Arbeitspapier V der Kopernikus-Gruppe

Interessengemeinschaft auf dem Prüfstand

Die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Irak-Krieg und vor dem EU-Beitritt Polens

 

Am 27. und 28. Juni 2003 traf sich in Potsdam auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und des Deutschland- und Nordeuropainstituts Stettin die aus deutschen und polnischen Experten bestehende "Kopernikus-Gruppe" zu ihrer siebten Sitzung. Ein Schwerpunkt der Beratungen waren "Die deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Irak-Krieg". Die Sitzung setzte die Diskussion über Stand und Perspektiven der bilateralen Beziehungen am Vorabend des polnischen EU-Beitritts fort, die auf der sechsten Sitzung der Kopernikus-Gruppe am 17. und 18. Januar 2003 in Posen geführt wurde. Das vorliegende Arbeitspapier V der "Kopernikus-Gruppe", das wir in umfangreichen Auszügen hier in POLEN und wir veröffentlichen, fasst die Bestandsaufnahme und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen.

 

Der überwältigende Erfolg des polnischen EU-Referendums und die gegenseitige Versicherung unverbrüchlicher Freundschaft zwischen Deutschland und Polen im Geiste einer bilateralen Interessengemeinschaft in Europa sowie die Anstrengungen, auch im Rahmen des „Weimarer Dreiecks“ die ernsthaften Verstimmungen und Interessendivergenzen im Kern des alten Europa zu überwinden, die in den letzten Monaten entstanden waren, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in der Irak-Krise und in der Bewertung der transatlantischen Beziehungen eine Kluft zwischen Deutschen und Polen aufgetan hat. Diese Kluft kann sich jederzeit wieder öffnen und die bilateralen Beziehungen dauerhaft beeinträchtigen, wenn nicht eine ernsthafte Bestandsaufnahme der unterschiedlichen Wahrnehmungen, der unterschiedlichen Interessenlagen, Missverständnisse und Verstimmungen der jüngsten Vergangenheit unternommen wird.

Die Irak-Krise – ein Katalysator von Divergenzen

Die deutsche und die polnische Regierung hatten zur Irak-Krise und dem darauf folgenden Krieg der von den USA geführten Koalition divergierende Haltungen eingenommen. Die Bundesregierung hatte bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine ablehnende Position gegenüber einem Präventivkrieg vertreten, während die polnische Regierung diesen zunächst politisch, dann auch mit einem bescheidenen militärischen Beitrag, d. h. der Entsendung einer 200 Mann umfassenden Elitetruppe, unterstützte. Die offizielle Regierungslinie in beiden Ländern wurde von den Medien und den politischen Eliten weitgehend mitgetragen, während die Mehrheit der Bevölkerung in beiden Ländern gegen den Krieg der Koalition war. Die Ablehnung war allerdings in Deutschland deutlich größer als in Polen.

Die betont transatlantische und proamerikanische Haltung der polnischen Regierung in der Irak-Krise geht auf traditionelle enge Bindungen zwischen Polen und den USA, auf gemeinsame Interessen in der Sicherheitspolitik und eine proamerikanische Stimmung in der Gesellschaft zurück. Sie erscheint uns aber auch als Ausdruck einer Enttäuschung über Westeuropa und Deutschland, womöglich als Folge der schwierigen Aushandlungsprozesse und der Desillusionierung im Zuge der Verwirklichung des Jahrhundertprojekts der EU-Erweiterung.

Es ist bedauerlich, dass in der „heißen Phase“ der Irak-Krise kein breiterer deutsch-polnischer Dialog zustande gekommen ist. Dies betrifft insbesondere die Medien in beiden Ländern. Aus polnischer Sicht ignorierten die Deutschen ihren östlichen Nachbarn und betrieben ihre Politik im Alleingang; aus deutscher Perspektive versuchten sich die Polen in einer naiv erscheinenden Großmachtpolitik. (...)

Eine Politik des „Schwamm drüber“ würde die jetzt allenthalben geforderte Zukunftsorientierung zum Scheitern bringen, da sie die Ursachen der Krise der jüngsten Zeit ausblendete und eine Wiederholung von „Missverständnissen“ geradezu provozieren würde.

In der öffentlichen Debatte zum Irak-Krieg spielte das deutsch-polnische Verhältniss in beiden Ländern eine geringe Rolle. Trotzdem haben die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen heraus das Verhalten des jeweiligen anderen Landes kommentiert wurde, zu einer Entfremdung beigetragen. In deutschen Medien wurde die polnische Entscheidung zur Kriegsbeteiligung als Abwendung von Europa und der Weiterentwicklung der GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) sowie der ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) und als Anzeichen dafür gesehen, dass mit der EU-Erweiterung ein Fortschritt in diesem Bereich durch die proamerikanischen Neumitglieder eher behindert werden wird. Dadurch wurde der ohnehin durch die institutionellen Herausforderungen der EU-Erweiterung bereits starke Impuls zur Abschottung in einem „Kern-Europa“ noch verstärkt – was in der deutsch-französisch-belgischen Initiative zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und den zahlreichen deutsch-französischen Initiativen im EU-Zukunftskonvent zum Ausdruck kam.

Auf polnischer Seite sorgten die Reaktionen des französischen Präsidenten Chirac für eine vergleichbare, aber in der Öffentlichkeit viel heftigere Reaktion. Es entstand der Eindruck, Chirac habe mit seinen Äußerungen die Reste des ohnehin angestaubten „Weimarer Dreiecks“ vom Tisch geschoben, ohne dass dies in Deutschland Bedauern auslöste. Die Entwicklung birgt die Dynamik einer weiteren Entfremdung und einer „self fullfilling prophecy“, da dem Dreieck bereits mehrfach sein nahes Ende prophezeit wurde. Dabei war das Alarmierende am Zustand der Trilaterale weniger die objektiven Interessendivergenzen, vielmehr ging es allzu sehr um den Stil beim Auseinanderdriften der nationalen Interessen, um Prestigedenken und ganz einfach um schlechte Manieren am europäischen Tisch.   

Ein anderer Teil der oben erwähnten „self fullfilling prophecy“ zeigt sich, wenn in Teilen der polnischen Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wird, die Entwicklung von GASP und ESVP sei bereits heute zum Scheitern verurteilt, unrealistisch oder sogar – weil angeblich gegen die USA gerichtet – nicht wünschenswert. Das Auseinanderdriften der öffentlichen Debatte in Polen und Deutschland zu diesem Thema, wie es der Irak-Krieg befördert hat, macht die Schwächen des bilateralen sicherheitspolitischen Dialoges der letzten Jahre deutlich. Es erscheint uns daher notwendig, auf einige Aspekte der deutschen und polnischen Politik hinzuweisen, die in den letzten Wochen und Monaten in Vergessenheit geraten sind oder verdrängt wurden, die aber das Verständnis für die jeweilige andere Sichtweise befördern können.

Unterschiedliche Interessenlage

Die Gegenüberstellung von antiamerikanischen, proeuropäischen Pazifisten auf der einen und proamerikanischen, antieuropäischen Bellizisten auf der anderen Seite ist falsch. Die deutschen Proteste gegen den Präventivkrieg der USA und die Haltung der deutschen Regierung sind keine Neuauflage der Demonstrationen gegen den Ersten Golfkrieg und sie werden – von Ausnahmen abgesehen – nicht von einer prinzipiell pazifistischen Haltung getragen. Wichtige Elemente beim Zustandekommen dieser Ablehnung waren auch die Furcht vor einer Destabilisierung der gesamten Region, einer Eskalation des Nahost-Konflikts, dem Entstehen einer humanitären Katastrophe (der Grund für die Beteiligung Deutschlands am Krieg im Kosovo) und den Auswirkungen auf das Zusammenleben von Arabern und Juden, Moslems und Nicht-Moslems in Europa, sowie vor einer Schwächung internationaler Institutionen, wie der UNO. (...)

Von den populistischen Anwandlungen in Berlin und Warschau abgesehen, spielten Destabilisierungs- und Eskalationsbefürchtungen für die deutsche Politik eine wesentlich größere Rolle als für die polnische Regierung und Gesellschaft. Polen ist bisher kein vergleichbares Zielland von Flüchtlingsbewegungen, hat keinerlei negative Erfahrungen mit internationalem Terrorismus, beherbergt weder nennenswerte jüdische noch arabische Minderheiten. Es hat dafür – angesichts der wenig stabilen Nachbarschaft, in der es sich befindet, ein wesentlich größeres Interesse an „harter“, militärischer Sicherheit. Diese wird vor allem von der NATO – und innerhalb der NATO von den USA – garantiert. Während eine der wichtigsten deutschen Lektionen aus dem Zerfall Jugoslawiens lautet, die damals so schwache EU müsse eine gemeinsame, auch militärisch glaubwürdige gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufbauen, zog man in Polen aus der europäischen Schwäche den Schluss, nur ein möglichst enges Verhältnis zu den USA garantiere die Möglichkeit eines erfolgreichen militärischen Eingreifens zur Verhinderung oder Beendigung von gewaltsam ausgetragenen Krisen und Bedrohungen der äußeren Sicherheit. Angesichts der Wandlung der NATO von einem reinen Pakt zur territorialen Verteidigung hin zu einer Organisation kollektiver Sicherheit unter Einschluss der Gegner aus den Zeiten des Kalten Krieges kann dieser Schluss nicht verwundern: Für Länder an der Außengrenze des Bündnisses, die instabile, gelegentlich sogar ausgesprochen feindselige Nachbarn (wie Belarus) haben, spielt die territoriale Komponente militärischer Sicherheit natürlich eine wesentlich größere Rolle als für Kernländer, die von Bündnispartnern umgeben sind. (....)

Divergierende Grundströmungen in der öffentlichen Debatte

Diese Interessenunterschiede reichen aber noch nicht aus, die Differenzen in der Sichtweise des Irak-Konflikts zu erklären, die in den vergangenen Monaten zwischen Berlin und Warschau zu Tage getreten sind. Interessenunterschiede mit anderen europäischen Ländern führen nicht automatisch zu einer abwertenden moralischen Bewertung des Verhaltens dieser Länder in der polnischen Öffentlichkeit. Eine Rolle spielt, dass die polnische Gesellschaft meist bemüht ist, internationale Konflikte in einem Gut-Böse-Schema zu analysieren, in dem der Ausbruch eines bewaffneten Konflikts anders als in Deutschland weniger als Scheitern (der nichtmilitärischen Mittel von Konfliktbeilegung) denn als Chance auf einen Sieg des Guten betrachtet wird. (....)

Die künftige Bedeutung der bilateralen Perspektive

Ungeachtet von in der Irak-Krise zu Tage getretenen Interessenunterschieden sind mit der Erweiterung von NATO und EU die wesentlichen Ziele der „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft“ erreicht. Es stellt sich somit die Frage, welche Bedeutung das bilaterale Verhältnis zwischen beiden Ländern in der Zukunft noch haben wird. Werden die deutsch-polnischen Beziehungen in der Europapolitik beider Länder aufgehen und sich die bilateralen Kontakte nur noch innerhalb dieser Institutionen abspielen, wie dies bereits heute zwischen Deutschland und vielen EU- und NATO-Mitgliedsländern der Fall ist (nicht aber z.B. im deutsch-französischen Verhältnis)?

Offensichtlich wird ungeachtet der Integrationspolitik und Multilateralisierung der Beziehungen die bilaterale Komponente und die unterschiedliche Perzeption von Interessenlagen der Europäer und des Selbstverständnisses Europas im transatlantischen Dialog eine bestimmende Rolle in den deutsch-polnischen Beziehungen spielen. Um so wichtiger wird es für die Politik der nächsten Zeit sein herauszufinden, wo Chancen für Annäherungen im Dialog bestehen und wo gegensätzliche Standpunkte akzeptiert werden müssen, ohne dass es zu einer dauerhaften Entfremdung zwischen Deutschland und Polen kommt.

Das Politikfeld, auf dem sich alle diese Bereiche überlappen, ist die Sicherheitspolitik, die sowohl in EU und NATO als auch – nach den jüngsten deutsch-französischen Initiativen – bilateral und möglicherweise in der Zukunft im Rahmen „enger Zirkel“ oder eines „Kerneuropa“ stattfinden kann.

Empfehlung: Ein neuer sicherheitspolitischer Dialog im „Weimarer Dreieck“

(...) Vielleicht ist es ein wesentliches Resultat der jüngsten Krise, dass wir in den vergangenen Monaten Zeugen eines erneuten Paradigmenwechsels geworden sind – nicht so grundstürzend wie der von 1989/90, aber immerhin verbunden mit dem Ende einer paternalistisch-klientelistischen Beziehung, dem Ende der Juniorpartnerschaft Polens sowohl in den deutsch-polnischen Beziehungen als auch innerhalb der Trilaterale. 

Seit der Jahreswende 2002/03 zeichnet  sich am europäischen Horizont eine sowohl von Dritten (USA) intendierte als auch selbst gewählte Positions- und Rollenbestimmung Polens ab, die eine neue, „erwachsene“ Partnerschaft begründet. Diese verlangt von Polen einen mehr als bisher entwickelten außen- und sicherheitspolitischen Diskurs und eine Selbst-Bestimmung, die abgesehen von der transatlantischen Solidarität keinen Zweifel an dem selbst gewählten Weg in eine europäische Integration ohne Wenn und Aber zulässt. Auf diesem Weg ist eine ebenso partnerschaftliche europäische Integrationspolitik Deutschlands und Frankreichs notwendig, die eine offene, auf Dialog beruhende transatlantische Partnerschaft mit den USA anstrebt.

Die Verschiebung der politischen Gewichte innerhalb des „Weimarer Dreiecks“ machen dieses informelle Gremium schon jetzt interessanter, als es jemals in den zurückliegenden Jahren gewesen ist. Es bestätigt sich die These, dass das Weimarer Dreieck seine Bewährungsprobe mit dem EU-Beitritt Polens noch nicht bestanden hat, sondern im Gegenteil diese Bewährungsprobe erst jetzt beginnt. (...)