Grenzerfahrungen

Jugendliche erforschen deutsch-polnische Geschichte

Von Wulf Schade

 

In diesem Jahr waren die polnisch-deutschen Beziehungen von der Diskussion um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ stark geprägt. Nicht nur auf polnischer Seite befürchteten viele Diskussionsbeteiligte eine Revision der deutschen Geschichtsbetrachtung: Die Deutschen wurden zunehmend vermittels der Flüchtlinge und Vertriebenen am Ende und nach dem Kriege einseitig als Betroffene beschrieben. Durch die Betonung des deutschen Leids, das angeblich endlich mal geäußert werden könne, bekam dieses Leid eine besondere, herausragende Stellung. Das Täter-Opfer-Verhältnis kehrte sich zunehmend um. Aber nicht nur der Versuch einer Geschichtsrevision ist in dieser Diskussion von Bedeutung, sondern auch, dass sie dazu geeignet ist, Widersprüche, ja Feindschaft entlang ethnischer Linien zu schaffen. Auf diese Gefahr hingewiesen zu haben, ist wohl eines der herausragenden Verdienste der Erklärung, die wir mit unserer Veröffentlichung auf den Seiten 5 und 6 in dieser Ausgabe unterstützen.

 

Das gleichzeitig in deutscher und polnischer Sprache erschienene Buch „Grenzerfahrungen“, herausgegeben von Alicja Wancerz-Gluza und der Körber-Stiftung, weicht fast keinen Tabus der deutsch-polnischen Geschichte des vorigen Jahrhunderts aus. Trotzdem, oder besser gerade deshalb erliegt es nicht den oben beschriebenen Gefahren. In diesem knapp 400 Seiten umfassenden Buch werden 21 Arbeiten aus nationalen Geschichtswettbewerben in Deutschland und Polen veröffentlicht, die in Deutschland in den 1980er sowie zu Beginn der 1990er Jahre stattfanden .und in Polen Ende der 1990er Jahre sowie zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Diese Geschichtswettbewerbe wurden in beiden Ländern unabhängig voneinander durchgeführt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren Jugendliche, viele Arbeiten wurden als Gruppenarbeiten durchgeführt. Untersuchungsgegenstand war immer Geschichte der heimischen Umgebung auf Grundlage von Interviews und gesammelten Dokumenten – in Deutschland „Oral History“, in Polen „Historia Bliska“ genannt - unter einem Oberthema.

Nach den Vorworten von Władysław Bartoszewski und Richard von Weizsäcker gibt die Herausgeberin einen sehr interessanten Überblick über die Hintergründe der Geschichtswettbewerbe, dem zwei kurzgehaltene geschichtliche Aufsätze von Robert Traba über 50 Jahre deutsch-polnische Geschichte vor 1939 und Włodzimierz Borodziej über 50 Jahre nach 1939 folgen. Das Buch ist in seinem Hauptteil durch die Kapitel „Nebeneinander-Gegeneinander-Miteinander“ gegliedert. Vor jedem Aufsatz wird kurz der Hintergrund der Geschichte, welche Beziehung die Autorinnen und Autoren zu dem Thema haben und warum sie es aufgearbeitet haben, erläutert. Das Buch wird in der Mitte durch Fotos ergänzt, die die besprochenen Themen verdeutlichen: Fotos von polnischen Soldaten in der kaiserlich deutschen Armee, von zwangsausgesiedelten Polinnen und Polen, polnischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, Juden aus dem Ghetto in Kozienice und Warschau, Häftlingen in Auschwitz-Birkenau wie auch von von polnischen Soldaten bewachte deutsche Kriegsgefangene und Flüchtlinge bzw. Vertriebene. Am Schluss des Buches befinden sich eine Zeittafel zur deutsch-polnischen Geschichte wie auch drei historische Karten – 1914, 1941 und 1989 - sowie genauere Daten zu den jugendlichen Autorinnen und Autoren.

Es lohnt sich die Aufsätze der Reihe nach durchzulesen, man bekommt quasi einen Geschichtsunterricht durch Einzelerzählungen, der die Vielfältigkeit der gegenseitigen Erfahrungen von Polen und Deutschen nacherzählt. Im ersten Teil – „Nebeneinander“ - sind die Polen im Ruhrgebiet ebenso Thema wie das Zusammenleben von Deutschen und Polen im Kulmer Land, der Bruch der ‘normalen’ Nachbarschaft nach der Machtergreifung durch die Nazis und den Einmarsch 1939 nach Polen v.a. durch Deutsche und polnisch-deutsche Kollaborateure, – Stichwort: Volksliste 1-4 – aber auch nationalistische Polen ebenso, wie die leider nur seltene Hilfe durch Deutsche, die dem polnischen Staat gegenüber loyal blieben. Auch der Widerstand in Deutschland wird dargestellt, ebenso wie die Geschichte eines jungen glühenden Nationalsozialisten, der knapp 20 Jahre alt war, als er 1941 in der Nähe von Kiew fiel. Im zweiten Teil – „Gegeneinander“ - stehen die deutschen Verbrechen seien es die medizinischen Experimente, die Behandlung der Kriegsgefangenen, das ‚Kinderlager Litzmannstadt’ wie auch die Vertreibungen der polnischen Bevölkerung aus der Region von Zamość im Mittelpunkt der Arbeiten. Der letzte Teil behandelt die Nachkriegszeit und die Folgen für viele Polen, Juden und Deutsche, so z.B. die ablehnende Haltung der Bewohnerinnen und Bewohner von Kaunitz bei Gütersloh gegen die Unterbringung von befreiten Jüdinnen in ihrem Dorf durch die Aliierten, die Umfunktionierung von Auschwitz-Birkenau in ein Gefangenenlager für  Nazischergen und zwangsauszusiedelnde Deutsche oder auch die Aussiedlung bzw. Vertreibung nach Deutschland und die Inbesitznahme der so besitzlosen Häuser durch neu zugezogene Polinnen und Polen.

Bemerkenswert ist, dass in vielen Arbeiten der polnischen Jugendlichen darauf hingewiesen wird, dass nicht alle Deutschen grausam waren, manche sogar, so gut es ging, halfen, ebenso wenig wurde ein Bild des immer heroischen und guten Polen gezeichnet. Diese Erfahrungen führten dann auch zu Sätzen wie, „dass es nicht wichtig ist, ob du ein Pole, Deutscher, Jude, Rumäne oder Russe bist. Wichtig ist immer nur, ob du ein guter, aufrichtiger, wahrhaftiger Mensch bist.“ (Justyna D¿bik, S. 79). Trotzdem verwischt dieses Buch nicht Ursache und Wirkung der geschichtlichen Ereignisse, ist parteiisch im positiven Sinne ohne ethnische Grenzen zu ziehen. Gerade auch deshalb ist es ein äußerst lesenswertes Buch.

Alicja Wancerz-Gluza (Hrsg.), Grenzerfahrungen, edition Körber-Stiftung, Hamburg 2003, 390 S., ISBN 3-89684-040-1, 14 Euro