Kein Handbuch
zum Entlarven
Von Heiner Lichtenstein
Es gibt ungezählte Romane über Napoleon I und seine Zeit, über Franco,
Cäsar und Churchill, aber zu eigenen Handbüchern hat es noch keiner gebracht. Das
hängt auch damit zusammen, dass noch nie gegen Mitglieder eines Regimes eine
Flut von Strafverfahren geführt worden ist. Die einzige Ausnahme bilden die zwölf
Nazijahre. Seit dem Beginn der 80er Jahre werden dazu Handbücher,
Bibliographien, Lexika und Enzyklopädien angeboten - übrigens von höchst
unterschiedlicher Qualität. Jetzt hat der S. Fischer-Verlag in Frankfurt am
Main nachgelegt - und zwar nicht etwa, um auch ins Geschäft zu kommen, sondern
um eine Lücke zu schließen. „Das Personenlexikon zum Dritten Reich - Wer war
was vor und nach 1945“ von Ernst Klee unterscheidet sich nämlich grundlegend
von allem, was bisher dazu auf dem Markt ist.
Der Untertitel sagt es deutlich: Klee
bleibt nicht bei der Befreiung im Mai 1945 stehen, was alle vor ihm getan haben.
Klee legt Wert auf die Biographien danach. Wie ist es denn mit den Karrieren
von Ärzten, Historikern, Juristen, Polizeibeamten, Geistlichen, Offizieren,
Journalisten und vielen anderen Berufen weitergegangen? Z. B. mit dem Juristen
Eduard Dreher: Während des Krieges hat er als Erster Staatsanwalt am
Sondergericht zur Ausschaltung politischer Gegner und Stellvertreter des
Generalstaatsanwalts Innsbruck Todesstrafen wegen Diebstahls eines Fahrrads
oder geringer Mengen Lebensmittel beantragt. Nach der Befreiung bewarb er sich
erfolgreich beim Bundesjustizministerium, brachte es zum Leiter der Abteilung für
die Strafrechtsreform und fügte in einen nebensächlichen Artikel einen
Paragraphen ein, durch den das gesamte Führungspersonal der Terrorzentrale SS-Reichssicherheitshauptamt
nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden konnte. Bisher mussten über Fälle
wie Dreher dicke Bücher geschrieben werden. Nun genügt ein Griff “zum Klee”,
wie es bald heißen könnte, und man weiß Bescheid.
Ein anderer Fall ist der
hochangesehene Münsteraner Historiker Werner Conze. Seine brillanten
Vorlesungen waren in den 50er Jahren Höhepunkte historischen und literarischen
Forschens. Niemand hat damals gefragt, was Conze bis 1945 getan hat. Klee klärt
auf. Conze forderte die „Entjudung der Städte und
Marktflecken“ in Polen. Er war ein schlimmer NS-Blut- und Bodenideologe. Nach 1945
war er Ordinarius in Heidelberg sowie Mitgründer und Mitherausgeber der „Vierteljahreshefte
für Zeitgeschichte“. Mehr als 4.000 Namen hat Klee sorgfältig zusammengetragen
und dokumentiert - einschließlich der Quellen zu jeder Person.
Das vorzügliche Personenlexikon
findet freilich auch Kritiker. Das ist bei Büchern völlig normal - auch nach
dem Grundsatz, wer sich öffentlich äußert, muss sch selbstverständlich der
Kritik stellen. So hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) den Berliner
Historiker Henning Köhler beauftragt, Klees Buch zu besprechen - wohl in der
Gewissheit oder Hoffnung, der werde bestimmt Haare in der Suppe finden. Die
gibt es auch, sie hängen aber mit dem Spezialgebiet Klees zusammen. Er hat die
NS-Medizin und speziell die NS-”Euthanasie” erforscht
und kennt sich deshalb bei Medizinern besonders gut aus. Das bemängelt Henning
bereits in der Überschrift. Dann nimmt er Anstoß am Fischer Verlag und dessen
literarischer Macht bei der Bearbeitung der Nazizeit. Dabei trifft es zu, dass
Fischer sich mehr mit der NS-Zeit beschäftigt hat und dies hoffentlich weiter
tun wird als jeder andere deutsche Verlag. Was daran verwerflich ist, schreibt
Köhler nicht. In einem anderen Punkt, der dem Rezensenten missfällt, offenbart
Köhler allerdings seine offenbar begrenzte Aufnahmefähigkeit. Wenn ich ein Buch
über Napoleon schreibe, dann kommt der Mann selbstverständlich oft vor. Verfasst
jemand ein NS-Lexikon, in dem es auch um die Zeit nach der Befreiung geht, kann
man dem Verfasser doch nicht vorwerfen, sein Versprechen einzulösen. Das
allerdings tut Köhler und begibt sich so in die Nähe der Lächerlichkeit. Ein
Rezensent kann ein Buch bemängeln, weil er es für überflüssig oder gar schädlich
hält. Das kann sogar seine Aufgabe sein. Er darf aber doch nicht deshalb Vorwürfe
erheben und ein Buch verreißen, weil der Autor einhält was er verspricht. Genau
das aber tut Henning Köhler, indem er im letzten Satz fragt: „Wird es schließlich
nur als Handbuch zur antifaschistischen Familienforschung dienen, um Großväter
oder andere ‚Verwandte’ zu entlarven?“ Keine Bange, Herr Köhler. Aber es hilft
zu verstehen, warum vieles nach der Befreiung so und nicht besser oder gar noch
schlechter gelaufen ist. Glückwunsch an den Fischer Verlag, das Buch verlegt zu
haben, Dank an Ernst Klee für seine Arbeit.
Ernst Klee, Das Personenlexikon zum
Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. S. Fischer Verlag 2003, 730 S. 29,
90 Euro, ISBN: 3-10-039309-0