Zum Tod von Stefan Leder

Unbeirrbar

Von Friedrich Leidinger

 

Am 31.10.2003 verstarb der polnische Arzt und Politiker Stefan Leder in Warschau, der Stadt, in der er vor 84 Jahren geboren wurde. Stefan Leder stammte aus Familien, deren Mitglieder seit Jahrzehnten gegen Unterdrückung und für soziale Gerechtigkeit und Frieden kämpften. Sein Vater, der Publizist W³adys³aw Feinstein, der im Gefängnis den Namen Leder angenommen hatte, gehörte zur Führung der Sozialdemokratie im Königreich Polen und Litauen, der Partei Rosa Luxemburgs. Seine Mutter, Lilli Hirschfeld, war - wie ihre ganze Familie - ebenfalls politisch und schriftstellerisch tätig. Die Erfahrung als Abkömmlinge einer verachteten und vor allem in Russland immer wieder in blutigen Pogromen verfolgten Minderheit, eine humanistische Grundhaltung und ein unermüdliches Streben nach Bildung, und nicht zuletzt das Leben in einer zwischen den Großmächten Russland, Deutschland und Österreich aufgeteilten Nation hatten sie für das Massenelend der landlosen Bauern und Landarbeiter und des Industrieproletariats sensibilisiert.

 

Stefans älterer Bruder Witold schrieb darüber vor einigen Jahren: „Mein Bruder und ich hatten es am einfachsten. Wir waren in einer Familie aufgewachsen, in der sowohl Vater wie Mutter in der revolutionären Arbeiterbewegung aufs Aktivste angegiert waren. Wir hatten also den Kommunismus buchstäblich mit der Muttermilch eingesogen. Wir wuchsen in der Überzeugung auf, die Welt sei schlecht eingerichtet, Ausbeutung und Unterdrückung seien die Grundübel, welche man bekämpfen müsse und könne, und jeder von uns hätte die Pflicht sich dafür einzusetzen und das war unser sehr einfacher Weg zum Kommunismus.“

Das Leben des Vaters, eines politischen Publizisten und Funktionärs, brachte für den Knaben Stefan großartige Erfahrungen, aber auch harte Entbehrungen mit sich. Die politischen Verhältnisse zwangen die Familie Leder-Hirschfeld kurz nach Stefans Geburt zur Wanderschaft. Seine Geburtsstadt Warschau sollte Stefan erst 25 Jahre später als Offizier der ersten Armee der polnischen Streitkräfte wieder sehen. Seine Kindheit verbrachte er zunächst in Berlin, dann in Neapel und Rom, wo sein Vater eine Zeit lang Konsul für die junge Sowjetunion war. Es folgten ein Aufenthalt in England und eine längere Phase als Schüler in einer Pflegefamilie in Baden. Deutsch wurde die Muttersprache dieses jungen Polen – und er sprach es besser und gepflegter, als viele Deutsche Zeitgenossen. Gleichwohl fühlte er sich in Deutschland in den Zwischenkriegsjahren aufgrund seiner Herkunft und Lebensumstände oft als Außenseiter. In diesen Jahren nahm er regen Anteil an der politischen Arbeit seines Vaters, der mit zahlreichen Publikationen die Diskussionen der marxistischen Linken in Europa mit gestaltete.

Als die Familie Mitte der 30-er Jahre nach Moskau übersiedelte, gerieten alle in den Strudel der stalinschen Verbrechen. Stefans Tante, Edda Hirschfeld-Tennenbaum, kam in ein Lager, ihr Mann, Jan Tennenbaum, kam in der Haft ums Leben, sein Onkel Arthur Hirschfeld wurde erschossen, seine Tante Anna Hirschfeld-Dobranicka starb im Lager, genauso wie ihr Mann und ihr Sohn. Da W³adys³aw Leder ein enger Vertrauter der 1919 ermordeten Rosa Luxemburg war, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch er verhaftet und deportiert wurde. Er starb 1938 auf dem Transport in ein Lager.

Etwas zu lernen, hatte der Vater seinem Sohn noch während der Verhaftung mit auf den Weg gegeben. Das angestrebte Studium der Geschichte war ihm als Sohn eines „Kosmopoliten“ nicht erlaubt. Stefan Leder entschied sich auf den Rat von Freunden für die Medizin. Er studierte zunächst in Moskau, bis er sich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion freiwillig zum Dienst in der Roten Armee meldete. Nach einigen Monaten des Kriegsdienstes befahl Stalin die Entlassung aller Medizinstudenten aus der Armee; sie sollten ihr Studium abschließen. 1943, als das Schicksal Polens nahezu besiegelt schien, meldete sich Stefan Leder nach kurzem Dienst in der Roten Armee als Sanitätsoffizier in der 1. Armee des polnischen Heeres. Denn Stefan Leder war Pole. Er war dies nicht etwa, weil er zufällig in Warschau geboren wurde. Er war Pole, weil er sich in der Zeit der größten Not seines Vaterlandes dazu bekannte. Er tat dies als Bekenntnis zu seiner Geburtsstadt und ihrem heldenhaften Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Und er tat dies auch als Bekenntnis zu den Idealen seines Vaters und seines zweiten großen politischen Vorbildes, Rosa Luxemburg. Polnischer Patriot und marxistischer Internationalist, das war die Identität, mit der er in den Krieg um die Befreiung Europas von der Naziherrschaft eintrat.

Die Erlebnisse dieses Krieges haben Stefan Leder nie wieder losgelassen. Er, der so gut deutsch wie russisch sprach, und dessen polnisch immer etwas akzentuiert klang, versuchte in der Zeit des großen Hasses allen Menschen, die es benötigten, als Arzt entgegenzutreten. Das brachte ihn nicht nur immer wieder in Konflikt mit seinen militärischen Dienstvorgesetzten, die ihm Vorhaltungen machten, wenn er deutsche Zivilisten als Patienten behandelte. Es verschaffte ihm auch die ersten Erfahrungen als Vermittler zwischen verfeindeten Fronten.

Diese Haltung entsprach dem Erbe der Familie, der jegliches Denken in nationalistischen Kategorien fremd war. Edda Tennenbaum, die ältere Schwester seiner Mutter, organisierte kurz nach ihrer Freilassung aus einem Lager in Kasachstan ab Sommer 1946 im kriegszerstörten Warschau, auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos, gemeinsam mit anderen Antifaschisten politische Aufklärung und Bildung für deutsche Kriegsgefangene. Herrmann Kant hat ihr dafür in seinen Romanen „Die Aula“ und „Der Aufenthalt“ ein literarisches Denkmal gesetzt.

Stefan Leder war ein politischer Arzt, der sich den Satz Rudolf Virchows „Politik ist Medizin im Großen“ in besonderer Weise zu eigen gemacht hat. Sein gesellschaftliches Engagement war leidenschaftlich, konsequent und kompromisslos. Seinen marxistischen Überzeugungen, seinem „mit der Muttermilch aufgesogenen Kommunismus“ blieb er seit seiner Jugend unbeirrbar loyal verbunden, ohne jemals dogmatisch oder opportunistisch zu sein. Seine kämpferische Natur war gepaart mit sensibler Aufmerksamkeit und Sorge für Menschen, die in der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Unterstützt wurde er darin von seiner Lebensgefährtin Pola Landau, die ihn kongenial ergänzte, und mit der er bis zu ihrem Tod vor drei Jahren in tiefer Liebe verbunden war. Sie stammte aus Lemberg, studierte erst Jura, dann Medizin und war immer in der marxistischen Arbeiterbewegung aktiv. Sie musste flüchten, ging zunächst nach Prag und lebte von 1939 – 1944 in England, wo sie unter anderem als Krankenschwester arbeitete. Nach Polen zurückgekehrt, arbeitete sie am Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten in Warschau.

Stefan Leder machte in den ersten Jahren nach dem Krieg eine Ausbildung zum Internisten in einer Klinik des Komitees für Innere Sicherheit, derselben Behörde, der auch sein Bruder als Offizier diente. Als dieser im Rahmen einer neuerlichen antisemitischen Kampagne 1953 verhaftet wurde – seiner Hinrichtung entging Witold Leder wohl nur durch Stalins Tod – musste auch Stefan Leder seine Tätigkeit in der Klinik quittieren. Sein bereits im Studium entdecktes Interesse an psychologischen Phänomenen, Beobachtungen über den Zusammenhang zwischen Persönlichkeit, Erleben und Krankheitsverlauf, führten ihn an das Institut für Psychoneurologie in Warschau. Hier baute Stefan Leder das erste polnische Institut für Psychotherapie auf.

Die Voraussetzungen für diese Arbeit waren denkbar schwierig: Während der deutschen Besatzung waren nicht allein Tausende von psychisch Kranken als „lebensunwerte Ballastexistenzen“ von den Deutschen ermordet, die Krankenhäuser verwüstet oder anderen Zwecken zugeführt worden. In Polen war zudem der größte Teil der akademischen Eliten gezielt verfolgt und ermordet worden. Nach Kriegsende standen nur noch 30 von ehemals über 100 Psychiatern ihrem Lande zur Verfügung. Als weiteres Erschwernis kam hinzu, dass beim Wiederaufbau des völlig zerstörten Landes die Versorgung psychisch Kranker keine Priorität hatte. In den ersten Nachkriegsjahren herrschte gar die Vorstellung, dass das Problem psychischen Leidens durch den Aufbau des Sozialismus gänzlich gelöst werden könnte. Psychotherapie, vor allem in Form der damals vorherrschenden Psychoanalyse, war als dekadent und bourgeois gebrandmarkt. Nach Abschluss der eigenen Facharztweiterbildung als Psychiater konzentrierte sich Stefan Leder mit großem wissenschaftlichem Eifer auf die Entwicklung einer eigenen therapeutischen Methode, die seinen fachlichen und politischen Überzeugungen entsprach. Ähnlich wie westliche Therapeuten „entdeckte“ Stefan Leder die Gruppe als therapeutisches Instrument. Als Arzt und als Therapeut, vor allem aber auch als Wissenschaftler wurde Stefan Leder zu einem der wichtigsten Protagonisten der Psychotherapie in den sozialistischen Ländern.

Seine enormen Fähigkeiten, den Dialog mit ganz unterschiedlichen Menschen zu führen, kamen ihm dabei zu Gute. Auf diese Weise suchte und fand Stefan Leder Wege zur Verständigung auch über politische und ideologische Spaltungen hinweg. Als vor etwa 20 Jahren Psychiater aus der Bundesrepublik Deutschland erste Kontakte nach Polen herstellten, gehörte Stefan Leder zu den aktivsten Förderern des Verständigungsprozesses.

Diese deutsch-polnischen Begegnungen standen in besonderer Weise für die Aufgabe, die das Leben Stefan Leder geprägt hat. Denn sein politisches Engagement war eng mit der Aufgabe der Verständigung zwischen Polen und Deutschen verbunden. Psychisch Kranke waren die ersten Opfer des 2. Weltkrieges. Ihre Ermordung blieb danach weitgehend ungesühnt. Über die Aufklärung der Vergangenheit entdeckten die Psychiater aus Polen und aus der Bundesrepublik gemeinsame Themen und gemeinsame Interessen.

In zahlreichen Begegnungen, an denen alle in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen aus Polen und der Bundesrepublik beteiligt waren, zu denen aber auch immer häufiger die Betroffenen selbst oder Angehörige eingeladen wurden, entstand ein Forum, indem ungefiltert und unzensiert Fragen, Anschauungen und Meinungen ausgetauscht werden konnten. Es ging um Fragen wie: Was haben die Eltern oder andere nahe Angehörige der Deutschen während des Krieges und während der Okkupation getan? Warum vertreten manche Deutsche weiterhin rassistische Überzeugungen? Warum sind so viele Menschen in Polen immer noch antisemitisch? Warum ist eine solche Ungerechtigkeit, dass es uns nach dem gewonnenen Krieg schlechter geht als den Deutschen? Warum stellen die Deutschen schon wieder Ansprüche? Aber auch: Wie fühlt sich ein Deutscher, der früher polnischer Staatsbürger war, wie lebt man in einer Mischehe, sowohl deutsch-polnisch als auch christlich-kommunistisch? Wie werden die Kinder erzogen?

In diesen Diskussionen wurde das Politische im Höchstpersönlichen abgebildet und das eigene seelische Erleben immer auf den größeren gesellschaftlichen Kontext bezogen. Verständigung ohne Tabus, ohne Ausklammerung schwieriger, schmerzlicher Themen, das war das Kunststück des Arztes und des Politikers Stefan Leder. Neben der Erinnerung an Vergangenes boten diese Foren auch die Möglichkeit der Reflexion über die aktuellen Veränderungen im jeweiligen Land und deren Bedeutung für das Verhältnis zueinander: die „Wende“ in der DDR und die deutsche Vereinigung und die Umgründung der polnischen Republik.

Das Scheitern der sozialistischen Systeme in Osteuropa war für Stefan Leder auch eine persönliche Niederlage. Aber er blieb seiner Überzeugung treu und setzte konsequent und unbeirrbar den einmal eingeschlagenen Lebensweg fort. Gemeinsam mit seinem Bruder Witold sammelte er in den letzten Jahren Dokumente und Zeugnisse über die politischen Aktivitäten seines Vaters, seiner Mutter und anderer Angehöriger der Familie. Es entstand daraus eine einzigartige Dokumentation, eine Familiensaga einer Familie von „Roten“*. Daneben beschäftigte er sich mit neuen Perspektiven für eine Sozial- und Friedenspolitik in Europa. Er war für den Aufbau eines europaweiten Netzwerkes zur Verteidigung der Rechte der Schwachen und zur Abwehr der Übermacht der Wirtschaftsinteressen global agierender Kapitalgesellschaften. Am Tage seines Todes nahm Stefan Leder an einer internationalen Tagung über Zukunftsperspektiven für eine linke Politik in Europa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau teil. Er bat am Ende der Konferenz noch einmal um die Gelegenheit zu einer persönlichen Erklärung. Es wurde ein bewegender Appell, sich im Geiste Rosa Luxemburgs zusammen zu schließen, das Erbe des Humanismus weltweit gegen ausbeuterische Kapitalinteressen zu verteidigen. Nach dem er geendet hatte, verstarb er plötzlich noch im Tagungsraum an Herzversagen.                                            

 

*  Unbeirrbar ROT. Zeugen und Zeugnisse einer Familie. Eineinhalb Jahrhunderte Familiensaga. Erzählt und ausgewählt von Stefan und Witold Leder. Herausgegeben von Gerd Kaiser. Edition Bodoni. Berlin 2002. ISBN 3-929390-62-0. Zu bestellen über: Bodoni-Museum. Linienstraße 65, 10119 Berlin. 374 Seiten; 28,00 Euro.