Loyale Nachbarn oder Feinde?
Von Paulina Tomczykowska und Krystian Chołaszczyñski
Ein Zufall wollte es,
dass Paulina Tomczykowska und Krystian Chołaszczyñski, 16-jährige Schüler
eines Oberstufengymnasiums in Inowrocław (Hohensalza), sich für die große
Geschichte zu interessieren begannen. Einer ihrer Mitschüler hatte eine alte
Tafel ins Schulmuseum mitgebracht, die er auf einer Baustelle ausgegraben hatte
und auf der in altdeutschen, sog. „gotischen“ Buchstaben geschrieben stand: „Herbert-Lemke-Straße“.
(...)
Deutsche Einwanderung
Viele deutsche Siedler waren zur Zeit Bismarcks und der berüchtigten
„Kolonisierungskommission“* ins westliche Kujawien gekommen. (...) Nach 1918,
mit der Entstehung der unabhängigen Republik Polen, fanden sich nicht alle
Deutschen mit dem Status als polnische Bürger ab. Viele wanderten ab. Bis 1921
war die Zahl der Deutschen in diesem Gebiet auf 12 333 zurückgegangen. Fünf
Jahre später waren es nur noch 8455, etwa 11,5% der Bevölkerung. (...)
In der Stadt Inowrocław selbst gab es viel mehr Polen. Im
Kriegsjahr 1939 zählte die Stadt 40 520 Einwohner, davon 39 391 Polen, 956
Deutsche und 173 Juden. (...)
Die Zeitzeugen
Uns interessierte vor allem die Zeit unmittelbar vor dem
Kriegsausbruch und die ersten Tage des Krieges, bis zur Besetzung der Stadt
durch die Wehrmacht am 8. September. (...)
An diesem Punkt können wir auf das Straßenschild aus der „Herbert-Lemke-Straße“
zu sprechen kommen, das den Ausgangspunkt unserer Recherche bildet. Kein
Historiker konnte uns erklären, woher dieser Name stammt. Die einzige
schriftliche Spur bot ein im Staatsarchiv in Inowrocław aufbewahrter
Stadtplan aus der Okkupationszeit. Schnell konnten wir uns davon überzeugen,
dass es damals noch mehr Straßen mit solchen geheimnisvollen Namen gab: die
Otto-Fuchs-Straße (die heutige Marcinkowskiego-Straße), die Julius-Kadolowski-Straße
(Orlowska-Straße), die Otto-Berndt Straße (Jacewska-Straße), die Otto-Schmidt-Straße
(Stare Miasto, Altstadt) oder die Karl-Scheidler-Straße (Młynska-Straße). Nach
näherer Analyse stellte sich heraus, dass diese keine allgemein bekannten
Personen mit besonderen Verdiensten waren. Es waren hier ansässige, völlig
durchschnittliche Bürger. Wir kamen zu der Ansicht, dass wir auf die
Erinnerungen älterer Bewohner unserer Stadt zurückgreifen mussten, um
herauszufinden, warum gerade diese Personen auf diese Weise geehrt wurden.
(...)
Sparsam und gesetzestreu
Die Deutschen galten bei den Polen als sparsame, solide und
ordentliche Menschen, die gesetzestreu sind. So hatte man die Deutschen erlebt,
als sie Kujawien in der Zeit der polnischen Teilungen regierten. Als 1939 die
Wehrmacht in die Stadt einmarschierte, trösteten sich die älteren Bewohner von
Inowrocław (Hohensalza) noch: „Das sind schließlich Deutsche, die werden
uns schon nicht ermorden!“, erinnert sich der polnische Historiker Professor
Marian Biskup, der seine Jugend in Inowrocław verbracht hat.
(...) In den Schulen
muss ein entspanntes Klima geherrscht haben. Zygmunt Fr¹szczak, Schüler der
Adalbert-Schule, erinnert sich an einen Freund: „Mein bester Freund war ein
Deutscher. Gemeinsam mit den Deutschen lernten wir und teilten sogar unser
Essen miteinander. Nach der Schule spielten wir oft noch Fußball zusammen.“ (...)
„Ein sehr anständiger
Mensch“
Einen wichtigen Bereich zwischenmenschlicher Kontakte
bildete der Arbeitsplatz. Hier gab es unabhängig von der Nationalität immer genügend
Situationen, die Missverständnisse und Konflikte verursachen konnten. Viele
polnische Jugendliche waren bei reichen Deutschen beschäftigt, zum Beispiel in
Jacewo in der Nähe von Inowrocław. So auch Genowefa Dudkiewicz, die dort
als Kindermädchen arbeitete. Sie beklagt sich nicht über ihre Arbeitgeber. Aber
ihre Feststellung: „Ich hatte es im Vergleich zu anderen Polen, die bei
Deutschen arbeiteten, gar nicht so schlecht“, suggeriert dennoch, dass es
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht immer zum Besten stand. (...) Auch
von den Polen, die in der Gärtnerei von Otto Fuchs arbeiteten, hört man
keinerlei Klagen - ganz im Gegenteil: Es heißt, er sei „ein sehr anständiger
Mensch“ gewesen.
(...)Władysław Hetmaniak erinnert sich (...) an
den deutschen Eigentümer einer Weingroßhandlung mit Namen Radetzki, der „allen
sehr wohl gesonnen“ gewesen sei. Schwer nachzuprüfen ist dagegen seine Meinung,
dass nur solche Deutsche den Polen gegenüber feindlich eingestellt waren, die
keinen eigenen Besitz, kein Geschäft oder keinen Hof hatten und für Polen
arbeiten mussten.
Kauften Polen und Deutsche vorzugsweise bei ihren jeweiligen
Landsleuten ein? In den Erzählungen unserer Zeugen taucht oft der Name des
deutschen Milchhändlers Jauch auf, der sein Geschäft in der Andreas-Straße
hatte. „Jauch war gut zu allen Angestellten und freundlich zu den Kunden“, erzählt
Izabella Piaskowska. Die Mutter von Kazimierz Strauchman „empfand keine
Verachtung für die hiesigen Deutschen“. Aber Jadwiga Gietwanowska hat etwas
ganz anderes in Erinnerung: „Die Polen unterstützten die polnische Nation, sie
kauften in polnischen Läden ein und gingen zu polnischen Ärzten“, unterstreicht
sie. Was war also die Wahrheit? Sicher verhielt es sich unterschiedlich. Es ist
verständlich, dass die Polen in vielen Fällen aus praktischen Gründen in
polnischen Läden einkauften - zum Beispiel wegen der Nähe des Geschäfts oder
weil sie seinen Besitzer kannten. (...)
Die Ruhe vor dem Sturm
Als Hitler Ende Februar 1939 den deutsch-polnischen
Nichtangriffspakt kündigte, begann ein Teil der deutschen Minderheit, eine
extrem feindliche Haltung zum polnischen Staat einzunehmen. Immer häufiger kam
es zu Spionageakten. So bildeten vorwiegend einheimische Deutsche die Basis der
von Heinrich Himmler gegründeten Geheimorganisation „Selbstschutz“, deren
Strukturen noch vor dem September 1939 etabliert waren.
Auch die Polen bereiteten sich auf einen Krieg vor. Spuren
solcher Aktivitäten finden sich in der erhalten gebliebenen Chronik der „Brüderlichen
Hilfe“ (...)
Aus den Zeitungen ergibt sich jedoch nicht, dass sich die täglichen
Beziehungen plötzlich verschlechtert hätten. Es wurden nur wenige Zwischenfälle
notiert. Ulrich Kuss erinnert sich indes, dass kurz vor Ausbruch des Krieges
ein deutscher Angestellter der Druckerei des „Kujawischen Boten“ in der Nähe
von Inowrocław von Polen getötet wurde. „Er starb nur deshalb, weil er ein
Deutscher war“, fügt er hinzu.
Tadeusz Dreliszak dagegen berichtet, dass sogar angesichts
des unvermeidlich scheinenden Krieges „wir keinerlei Repressionen von Seiten
unserer Nachbarn ausgesetzt waren“. Nur Edmund Luczkowiak erinnert sich: „Das
ganze Jahr 1938 und dann 1939 war sehr nervenaufreibend. Es gab zahlreiche
Konflikte und Zusammenstöße zwischen der polnischen Bevölkerung und der
deutschen Minderheit, die in unserem polnischen, kujawischen Boden starke und
zahlreiche Wurzeln geschlagen hatte.“ (...)
Was geschah mit den Deutschen von Inowrocław?
Es ist der 1. September 1939: Schon seit den frühen
Morgenstunden sendete der polnische Rundfunk Durchsagen über den Beginn der
Kriegshandlungen.(...)
Verdächtigungen gegenüber den Deutschen waren in diesen
Tagen an der Tagesordnung. Der Deutsche Ulrich Kuss war selbst von
Verleumdungen betroffen: „Jemand erzählte über mich, dass ich den deutschen
Fliegern mit der Taschenlampe Leuchtzeichen gegeben habe.“ Man wollte ihn aus
diesem Grunde erschießen, aber ein Mitarbeiter bürgte für ihn: „Ich kenne
diesen 14-jährigen Jungen, der macht solche Sachen nicht.“ Der Vater von Ulrich
Kuss hat weniger Glück und wird am 30. August „als Angehöriger einer
feindlichen Volksgruppe“ verhaftet und zusammen mit anderen Deutschen in
Richtung der Festung Modlin abtransportiert. (...)
„Ich hörte, wie meine Eltern mit den Nachbarn sprachen, dass
Julius Kadalowski angeblich mit Hilfe der beiden großen Spiegel Zeichen gegeben
hatte, die am Schornstein der Abdeckerei befestigt waren. Diese Zeichen waren für
die deutschen Aufklärungsflugzeuge bestimmt“, so Ludomira Kordylas.
Der deutsche Abdecker starb von polnischer Hand. Ob er tatsächlich
ein Kollaborateur war, ist nicht bekannt. Später wurde die Orlowska-Straße, in
deren Nähe er gewohnt hatte, nach ihm benannt. Ähnlich verhielt es sich
wahrscheinlich mit den anderen Deutschen, nach denen Straßen neu benannt wurden
(...). Heute kann kaum noch festgestellt werden, ob sie tatsächlich Saboteure
waren oder vielleicht nur Opfer von Verleumdungen und der allgemeinen
Kriegspsychose.
Die hier geschilderten Ereignisse bestätigt auch Professor
Marian Biskup in seinem Buch „Erinnerungen aus den Inowrocławer Jahren“: „Am
3. September brach eine Panik aus, als die schwersten Bombardierungen begannen.
Licht und Gas wurden abgeschaltet. (...) Dann begann man die Deutschen zu
internieren, leider. Es fällt mir wirklich schwer, das zu sagen. Das ist ein
bis heute nicht bewältigtes Problem, und es hat die Situation nach dem
Einmarsch der Wehrmacht am 8. September noch verschärft. Vorher waren fünf oder
sechs hiesige Deutsche ohne Gerichtsurteil getötet worden.“ Alles deutet darauf
hin, dass es viel mehr waren. (...)
Nach wem wurde die Herbert-Lemke-Straße benannt?
Diese Verbrechen zahlten die Besatzer hinterher umgehend mit
gleicher Münze heim. Außerdem stilisierten sie in Inowrocław, das fortan
wieder Hohensalza hieß, die deutschen Opfer der Region zu Märtyrern, indem sie
Straßen nach ihnen benannten.
Und so erklärt sich auch die Existenz einer „Herbert-LemkeStraße“
in unserer Stadt, deren „Geheimnis“ wir unbedingt lösen wollten. Wir
analysierten noch einmal das „Sterbebuch“ des Zivilstandsamtes von 1939. Unter
der Nr. 522 fanden wir eine sehr umfangreiche Eintragung. Wir erfuhren, dass
Herbert Lemke vor seinem Tode der Besitzer eines privaten Betriebes in der
Orlowska Straße 24 war. Er lebte von 1906 bis 1939. Sein Vater Heinrich war
Lokomotivführer.
Über Herbert Lemkes Tod berichtete seine Frau Gertrud. Notiert
wurde auch, dass folgende Personen Augenzeugen seines Todes waren: Heinrich
Lemke (d. h. sein Vater), wohnhaft Jacobstraße 60, und der Gärtner Georg Baer,
wohnhaft Heilig-Geist-Straße 41.
Dieser wahrscheinlich völlig unnötige Tod geschah am 7. September
1939, d. h. am Vorabend der deutschen Besetzung der Stadt. Bald darauf
benannten die Okkupanten die der Orlowska-Straße benachbarte Przypadek-Straße
nach Herbert Lemke. Diese Inowrocławer Straße erhielt also den Namen eines
völlig durchschnittlichen Menschen, der ausschließlich aus Propagandagründen in
das städtische Pantheon aufgenommen wurde.
Die Schlacht um Markowice
(...) Am 8. September 1939 wurde das etwa elf Kilometer südlich
von Inowrocław gelegene kleine Dorf Markowice, berühmt für seine
Marienwallfahrtsstätte, zum Schauplatz eines grauenhaften Geschehens. Auf dem
Gut der deutschen Familie Heidebreck sowie im Schloss waren sowohl Deutsche als
auch Polen angestellt. Zeitzeugen bestätigen übereinstimmend, dass die
deutschen Besitzer ihre Arbeiter sehr gut behandelten. Sie bekamen zu
Feiertagen zusätzliche Lebensmittel oder Petroleum und konnten die von der
Gutsherrin zusammengestellte Bibliothek benutzen. (...)
Aber der 8. September sollte das Leben der Bewohner von
Markowice für immer verändern. Als eine motorisierte Patrouille aus einem guten
Dutzend deutscher Soldaten das zeitweilig verlassene Landgut besetzen wollte,
gingen die ansässigen Polen zum Angriff über, spontan angeführt von dem Schmied
Marcin Zgodziñski. Schließlich kam es zu einer regelrechten Schlacht, bei der
nicht nur alle deutschen Soldaten getötet wurden, sondern auch fast alle
deutschen Bewohner des Dorfes. Nur der Kassierer Jaschik konnte sich retten,
indem er sich im Kloster versteckte. Den Ordensleuten nützte das nichts: Wie
viele andere wurden sie in Lager deportiert oder erschossen, als die Deutschen
Markowice zur Vergeltung in eine Strafkolonie verwandelten. (...)
Die Deutschen - loyale Nachbarn oder Feinde?
Im Lichte des historischen Materials ist es nicht möglich,
auch nur annähernd festzustellen, wie viele Deutsche in Kujawien von der Rückkehr
Großdeutschlands träumten. Die Tätigkeit revisionistischer Organisationen - mit
dem berüchtigten „Selbstschutz“ an der Spitze - ist eine bewiesene Tatsache. Ganz
gewiss hatte die Loyalität vieler Deutscher nach Hitlers Machtergreifung
deutlich nachgelassen. Nachdrücklich bestätigt dies auch der Bericht des
pensionierten Inowrocławer Lehrers Jerzy Weber, der am 7. September 1939
Zeuge war, wie sich die hiesigen Deutschen in Soldaten verwandelten. Noch ehe
die Wehrmacht einmarschiert war, erkannte er in einem die Solankowa-Straße
entlangfahrenden offenen Personenwagen mit wehender roter Hakenkreuzfahne drei
Inowrocławer Bürger: seinen Schneider Emil Nickel, Willi Jaretzky,
Besitzer eines Holzlagers, sowie den Weingroßhändler und Essigfabrikanten Georg
Radetzki - denselben Mann, den Władysław Hetmaniak einen „allen sehr
wohl gesonnenen Deutschen“ nannte. Aber es gibt zahlreiche ganz andere
Beispiele. Viele Polen berichten von der Hilfe, die sie von ihren deutschen
Nachbarn erhielten.
„Meiner Meinung nach darf man einen Menschen nicht danach beurteilen,
ob er ein Deutscher oder ein Pole ist. Es gibt ganz einfach böse und gute Menschen.“
(Auszüge aus: Alicja Wancerz-Gluza (Hrsg.), Grenzerfahrungen, edition Körber-Stiftung,
Hamburg 2003, S. 83-96)