Im letzten Jahr starb Frau Professor Dr. Renate Riemeck. Sie war seit den 50er Jahren bis zu ihrem Tod Mitglied des Beirats unserer Gesellschaft. Zu ihrer Würdigung drucken wir in leicht gekürzter Form einen Beitrag von Renate Riemeck ab, der bereits 1963 in den „Deutsch-Polnischen Heften“ (Heft 4) erschien und der in weiten Teilen seine Aktualität nicht eingebüßt hat. Der Beitrag liefert eine Analyse bundesdeutscher Außenpolitik der damaligen Zeit, an der sich aus der heutigen Perspektive Fortschritte als auch politisch Unverändertes ablesen lassen. Die „Deutsch-Polnischen Hefte“ sind Teil des kontinuierlichen publizistischen Engagements unserer Gesellschaft (s.a. Beitrag „Wir wollen den Frieden“ von Karl Forster).

 

Deutschland und Polen

Von Renate Riemeck

 

In Heft 1 des laufenden Jahrgangs, der „Deutsch-Polnischen Hefte“ hat Ministerialdirigent Dr. Ludwig Landsberg sich in einer sehr wohlwollenden Weise zu der Frage geäußert, was geschehen kann, um das deutsch-polnische Problem einer Lösung näherzubringen. Mir scheint aber, daß man diese Frage nicht von dem realen, machtpolitischen Hintergrund trennen und auf die Ebene der psychologischen “Klima”- Verbesserung verlegen darf. Gewiß kann man, wie Landsberg vorschlägt, alles tun, um das Klima” zwischen Polen und der Bundesrepublik zu verbessern. Und es gibt in der Tat einige Anzeichen dafür, daß sich in Westdeutschland ein gewisser Wandel in der Beurteilung des heutigen Polen angebahnt hat.

 

Einige bundesdeutsche Publizisten, wie die Gräfin Dönhoff in der „Zeit“, Egon Vacek im „Stern”, Richard Thilenius in der „Süddeutschen Zeitung”, Hans Gerlach. im“Kölner Stadtanzeiger”, H. J. Orth in der “Frankfurter Rundschau“ haben in den vergangenen Monaten begrüßenswerte Anstrengungen gemacht, um das in Westdeutschland jahrelang propagierte Bild von der Unfähigkeit der Polen, die ehemaligen deutschen Ostgebiete kulturell und wirtschaftlich zu assimilieren, einigermaßen an der Wirklichkeit zu korrigieren. Ich würde es aber nicht wagen, aus diesen Reportagen in einigen Zeitungen abzuleiten, daß in der Bundesrepublik Rundfunk und Presse “objektiv“ über Polen berichten. Mit geringen Ausnahmen haben alle diese Berichte eine ganz bestimmte Tendenz. Sie arbeiten den engen Zusammenhang Polens mit der Kultur und Geschichte der westeuropäischen Staaten heraus (was zweifellos richtig ist) und erzeugen dabei den Eindruck, daß dieses Polen nur darauf wartet, sich Westeuropa möglichst schnell wieder anschließen zu dürfen (was zweifellos falsch ist). Ganz gewiß wünscht das polnische Volk, in unmittelbarer Verbindung zu Westeuropa stehen zu können. Aber es ist nicht das Westeuropa der NATO, der EWG und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, zu dem sie hinstreben. Hier liegt das große Mißverständnis der meisten Polen- Reportagen, die jetzt bei uns modern geworden sind. Die Polen fühlen sich weder als Ost- noch als Westeuropäer. Sie wollen vielmehr den nicht erst seit 1945 bestehenden Gegensatz zwischen den beiden Hälften Europas überwinden helfen, weshalb sie auch leidenschaftlich für die Koexistenz eintreten. Sie fühlen sich - wie die wenigen der Aufgabe ihres Volkes noch bewußten Deutschen - als Volk der europäischen Mitte, als geistige Brückenbauer zwischen Ost und West. Polen - das gilt es zu erkennen - ist wie die Tschechoslowakei der slawische Teil Mitteleuropas. Hier ist ihr historischer Standort, und deshalb wollen sie den Austausch und die zweiseitigen Verbindungen, denn sie wissen heute, daß sie sich nie wieder in eine einseitige Frontstellung gegen Rußland drängen lassen dürfen. Deshalb ist es nicht nur falsch, sondern gefährlich, die von der polnischen Bevölkerung angestrebte Öffnung zum Westen mit einem Ja zu seinem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System zu verwechseln. Zu dieser irrtümlichen Schlußfolgerung ermutigen die meisten der polenfreundlichen Berichte, die neuerdings bei uns erscheinen dürfen. Sie “objektiv” zu nennen dürfte deshalb dem Sachverhalt nicht ganz entsprechen.

Diese Berichte stehen allerdings in einem gewissen Zusammenhang mit der wachsenden Kritik einflußreicher westdeutscher Kreise an der Bonner Ostpolitik. Man drängt auf eine Verständigung mit Warschau. Solches Drängen geht nun aber nicht nur auf die Einsicht in die Notwendigkeiten zurück. Die Bereitschaft zur Verständigung mit Polen wird beispielsweise auch von solchen Kreisen getragen, die entweder aus wirtschaftspolitischen Gründen - auf rein ökonomischer Basis - den Osthandel aktivieren möchten, oder aber es sind bestimmte politische Kräfte, die sich von einer Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen eine mögliche “Aufweichung” des Ostblocks versprechen. Man hofft, durch ein gewisses Entgegenkommen Polen langsam in das westliche Lager hinüberziehen zu können...

Es mag zutreffen, daß es in der Bundesrepublik keine politisch relevante Gruppe gibt, die “nicht Verständigung, Anerkennung und Versöhnung mit dem polnischen Volke wünscht”. Aber hier muß doch gefragt werden, auf welcher Grundlage solche “Verständigung, Anerkennung und Versöhnung” gesucht wird. Keine der Bundestagsparteien ist bisher der Aufforderung des Tübinger Memorandums der acht evangelischen Theologen und Laien nachgekommen, “dem Volke die Wahrheit” zu sagen und also die realpolitische Notwendigkeit der Anerkennung der Oder- Neiße-Grenze als Voraussetzung für den Frieden in Europa zu bezeichnen. Immer noch hält man an der Fiktion fest, daß das Problem der deutschen Ostgrenzen nur in einem Friedensvertrag geregelt werden könne, wobei man sich gleichzeitig mit allen Mitteln gegen den Abschluß eines solchen Friedensvertrages sträubt.

Muß eine solche durch und durch unehrliche Haltung nicht dazu führen, daß man in Polen alle Symptome einer revanchistischen« Einstellung in der Bundesrepublik sorgfältig registriert? Und kann man leugnen, daß auf den großangelegten Treffen der Vertriebenenverbände immer wieder Äußerungen fallen, die das polnische Volk hinsichtlich seiner staatlichen Grenzen aufs äußerste beunruhigen müssen? Wir sollten nicht darüber klagen, daß die polnische Öffentlichkeit über die Bundesrepublik” nicht objektiv unterrichtet wird. Wir sollten vielmehr sehen, welche verheerende Wirkung es auf die Polen haben muß, wenn jeder, der in der Bundesrepublik für die Respektierung der Realitäten eintritt, als “Verzichtpolitiker” verfemt werden kann oder wenn ein amtierender (!) Landesminister die strafrechtliche Verfolgung all derer fordert, die sich dafür aussprechen, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen.

Ist die aufsehenerregende Rede des jetzigen Bundesverteidigungsministers und damaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten, Kai Uwe von Hassel, über die deutschen Ansprüche im Osten keine “politische Wirklichkeit”? Geben die Schmähschreiben, die die Tübinger Acht erhalten haben, oder die Leserbriefe, die von großen Tages- und Wochenzeitungen an hervorragender Stelle veröffentlicht werden, “keinerlei Anhaltspunkte” für die “polnische Sorge vor einer Bedrohung” durch die Bundesrepublik?

Die zweifellos vorhandene Verständigungsbereitschaft vieler deutscher Bundesbürger verliert demgegenüber doch wohl sehr an Gewicht. Vermutlich haben auch diejenigen, die sich über die “Verzichtpolitiker” empören und sie am liebsten als Landesverräter in die Gefängnisse bringen möchten, gar nichts dagegen, daß man den Polen gegenüber “Verständigung, Anerkennung und Versöhnung» walten läßt.

Aber es ist leicht, seinem Nachbarn zu erklären, man wolle sich mit ihm versöhnen, wenn man gleichzeitig erwartet, daß er das Streitobjekt zuvor herausgibt und die Rechnung zu eigenen Lasten begleicht. Tatbestand ist, daß der Normalisierung unserer Beziehungen zu Polen bisher noch immer die Nichtanerkennung der Oder- Neiße-Grenze seitens der Bundesrepublik im Wege steht, selbst wenn man die Hallsteindoktrin überspringen würde. Tatbestand ist ferner, daß weder die USA noch Großbritannien und erst Recht nicht Frankreich irgendwelche Einwände erheben würden, wenn die Bundesrepublik sich auf der Grundlage der Anerkennung der 1945 geschaffenen territorialen Veränderungen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Polen entschlösse. Im Gegenteil, in Washington und London würde ein solcher Schritt, wie allgemein bekannt sein dürfte, sogar begrüßt werden - von Frankreich ganz zu schweigen.

Würde Bonn diplomatische Beziehungen zu Warschau aufnehmen, dann könnte das sogar ein eminent wichtiger Beitrag zur Entspannung zwischen den Weltmächten sein, das Verhältnis der Bundesrepublik zur UdSSR erheblich verbessern und auch das Berlin-Problem entschärfen. Es trifft nicht zu, daß sich erst die Weltmächte geeinigt haben müssen, bevor es der Bundesrepublik und Polen möglich ist, “eigene Wege der politischen Annäherung zu gehen”. Einen solchen “eigenen Weg» hat der polnische Außenminister Rapacki ja bereits vor Jahren vorgeschlagen, als er den Plan einer atomwaffenfreien Zone entwickelte. Von Polen her gesehen gäbe es da keine Schwierigkeiten, und für die Bundesrepublik gilt das gleiche -vorausgesetzt, daß sie guten Willens ist. Es hieße die entwicklungshemmende, weil intransigente Ostpolitik Bonns entschuldigen und der Bundesregierung jede diplomatische Manövrierfähigkeit absprechen, wollte man die Normalisierung unserer Beziehungen zu Polen von der Voraussetzung abhängig machen, daß Amerika und die Sowjetunion ihr gegenwärtiges Verhältnis’ ,bereinigt” haben. Die Bundesregierung hat ja soeben bewiesen, daß sie auch ohne Amerika Politik machen kann und sogar bereit ist, sich in Gegensatz zu Washington zu bringen, wenn sie es für richtig hält. Was Adenauer bei dem Abschluß seines Paktes mit de Gaulle an den Tag gelegt hat, war jedenfalls alles andere als eine Abhängigkeit von den USA.

Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion können keine bleibenden Friedensregelungen für Europa finden, wenn die unmittelbar Betroffenen - und das sind die Mitteleuropäer - nicht ihrerseits dabei mitwirken.

Bonn wird an dieser Mitwirkung nicht gehindert, weder von den westlichen Alliierten noch von der Sowjetunion. Die Bundesrepublik ist sogar von beiden Seiten dazu aufgefordert worden, eigene Vorschläge für eine Entspannung in Europa zu unterbreiten. Die Herstellung normaler Beziehungen zur polnischen Regierung würde ein wesentlicher Schritt zur Befriedung Mitteleuropas sein. Daß die Bundesregierung sich weigert, ihn zu vollziehen, ist der Grund für das polnische Mißtrauen in alle unsere Versicherungen, daß es keinen ernstzunehmenden Menschen in der Bundesrepublik gibt, der (wie Landsberg meint) ”etwas anderes als eine friedliche Verständigung mit Polen anstrebt”. Und eben dieser Faktor ist es auch, der den Polen unsere Bereitschaft zur Verständigung, Anerkennung und Versöhnung” unglaubwürdig erscheinen läßt, mögen wir sie noch so oft beteuern.