung des Liberalismus als große freiheitliche europäische Tradition vom radikal rechten Liberalismus Hayeks ist gerade in Polen unbedingt von Nöten. Die Tatsache, dass die Systemveränderung in Polen zusammenfiel mit der Periode der größten ideologischen Triumphe der Neuen Rechten, erwies sich als außerordentlich ungünstig. Dass die riskantesten und unpopulärsten Schritte der Reformer unter dem Schild des angeblich orthodoxen Liberalismus getätigt wurden, hat dem Ansehen des Liberalismus in der polnischen Gesellschaft bekanntlich außerordentlich geschadet“ („Gazeta Wyborcza“, 15./16. 11. 2003). Zudem müsse in bestimmter Hinsicht selbst Hayek vor seinen blinden Anbetern in Polen in Schutz genommen werden. Hayek postulierte sein Bild einer sich optimal regulierenden Gesellschaft ohne Staat immer auf der Basis der Annahme, dass der freie Markt als Gravitationszentrum der Gesellschaft spontan sich herausbilde und entwickle. Die Geschichte der Privatisierung in Polen aber habe mit diesem Modell einer von staatlichem Eingriff freien Entwicklung nicht viel gemein.

In Sorge ist Mieczys³aw F. Rakowski, der die SLD an einem Scheideweg sieht. Wird sie noch die Kraft haben, richtige Entscheidungen für die eigene Zukunft und für die der Gesellschaft zu fällen? Millers Regierung und die SLD, so Rakowski, seien nur noch ein Schatten ihrer selbst. „Die ideologische Gleichgültigkeit der SLD offenbart sich auf jedem Schritt. Vor wenigen Wochen hat der Parteivorsitzende [...] den Liberalismus zur Maxime der Wirtschaftspolitik der SLD erhoben und diese augenblicklich von Sozialpolitik haarscharf getrennt“ (Rzeczpospolita“, 7. 11. 2003). In diese prekäre Situation habe sich die sozialdemokratische Partei gebracht, weil von ihren Spitzenpolitikern die handfeste Krise in Partei und Regierungsarbeit leichtfertig übersehen wurde. Vielleicht aber hätte ein Einführungsseminar bei Andrzej Walicki genügt?

Pessimistisch, zugleich betont nüchtern, betrachtet „Trybuna“-Redakteur Krzysztof Pilawski die Sache. Auch wenn es in Polen für die Linke immer einen festen Platz im politischen System geben werde, egal ob in Regierungsverantwortung oder in Opposition, sei nicht ausgemacht, ob sich ein solcher Platz künftig auch für die SLD finden ließe. „Eine sachliche Debatte um die Wirtschaftspolitik könnte die gelockerten Bindungen zwischen Parteiführung und Basis wieder festigen. Es könnten die Gründe deutlich werden, weshalb die linke Regierung zu liberaler Politik flüchtet, ohne dabei mit allen Mitteln den Kult des Wirtschaftswachstums zu rechtfertigen.“ („Trybuna“, 10. 11. 2003). Vor der Haushaltsmisere allerdings kapituliert der Autor, meint schließlich nur, dass ordentliche Haushaltskonsolidierung vom linken Wähler honoriert gehört.

Zum Schluss sei Piotr Gadzinowski das Wort gegeben. Er zählt zu der wachsenden Zahl jener aktiven SLD-Politiker, die sich mit dem derzeitigen Zustand nicht abfinden wollen. Seine Kurzdarstellung der Entwicklung der Linken in Polen seit 1989 liest sich so: „Zuerst Auflösung der PVAP und zugleich Gründung der kleinen sozialdemokratischen Oppositionspartei SdRP. Der erste Start mit W³odzimierz Cimoszewicz als Präsidentschaftskandidaten war nicht schlecht, doch immer noch knapp unter 10%. Die Wahlen zum ersten freigewählten Sejm und die ersten 60 Abgeordneten. Schikaniert und ausgegrenzt. Danach die Wahlen von 1993 und der Erfolg, der die Köpfe wieder aufrichtete. Die erste Koalition aus SLD und PSL. Danach die verlorenen Parlamentswahlen von 1997, die aber einen ehrenwerten Verlierer sahen. Damals war die Linke ein Beispiel für eine starke parlamentarische Opposition. Die SLD war ein Bündnis mehrerer Parteien (u.a. SdPR, PPS), Gewerkschaften, Vereine, Jugendorganisationen. Um die Wahlen 2001 besser gewinnen zu können, wurde der Zusammenschluss gewagt. Wir bildeten die einheitliche SLD. Wir übernahmen die Regierung und ziehen jetzt den Groll vieler linker Zusammenhänge auf uns. Denn die Regierung kümmert sich in der Wahrnehmung der öffentlichen Meinung mehr um die Geschäftsleute und Reichen als um die arbeitenden Menschen und Armen.“ („Trybuna“, 15./16. 11. 2003).

Welche Auswirkungen die Tatsache haben wird, dass in zwei wichtigen politischen Strömungen Polens – im linken und im liberalen Spektrum – in großen Teilen nur noch ein sehr unklares Verhältnis zu jenen Wurzeln und Werten besteht, denen diese politischen Lager ihren Bestand verdanken, wird die nahe Zukunft zeigen. Übereinstimmend meinen die hier zitierten Autoren jedoch, dass über diese Defizite ernsthaft nachgedacht werden sollte. Im Lande selbst werde über Rolle und Platz der Polen in der erweiterten EU entschieden. Das Engagement am Golf wird dabei entgegen der Meinung der Militärstrategen keine allzu große Rolle spielen.