Mit polnischem Blick: Die Stadt Wilno im Werk von Czesław Miłosz

Hans-Christian Trepte, Leipzig

 

Im allgemeinen polnischen Kulturbewusstsein gehört Wilna zu den bedeutsamsten und schöpferischsten „lieux de memoire“ (Erinnerungsorten). Als Ort der Erinnerung und als Stadtsymbol spielt die Stadt bis zum heutigen Tage eine wichtige Rolle in der polnischen Literatur über die östlichen Grenzgebiete. Wilna, obgleich mittels multikultureller und mehrsprachiger Traditionen des Polnisch-Litauischen Staatsgebildes geprägt, fungiert im Bewusstsein der Polen vorwiegend als eine polnische Stadt, als die Stadt eines Mickiewicz, eines Lelewel und Moniuszko sowie eines Piłsudski. In Verbindung mit den führenden Repräsentanten der polnischen Romantik wurde die Stadt häufig gepriesen, wie beispielsweise in Adam Mickiewicz’ Drama „Dziady“; Wilna wurde schließlich zum Mythos.

 

Besondere Zeiträume

Im literarischen Verhältnis zwischen der realen und der lyrisch gestalteten Welt gibt es Zeit-Räume, die eng mit dem Ereignis des Abschiednehmens verbunden sind. Diese Abschiedsliteratur findet sich vor allem in den literarischen Texten der emigrierten Schriftsteller, die sich gezwungen sahen, ihr Heimatland zu verlassen, oder die ausgewiesen worden waren. Aus der persönlichen Perspektive beziehen sich diese Gesten des Abschiednehmens vor allem auf teure Freunde oder auch auf magische Orte, die verlassen werden mussten. Während viele Exilschriftsteller ihre nostalgisch anmutenden Texte über die heimatliche Region oder Landschaft schreiben, beziehen sich die Gesten des Abschieds in den Werken von Czesław Miłosz, dem polnischen Literaturnobelpreisträger, nahezu ausschließlich auf den Topos einer einzigen Stadt - Wilna, Wilno, Vilnius.

Zugleich werden in Miłoszs literarischen Werken verlorene Welten wiedergewonnen, aufs Neue kreiert. Umberto Ecco zufolge ist gerade Literatur mittels ihrer poetischen Schöpfung in der Lage, die Leser in verschiedene „mögliche Welten“, in kulturelle Gebilde zu führen, in denen wir während des Lesens existieren und dabei die Destruktivität der uns umgebenden Realität vergessen können. Die Kraft der imaginierten Erinnerung an eine literarische Landschaft zeigen sich nicht selten in exponierten Gesten des Wiedergewinnens.

Seine Sehnsucht nach der magischen Stadt Wilna setzte ein, als Miłosz die Stadt 1937 verlassen musste und nach Warschau kam. Sein Aufenthalt in der ungeliebten polnischen Hauptstadt nannte er selbst seine „erste Emigration“. Die Sehnsucht wurde noch stärker, als er als Diplomat der Polnischen Republik in Amerika und Frankreich weilte und als er sich in seinem berühmten Artikel „Nie“ (Nein) in der polnischen Exilzeitschrift „Kultura“ für die Freiheit entschied und gegen die kommunistische Führung in Polen. Nach dieser Entscheidung gab es keinen Weg zurück, weder nach Polen noch nach Wilna.

Die Stadt der Erinnerungen

Die Stadt blieb jedoch in seiner Erinnerung lebendig und begann mit ihren Denkmälern, Straßen, Plätzen und Menschen ein eigenes Leben zu führen. Sie erinnerte den Schriftsteller an frohe und glückliche Tage, bevor Zerstörung und Verbrechen die Stadt heimsuchten; so blieb Wilna unverändert und unberührt auf der inneren Landkarte des Literaten. Die Stadt wurde zu einem festen Motiv im Schreiben des Czesław Miłosz, ein spezielles Thema mit Variationen, das wieder und wieder vervollständigt wurde. Da Miłosz als heimatloser und rastloser Wanderer die Orientierung in einer fremden, unbekannten Welt nicht verlieren wollte, begann er, sich eine eigene magische Welt zu schaffen; er definierte Norden und Westen, Süden und Osten aufs Neue. Diese magische Welt entstand, indem er die verlorene, von ihm verlassene Welt „dort“ mit der neuen Welt „hier“, in Amerika, verglich.

Im Vergleich zu den seelenlosen, babylonischen Städten Amerikas wandelte sich Wilna mehr und mehr in die arkadische Vision eines vom Krieg unberührten verlorenen Paradieses. So verkörperte Wilna zugleich auch die namenlose, ewige Polis. Wilnas Pracht und Schönheit, ihre mysteriöse Heiligkeit, die einem Märchen glich, ließen einen speziellen Dialog zwischen dem Schriftsteller und der Stadt entstehen, der sich auf verschiedenen kulturellen Ebenen, wie der Malerei und Graphik, der Musik, Architektur, der Träume, Visionen und Legenden vollzog.

Wilno - lyrische Heimstatt

Während der gesamten Lebenszeit als Exilschriftsteller gab es für Miłosz keinen Weg zurück nach Wilna, seinen Bewohnern und seiner besonderen Atmosphäre. Das veranlasste ihn u.a. diesen einzigartigen Ort wenigstens literarisch zu retten, ihn auf diese Weise den Menschen zurückzubringen, die einst dort gelebt, die Stadt gekannt hatten oder sie besuchen und erleben wollten. Die Stadt wurde damit zur lyrischen Heimstatt, die der Dichter nie verlassen hatte. Dabei wollte sich Miłosz eigentlich nicht auf den Weg in seine Stadt machen; was er beabsichtigte war die Akzeptanz seiner existenziellen Situation als heimatloser Schriftsteller, der durch Länder, Sprachen und Kulturen wandert und doch weiterhin starke Wurzeln in der Vergangenheit hat. Diese Vergangenheit hielt er in seinen „Erinnerungen, größer als das eigene Leben“ lebendig; und das befähigte ihn, zu vernichteten Zivilisationen, vergessenen Epochen und zu den Verstorbenen zurück zu kehren. Miłosz benutzt dabei Symbole, Beschreibungen, Zitate und Kulturcodes, um ein kulturelles Werk seiner selbst zu schaffen, das tief in der polnischen und in der europäischen Tradition verwurzelt ist.

Wilna, Wilno, Vilnius, Vilne blieb der Ort, der den schrecklichen Veränderungen der Zeit und der Geschichte widerstand. Die unterschiedlichen Namen der Stadt verweisen auf die alte Geschichte und auf die ungewöhnliche Geographie in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in deren Verlauf die Stadt dreizehn Mal unter verschiedene Herrschaft kam. Miłosz macht aber auch deutlich, dass er selbst eigentlich nie genau wusste, welchen Namen er der Stadt geben sollte, weil jede Bezeichnung eine politische Bedeutung besaß, die ungewollt Argumente und Diskussionen nach sich zog. Aufgrund all dieser historischen Veränderungen mussten die Einwohner der Stadt lernen, sich anzupassen, um zu überleben; sie mussten lernen, wie man der Invasion feindlicher Armeen begegnet, so wie andere Menschen lernen mussten, mit Naturkatastrophen umzugehen.

Das jüdische Martyrium

Wilna als eine bewahrte, gerettete Stadt unterschied sich von anderen literarischen Topoi, insbesondere vom Topos der heroischen, kämpfenden Stadt, die mit ihrem messianischen Opfer einen heroischen Mythos schuf. Sie unterscheidet sich zugleich auch vom sogenannten Topos der zu Asche gewordenen Stadt, die in Kriegen bewusst zerstört und bis auf die Grundmauern niedergebrannte wurde.

In der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts war es vor allem die polnische Hauptstadt Warschau, die diesen Topos der kämpfenden, zu Asche gewordenen Stadt verkörperte. Nach dem jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto im Jahre 1943 war Warschau auch zur Vision des zerstörten jüdischen Tempels und des zerstörten Jerusalem geworden. In vielen Texten polnischer Schriftsteller, wie Jozef Wittlins, Antoni Słonimskis oder Kazimierz Wierzyńskis, verwandelt sich Warschau in die Jüdische Stadt der Asche. Miłosz stellte das jüdische Martyrium in einen universellen Zusammenhang, indem er das jüdische Schicksal als einen Teil der allumfassenden Leidensgeschichte der Menschheit zeigt. In seinen „Persönlichen Verpflichtungen“ (1969) stellte der Schriftsteller fest, dass das Schreiben über das jüdische Martyrium eine seiner moralischen Pflichten geworden ist. Deshalb begann er in seiner „moralischen Dichtung“, darüber zu schreiben; er selbst nannte sie allerdings seine „unmoralischen Poeme“, da diese Texte allein aus der Perspektive eines scheinbar unbeteiligten Beobachters geschrieben wurden. Zu diesen „moralisch-unmoralischen“ Texten zählen zwei berühmte Gedichte: „Der arme Christ schaut auf das Ghetto“ sowie „Campo di Fiori“; beide Texte demonstrieren das Desinteresse polnischer Christen gegenüber ihren dem Tod geweihten jüdischen Mitbürgern. Dabei vertritt Miłosz die Meinung, dass nur das wahrhaftige Wort des Schriftstellers „die Stimmen dieser armen Menschen“ retten kann, nämlich dann, wenn ihr Martyrium zu einem literarischen Gegenstand bzw. zu einer Legende wird. Nur so können diese individuellen Stimmen vor dem Vergessen bewahrt und gerettet werden.

Während die Warschauer Juden wegen ihres Aufstandes im Jahr 1943 in das historische und kulturelle Gedächtnis eingingen und das literarisch-kulturelle Interesse auf sich zogen, scheint das jüdische Vilnius weit entfernt und scheinbar vergessen zu sein. Es war in erster Linie Czesław Miłosz, der  auch an das jüdische Erbe dieser Stadt erinnerte. Er war es auch, der gemeinsam mit Jerzy Andrzejewski ein Drehbuch über den berühmten polnischen Pianisten Władysław Szpilman schrieb. Dieses Drehbuch trug den Titel „Der Robinson von Warschau“. Erst wesentlich später verfilmte Roman Polanski erfolgreich die Memoiren Szpilmas in seinem berühmten Film „Der Pianist“.

Jerusalem des Nordens

Anders als die polnischen Nationaldemokraten, die für ein reines Polentum kämpften, wollte Miłosz die Erinnerung an die mehrsprachige, multikulturelle Stadt in der Tradition des alten polnisch-litauischen Staatsgebildes wach halten. Er war 10 Jahre alt, als er nach Wilna kam. Damals war die Stadt noch ein Ort verschiedener Völkerschaften und Kulturen und stellte eine Symbiose aus unterschiedlichen Menschen, Kulturen, Sprachen und Religionen dar. Das jüdische Wilna, Vilne, das Jerusalem des Nordens, war dabei ein wichtiger Teil der Stadt. Die Bezeichnung Jerusalem des Nordens wurde wahrscheinlich von Napoleon geprägt, als er im Jahr 1812 in die Stadt kam; von diesem Namen wurde seitdem von den jüdischen Bewohnern der Stadt mit Stolz Gebrauch gemacht. Vilne unterschied sich von den jüdischen Stadtteilen in Warschau; es war, so beschreibt es Miłosz, ein Labyrinth aus engen mittelalterlich anmutenden Häusern und Straßen, die durch gepflasterte Kolonnaden miteinander verbunden waren. Vilne wird aber auch als ein lebendiges Zentrum jüdischer Kultur beschrieben, mit altehrwürdigen Traditionen wie dem Buchdruck und dem Verlegen von Büchern in hebräischer, jiddischer und russischer Sprache. Miłosz weiß von der Jiddisch sprechenden Arbeiterschicht, während die gebildeten Juden zumeist Russisch für ihre Kommunikation gebrauchten. In Vilne wurde die erste jüdische politische Partei des Russischen Reiches gegründet, der sozialistische „Bund“; die Stadt hatte auch ein wissenschaftliches Jüdisches Historisches Institut, das später in New York weiter arbeitete. Zugleich bedauerte Miłosz, dass das jüdische Vilne und das Wilna, Wilno, Vilnius der Nichtjuden zwei sehr verschiedene Orte, zwei unterschiedliche Welten waren, die durch Sprache, Alphabet und Religion von einander getrennt wurden. Gerade in seinem amerikanischen Exil wollte Miłosz mehr über das frühere jüdische Leben in seiner Stadt herausfinden, vor allem über die Schicksalswege seiner jüdischen Einwohner, von denen lediglich sechstausend die Shoah überlebt haben.

In Miłosz’ literarischem Werk erscheint Wilna suggestiv als ein Topos, der die gesamte Stadt umfasst. Wilna als „idealer Ort der Umkehr“ steht dabei für jeden menschlichen Ort in der Welt, den ein Mensch als seinen eigenen anerkennen kann. Daher wird der immer ständig wiederholte Psalm „An den Flüssen Babylons“ als eine rhetorische Matrix aufgegriffen, die den Zusammenhang zwischen dem zerstörten Jerusalem im Jahr 586 vor Christus und dem polnischen Exil nach dem September 1939 herstellt. Miłosz zufolge kann die Idee des „Himmlischen Neuen Jerusalem“ in Meilen und Jahren gemessen werden; sie kann aber auch daran bemessen werden, was im Leben des einzelnen Menschen geschehen ist, was in seine Erinnerung eingegangen ist.

In seinem Oratorium über Wilna gebraucht Miłosz allerdings den Namen Jerusalem nicht explizit. Wilna ist nicht nur die Stadt der herrlichen Barockbauten, sondern auch eine ewige Stadt, die „Stadt Gottes“ , „ das Neue Jerusalem“. Sie wurde nach dem Modell des alten Jerusalem erbaut, eine sich selbst enthaltende Stadt, wie sie der Psalmist nennt, und sie unterscheidet sich von eben deshalb deutlich von anderen polnischen Städten. Die Apokatastase des Zustandes vor dem Fall des Menschen ist für den Dichter eine Metapher für einen idealen Zeit-Raum-Bezug, für eine ideale Stadt, die aus der Perspektive der Emigration und des Exils in jedem Detail wieder ersteht.

Wilna ... Vilnius - eine Stadt der europäischen Gegenwart

Heute ist allerdings nur noch die Legende von Vilne geblieben. Die jüdische Stadt ist für immer erloschen. Stalins ethnische Säuberungen haben die Stadt dramatisch verändert: “Der Exodus betraf die gesamte Intelligenz, die Beamten und Angestellten der Stadt sowie die Handwerker; lediglich die eher passiven gesellschaftlichen Gruppen verblieben in der Stadt“, schreibt Miłosz in seinen „Straßen von Wilna“ und er fährt fort, dass damals „die kulturelle Sprache sich vom Polnischen zum Litauischen wandelte“. Für Miłosz war Wilna eine einzigartige multiethnische und multikulturelle Stadt, eine geschlossene, harmonische Stadt, vergleichbar mit Krakau, die sich deutlich von den in der Ebene gebauten Städte wie Warschau unterschied. Für den Schriftsteller war Wilna ein wichtiges Zentrum der gesamten Region, die Provinzielles und Hauptstädtisches vereinte, wenngleich das Provinzielle überwog... Die Stadt war auch ein Ort der typischen sprachlich-ethnisch-kulturellen Verschmelzung, vergleichbar mit Triest oder Czernowitz. Es war eine Stadt „dazwischen“, eine Enklave mit einer stark ausgeprägten lokalen Identität, die sich in der antinationalen Bewegung der „Krajowcy“ formierte, die eine einseitige Herrschaft der polnischen Nationaldemokraten in der Stadt bekämpften.

Die multiethnische und multikulturelle Tradition samt der lokalen Identität wie auch die demokratischen Traditionen des polnisch-litauischen Commonwealth haben Miłosz’ Ideen eines heimatlichen Europa geprägt, einer kulturellen und auch politischen Symbiose polnischer, litauischer, weißrussischer und ukrainischer Bürger im Osten Europas. Miłosz unterstützte die Vision des mit ihm befreundeten Exilschriftstellers Stanisław Vincenz über ein vereinigtes Europa der verschiedenen Vaterländer. So begann er einen Dialog mit seinem litauischen Freund und Kollegen Tomas Venclova. Dieses Zwiegespräch war eine ausgezeichnete Möglichkeit, nicht nur für den Austausch unterschiedlicher Sichtweisen, sondern auch für die Unterstützung der polnisch-litauischen Annäherung und Freundschaft. In der Geschichte der Polen und Litauer war Wilna/Vilnius das schwierigste Problem, das es zu lösen galt. In der litauischen Tradition war die Stadt ein Symbol für Kontinuität und historische Identität, das ebenfalls oft mit dem Mythos Jerusalem verglichen wurde. Miłosz und Venclova waren sich einig, dass die Stadt, obgleich das Wilna Miłoszs ein anderes war als das Vilnius Venclovas, „zur Humanisierung der nationalen Gefühle“ beitragen und als ein Modell für alle osteuropäischen Länder dienen sollte. Das Schicksal der Stadt während des II. Weltkrieges und nach dem Krieg, der völlige Austausch der Bevölkerung, der Wechsel der Sprache und Gesellschaft hat Venclova dabei mit dem Schicksal der Städte Danzig/Gdańsk, Breslau/Wrocław sowie Königsberg/ Kaliningrad verglichen. Dieses besondere Los ist es, das diesen Städten eine wichtige Rolle und eine besondere Mission in Europa zukommen lässt.

In seinen Texten über Wilna führt Miłosz durch die komplizierte Geschichte und stellt die kulturellen, religiösen und sprachlichen Verschiedenheiten seiner Heimat in den östlichen Grenzgebieten des „anderen Europa“ dar. Er möchte seine häufig ignoranten Leser im Westen über Polens historische Wechselfälle in der europäischen und Weltgeschichte unterrichten. Einige der Werke über Wilna stellen keine rein poetischen Werke dar, sondern sind informative Texte mit einer Bildungsfunktion.

„Die Straßen von Wilna“ lesen sich wie ein persönlicher, intimer Reiseführer: “Wilna gehört zu den originellsten Städten Europas (...) Wunderbar gelegen und mit seiner herrlichen Architektur ist Wilna prädestiniert, Massen von Touristen anzuziehen (...) daher möchte ich den Besuchern der Stadt, die aus dem Westen Europas kommen, einiges über Wilna erzählen ...“

Übersetzung aus dem Englischen: Antje Jonas, Hamburg