Eine Reise
nach dem alten Lemberg im Jahre 2003
Von Eva Seeber
Mit der bevorstehenden Ausdehnung der Europäischen Union bis zur
polnisch-ukrainischen Grenze wird die geschichtsträchtige Westukraine mit der
Stadt Lviv, ehemals Lemberg, in vielfacher Hinsicht
stärker als bisher in unser Blickfeld rücken. Das legt nahe, mehr über diesen
kostbaren Teil Europas jenseits der polnischen Grenze in Erfahrung zu bringen
und seine Besonderheit als Schnittpunkt der verschiedensten Kulturen kennen zu
lernen. Dabei vermag als ein Vorreiter auf dem Gebiet der alternativen Studien-Reisen
nach Osteuropa eine Berliner Reise-Gesellschaft Hilfestellung zu geben, die das
einprägsame Logo StaTtReiSEn führt. Sie ermöglicht es
interessierten und durch Literaturstudien vorbereiteten Touristen, eine
intensive geführte Reise zu unternehmen und faktisch einen 6 Tage-Kurs zur
Geschichte und Architektur der Stadt zu absolvieren. Wie das Erlebnis einer
solchen Tour Ende Juli dieses Jahres bewies, war die (zumeist) erste Begegnung
mit Lemberg für die deutschen Touristen zunächst einmal ein unerwartetes
Kulturerlebnis. Denn was sich vom erhöhten Schlossberg aus vor den Augen
ausbreitet, ist eine seit Jahrhunderten gewachsene, unzerstörte (800.000 Einwohner
zählende) herrliche Großstadt, die eingebettet in großflächige Parkanlagen von
einem Kranz grüner Berge umgeben ist (vgl. auch Annegret Haase, Polen und wir 3/99).
Bestechend für uns war die große
Vielfalt alter Kirchen und Klöster von unterschiedlichster Stilart und
Glaubensrichtung, aber auch der fast lückenlosen Straßenzüge und Prachtbauten
aus der Jahrhundertwende vom 19. zum 20.Jh., darunter der damals größte Bahnhof
der Donaumonarchie von 1904, die prachtvolle Oper, erbaut von S. Gorgolewski, dem Architekten der Oper in Odessa, die
Universität (ehemals galizischer Landtag),
die Bibliothek des Ossolineums, das Marktpanorama und
prächtige breite Prospekte.
Schon im Spätmittelalter erfuhr
Lemberg - eine Gründung des halyc-wolhynischen Fürsten
Danylo - mit der Einbindung in das europäische
Handelssystem einen raschen Aufschwung. Um die Mitte des 14.Jh. nahm der
polnische König Kazimierz der Große die Stadt in Besitz. Obwohl im 16.Jh.zunehmend
der polnische Einfluss die Oberhand gewann, behielt die Stadt ihre Bedeutung für
andere Kulturen, die jüdische, die armenische, die ukrainische. In Lemberg
entstanden erste kirchliche Bruderschaften, zunächst orthodoxe. Sie gründeten
im gesamten ukrainischen Siedlungsgebiet Schulen, Voraussetzung für eine
wachsende eigene Identität.
Nach der ersten Teilung Polens 1772
begann das neue österreichische Zeitalter. Lemberg wurde die Hauptstadt eines
habsburgischen Kronlandes “Galizien und Lodomerien”. Zu
Beginn des 20. Jh. gehörte Lemberg neben Wien, Budapest, Prag und Triest zu den
fünf bedeutendsten Städten der Donaumonarchie. Unter den Habsburgern setzte der
griechisch-katholische Priesterstand eine Gleichstellung der griechisch-katholischen
(Uniierten) Kirche mit der römischen-katholischen Kirche
durch, was auf den erbitterten Widerstand des polnischen Klerus stieß.1
Anders als in der Ostukraine, die
zum Russischen Reich gehörte, hatte sich in Lemberg durch die größeren Freiräume
seit Ende des 18.Jh. ein starkes ukrainisches kulturelles Zentrum
herausgebildet. 1867 hatte Wien - um einen Ausgleich mit Polen bemüht - für den
polnischen Adel und die polnischen Bürgerschichten jedoch Autonomierechte für
Galizien zugesichert. Dies führte zum Ausbau ihrer Vorherrschaft im öffentlichen
Leben der Stadt, während die Bevölkerung auf dem flachen Land bis ins 20.Jh. überwiegend
ukrainisch blieb.
Lemberg als Schauplatz
ukrainisch-polnischer Konflikte
Am Ende des ersten Weltkrieges entwick-elten sich mit dem Zerfall der Habsburger Monarchie
blutige Auseinandersetzungen zwischen Ukrainern und Polen. Ein Polnisch-Ukrainischer
Krieg brach aus, nachdem am 1.November 1918 eine Westukrainische Volksrepublik
unter Symon Petljura
ausgerufen wurde. Die Versailler Verhandlungen hatten keine für beide Seiten
zufriedenstellende Lösung herbeiführen können, denn eine vom britischen Außenminister
Lord Curzon vorgeschlagene- und nach ihm benannte
Grenzlinie kam nicht zustande.2 Sie sollte erst nach fast 30 Jahren, im
Ergebnis des zweiten Weltkrieges, Grundlage einer neuen sowjetisch-polnischen
Grenzziehung werden.
An die Stelle klarer Regelungen
durch Versailles traten blutige Kämpfe um die Stadt, in denen sich Polen
durchsetzte, das die Westukraine als Bestandteil des alten Polen beanspruchte. So
fiel die Entscheidung über den Status Ostgaliziens zugunsten Polens im Jahre 1923,
nicht ohne Anmahnung der Rechte der Minderheiten.
Einem Besuch unserer Gruppe auf
dem Lycakow-Friedhof schloss sich die Bekanntschaft
mit dem benachbarten erneuerten Polnischen Ehrenmal für die polnischen
Gefallenen im ukrainisch-polnischen Krieg an. Wie wir erfuhren, kam die erst
vor zwei Jahren neu eröffnete Stätte erst nach schwierigen ukrainisch-polnischen
Debatten zustande. Über eine Beschriftung vermochte man sich nicht zu einigen. Eine
feierliche Eröffnung fand ebenfalls nicht statt. Und trotzdem konnten wir nicht
umhin, das grundsätzliche Zugeständnis der Lemberger als bemerkenswert zu
betrachten. Offenbar wird damit eine Ablehnung des Nationalismus und des Gedankens
der Rache demonstriert. Zumindest kann Toleranz dazu beitragen, die bestehenden
Konfliktlinien und wirtschaftlichen Nöte nicht zusätzlich durch die Vergangenheit
zu belasten.
Gleichzeitig ist man dabei,
bisher um des Friedens willen gehütete Tabus zu hinterfragen, wie die Führungen
der verschiedenen Fachleute bewiesen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es
darum geht, nationale Vorurteile und Stereotype abzubauen und tragische
Fehlentwicklungen eher auf die komplizierten Gegebenheiten wie beispielweise
die traditionelle Randlage der Westukraine zurückzuführen. Es fiel auf, dass in
den Erklärungen der ukrainischen Reiseführer die dramatischen
Umsiedlungsaktionen von Ukrainern nach dem Kriege nicht thematisiert wurden. Das
bedeutet indessen keineswegs, dass diese Art der Entflechtung der ursprünglichen
Völkervielfalt überall als eines der tragischen Ergebnisse des Krieges
verstanden wird.
Das Jüdische Lemberg
Mit Boris Dorfman,
einem Überlebenden des Holocaust, erlebten wir in jiddischer Sprache berühmte
Orte des Ostjudentums. Wir sahen die Spuren der gewaltsam zerstörten Synagogen,
das ehemalige Waisenhaus, gingen zum berüchtigten Janowska-Arbeits-
und späteren Vernichtungslager, zum Verschiebebahnhof. Und dann standen wir vor
dem aufrüttelnden überlebensgroßen Denkmal des sterbenden Juden.
Den meisten unserer
Besuchergruppe war bekannt, dass Lemberg über Jahrhunderte hinweg von einem
Viertel (1646) bis zu 40 Prozent (1931) von Juden bewohnt war. Anfang der 30er
Jahre hatte die Stadt fast 100.000 Juden. Sie war damals ein Zentrum der
orthodoxen Gemeinden (einschließlich der Chassidim),
der Zionisten, und Bundisten (Sozialisten). Mit
Kriegsbeginn kamen Zehntausende von jüdischen Flüchtlingen in die Stadt, denn
die deutsche Wehrmacht musste im Gefolge des Nichtangriffspaktes von 1939 an
den Flüssen Bug und San stehen bleiben, während die Sowjetarmee Lemberg und die
Westukraine besetzte. In dieser Zeit flohen riesige Menschenmassen, darunter
viele Juden, vor den Deutschen weiter nach Osten.3 Aber am 22. Juni 1941
erfolgte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Damit war auch das
Schicksal des jüdischen Lemberg besiegelt. Es war dazu verurteilt, in nur zwei
Jahren vom Ende Juli 1941 bis Juni 1943 alle Stationen des Untergangs des
Judentums zu durchleiden.
Begonnen hatte es Ende Juni 1941
mit einem jener berüchtigten Pogrome, bei denen sich angesichts der schwelenden
ethnischen und sozialen Konflikte immer wieder nationalistische Elemente
fanden, die sich für Ausschreitungen gegen die Schwächsten missbrauchen ließen.
Auf diese Weise vermochte es auch die der Wehrmacht folgende SS-und SD-Einsatzgruppe
C bestimmte Kräfte aus allen Schichten der Bevölkerung Lembergs zu ihren
Komplicen zu machen.4 Augenzeugen schätzten die Zahl der Pogromopfer auf 4000. Dem
folgte im Juli 1941 eine zweite Welle, die Erschießung der „Juden in
sowjetischen Partei- und Staatsstellungen“, was auf die Hinrichtung der jüdischen
Führungskräfte, speziell der in den Sowjetjahren 1939/41 aktiven Schichten zielte.5
Am 1.August 1941 erfolgte die formelle “Angliederung” der Region als “Distrikt
Galizien” an das seit 1939 bestehende Generalgouvernement.
Begleiterscheinung von
Ausgrenzung und erbarmungslos vorangetriebener Vernichtung der Juden war die
Zerstörung ihrer kulturellen Stätten. Die berühmte Synagoge “Goldene Rose” wurde
abgebrannt, es folgte die Reformsynagoge und alles, was jüdisches geistiges und
religiöses Leben ausmachte. Ende 1941 erging der Befehl zur Ghettobildung für 50.000
Menschen auf engstem Raum. Das war der Einstieg zu den Massenerschießungen am
Rande der Stadt und zum Abtransport zur Vergasung in den Todeslagern Bełżec und Majdanek.
Eine Begegnung mit letzten Spuren
des Ostjudentums hatten wir in einem seiner einst ausgeprägtesten Zentren, der
Kleinstadt Brody. Hier hatten seit alten Zeiten bis Anfang des Krieges 9000
Juden gelebt, das war die Mehrheit der Einwohner. Ein Teil floh 1941 mit der
zurückflutenden Roten Armee. Dann begannen die SS-Kommandos mit der Vernichtung
auch dieses historischen Zentrums. Heute zeugt nur noch die Ruine von der
gewaltigen Größe, die die Synagoge von Brody, die sich `Alte Schul` nannte,
einst besaß.
Ein letztes bleibendes Zeugnis
von der einstigen Welt des galizischen Schtetls Brody
ist das eine halbe Stunde vom Ort entfernte, 200 Jahre alte überdimensionale Gräberfeld.
So weit das Auge reicht, befinden sich hier im Walde unzählige eng beieinander
stehende zwei Meter hohe Grabsteine mit hebräischen Inschriften - ein
atemberaubendes Memorial, wie es wohl nur einige wenige Menschen in Deutschland
je gesehen haben. Ende des 19. Jh. lebte der berühmte Schriftsteller Joseph
Roth (1894-1939) in dieser Stadt, der in seinen Romanen und Erzählungen wie dem
“Radetzkymarsch” und “Juden auf Wanderschaft” eine Vorstellung vom alten
Galizien für die Nachwelt erhalten und die alte verlorene Welt am schönsten
beschrieben hat. Heute trägt das Gymnasium den Namen seines einstigen berühmten
Schülers.
Die polnisch-ukrainische Grenze an Bug und San
Auf der Rückfahrt mit der Bahn überquerten
wir die Zollgrenze bei Medyka und erlebten die
sehenswerte polnische Grenzstadt Przemyśl. Seit
Klarheit über die Ausweitung der EU herrscht, verbreitet sich Unsicherheit über
den kleinen Grenzverkehr. Aber zunächst nutzen beide Regierungen die von Brüssel
noch gelassenen Freiräume, um die kleinen Freiheiten für die unter der
Arbeitslosigkeit leidende Grenzbevölkerung aufrechtzuerhalten. Was wirkliche
Hilfe bedeuten würde, wäre ein Strom wissbegieriger Touristen. (Vgl. Polen und
wir, 1/1999) Angesichts der stagnierenden Industrie in der Westukraine überkommen
uns Befürchtungen, dass diese Grenze zur EU wider Willen zu einer neuen Mauer
mutieren und damit vorhandene Chancen verderben könnte.
Ursprünglich beinhaltete die
alliierte Grenzziehung nach dem Krieg über Hitler die Grundidee, Konsequenzen
aus den Versailler Verträgen zu ziehen. Dazu gehörte auch die vage unbewiesene
Vorstellung, durch die strenge Beachtung ethnischer Gegebenheiten bei
Grenzziehung bzw. Bevölkerungsaustausch national homogene Staaten schaffen und
damit Hass und Streit einschränken zu können. Nicht nur durch reine Machtkämpfe
der Großmächte, sondern auch durch die Suche nach Auswegen hatte die neue Ost-Grenze
Polens eine komplizierte, vor allem wegen der Bedeutung Lembergs umstrittene
Entstehungsgeschichte. Churchill war es, der aus dem Unglück der Jahre 1918-1923
schlussfolgerte, dass im Zweiten Weltkrieg frühzeitige Einigung der Alliierten
und Klarheit der Grundsätze oberstes Gesetz sein mussten und „Übergangszustände“
nicht wieder zugelassen werden durften. Von seiner Seite wurde also maßgeblich
Stalins Vorschlag unterstützt, harte Einschnitte auf Kosten des
kriegsschuldigen Deutschlands vorzunehmen und das polnische Staatsgebilde nach
Westen zu verlegen. Auf der ersten Konferenz der Alliierten Mächte Großbritannien,
USA und UdSSR in Teheran vom 28.11.bis 1.12.1943
einigte man sich, den Verhandlungen die Formel zugrunde zu legen, dass die
Heimstatt des polnischen Staates und Volkes zwischen der sog. Curzonlinie und der Oderlinie liegen soll unter
Einbeziehung von Ostpreußen und der Provinz Oppeln in den Bestand Polens.6
Diese jahrelang selbst vor der
polnischen Exilregierung geheimzuhaltende Vorstellung machte trotz nachträglich
heftigster Widerstände aus den USA, bei denen es Roosevelt um weitreichende
eigene strategische Ziele entlang der Karpaten ging, letztlich Geschichte.7
Auf der Konferenz in Jalta vom 4.
bis 11.2.1945 wurde zeitweilig sozusagen eine Entkoppelung der beiden Grenzen
vorgenommen, also die Oder-Grenze noch außen vor gelassen. Die Alliierten bestätigten
also zunächst erneut die Ostgrenze und zwar entlang der Curzonlinie.
Inzwischen hatte Stalin akzeptiert, dass bei Ziehung der zeitweiligen 1939 er
Demarkationslinie an drei Stellen von den Curzon-Vorschlägen
von 1918/19 zuungunsten Polens abgewichen worden war und dies berichtigt werden
müsse. Es sollten also nach dem Kriege folgende Städte Przemyśl,
Tarnopol und Bia³ystok wieder zu Polen kommen.
Auf Grund dieser Großmächte-Vorverständigung
spielte nicht die Vorkriegsgrenze (Rigaer Grenze), die im Januar 1944 von der
Sowjetarmee überschritten wurde, die Rolle, sondern die Erreichung der (Curzon)-Linie Grodno-Brest-Litowsk-Przemyśl.
Am 26. Juli 1944 schloss die Regierung der UdSSR mit dem neuernannten Vertreter
des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung, (PKWN-später
Lubliner Regierung) ein Verwaltungsabkommen. Ein Jahr
später, am 16.August 1945, wurde dieses durch einen zweiseitigen Grenzvertrag,
der sich auf das Potsdamer Abkommen berief, abgelöst. Dieser Vertrag wurde zur
Geburtsstunde der heute bestehenden Staatsgrenzen.8 Damit verbunden waren
Umsiedlungsaktionen in die früher deutschen Gebiete und Repatriationen
in die Sowjetunion. Doch sie wurden in der nächsten Phase, nach der Befreiung
in Gang gesetzt und bedürfen einer ausführlicheren Betrachtung, als es hier möglich
ist.
m
1
Vgl. A.Halja Horbatsch,
Polnische Stadt und Ukrainische Minderheit, in: Peter Fäßler/Thomas
Held/Dirk Sawitzki, Lemberg, Lwow,
Lviv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer
Kulturen, Weimar 1993 (im folgenden Fäßler/Held/Sawitzki, S.92 ff.)
2
Rudi Goguel, Polen Deutschland und die Oder-Neiße-Grenze...
Berlin 1959, S. 900
3 Fäßler/Held/ Sawitzki, S.154.
4
Befehl des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes der SS und des SD, R. Heydrichs
an die Einsatzgruppen vom 29.Juni: „Den Selbstreinigungsversuchen antikommunistischer
und antijüdischer Kreise in den neu zu besetzenden Gebieten ist kein Hindernis
zu bereiten. Sie sind im Gegenteil, allerdings spurenlos
auszulösen, zu intensivieren./... / ohne daß sich
diese örtlichen `Selbstschutzkreise` später auf Anordnungen oder gegebene
politische Zusicherungen berufen können.“ zit. nach Held, in: Fäßler/Held/ Sawitztki, S.123.
5
Ebenda, S.118
6
Hans-Georg Lehmann, Der Oder-Neiße-Konflikt, München 1979, S.27.
7
Eva Seeber, Die Mächte der Antihitlerkoalition
und die Auseinandersetzung um Polen und die CSR, Berlin 1984. S.204, 309, 353
ff.
8 Lehmann,
a.a.O. S.28