Was gehört zu den deutschen Hausaufgaben?

Von Werner Stenzel

 

Flucht, Vertreibung – Aussöhnung und Vergebung. Das eine wie das andere ist zum Schlagwort geworden. Unrecht und Horror implizieren das eine, die theologische Begriffswelt bemühend, das andere. Im einen wie im anderen Fall werden zuerst Emotionen bedient und zu wenig Wissen. Zum Beitrag von Eva und Hans Henning-Hahn, “Erst die deutschen Hausaufgaben machen” in POLEN und wir, Nr. 4/2003 möchte ich einige Anmerkungen machen.

 

Die geäußerten Befürchtungen über die Konzeptionen von E. Steinbach und M. Meckel teile ich. Flucht und Vertreibung sind seit alters her verbunden mit der Be- bzw. Erstreitung des Rechts auf Heimat. Wir brauchen gegenwärtig nicht nur an den Nahen Osten zu denken. Im Band der Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim 1989, S. 618 lese ich zum Heimatbegriff u. a. die Sätze: „..... Die relativ enge Bindung des Begriffs Heimat an Eigentum und Besitz zeigt sich u.a. in den Bestimmungen zum Heimatrecht, das in den deutschen Ländern bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus galt. Wer Grundeigentum in einer Gemeinde hatte, kam automatisch in den Genuss des Heimatrechts, mit dem die Erlaubnis zur Verheiratung und Niederlassung und zur Ausübung eines Gewerbes verbunden war ..... Diese Bindung von Heimat an materiellen Besitz, die damit gleichermaßen Besitzlose (Gesinde, Tagelöhner, ehemalige Soldaten) als „Heimatlose“ von diesem Besitz ausschloss, verweist so auf den historischen Charakter des Begriffs. Er reflektiert die Vorstellung der „besitzenden“ sozialen Schichten, insbesondere des Bürgertums und der ländlichen Aristokratie... “

Die Eigentumsverhältnisse und die Protagonisten des „Dranges nach dem Osten“ als Verursacher der Vertreibung zu kennen, ist wesentlicher Teil der Lösung der Hausaufgabe. Wie im Falle der Erika Steinbach angedeutet, wäre es äußerst hilfreich, die Vita der Repräsentanten der Vertriebenenverbände zu erkunden! Es stellt sich aber auch die Frage, weshalb und mit welchen finanziellen Mitteln aus dem Haushalt des Innenministeriums diese Vereinigungen unterstützt werden und auf jährlichen Treffen höchste staatliche Rückendeckung erhalten!

Indessen war der Verlust vertrauten Lebensraumes und die gewaltsame Trennung von Familien, Freunden und Bekannten auch für die Besitzlosen, für die einfachen Lohnarbeiter in Stadt und Land eine furchtbare Zäsur in ihrem Leben. Werden wir aber der Wahrheit gerecht: Viele Vermögende flohen rechtzeitig in Richtung Westen. Sie hatten Furcht, für unrecht erworbenes Gut zur Verantwortung gezogen zu werden, sie versuchten zu retten, was zu retten war. Die Mittellosen, die in ihrer großen Mehrheit den Krieg mitgetragen und erduldet hatten, wurden als Geisel genommen. Tausende von ihnen wurden im Winter 1944/1945 in eisiger Kälte von den NS-Behörden auf die Landstraße getrieben, um der Hitlerwehrmacht ein freies Schussfeld zu schaffen? Den so Vertriebenen, im Osten Deutschlands Umsiedler genannt, wurde von den deutschen und sowjetischen Behörden so gut als möglich geholfen, heimisch zu werden. Volkssolidarität wurde zum Schlüsselbegriff in der Not, der nicht ausschloss, dass Misstrauen und Missgunst zwischen Heimischen und Neuen überwunden werden mussten. Was hier für Millionen Menschen in einem dürren Satz geschrieben steht und sich vielleicht als Agitation liest, war begleitet von einem äußerst widerspruchsvollen Erkenntnisprozess: Der Weg „nach Hause“ war versperrt. Schlesien war unerreichbar geworden. Dort waren jetzt andere – Polen!

Die Umgesiedelten hatten sich Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre neu eingerichtet, es war keine dumpfe Resignation, sondern es entstanden neue soziale Beziehungen. Entscheidend waren Aufbauwille, Einsicht in notwendige gegenseitige Hilfe, gesicherte Arbeit, Bildungschancen, erträgliche Wohnbedingungen. Über allem stand die Erkenntnis: Nie wieder Krieg; nie wieder Faschismus. Darin lag das Engagement mit der Oder-Neiße–Grenze, entgegen allen Parolen, dass sie nur Provisorium sei. Beachtlich das Wirken der Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft und der in der DDR gegründeten „Gesellschaft für Frieden und Gute Nachbarschaft zu Polen“. Andererseits leisteten polnische Bürger in für sie neuer Umgebung entbehrungsreiche Aufbauarbeit. Metropolen, wie z.B. Breslau und Danzig sind als Wrocław und Gdańsk aus Ruinen wieder auferstanden. Leicht hatten es unsere polnischen Nachbarn nicht, die ebenfalls Neusiedler waren und sich von der Gültigkeit neuer Besitzverhältnisse erst überzeugen mussten. In einem letztlich jahrzehntelangen Prozess entwickelten sich neue deutsch-polnische Verhältnisse, die zu gemeinsamen Arbeitsplätzen an Oder- und Neiße, Studienplätzen und zu Eheschließungen führten.

Es soll nichts verklärt werden, es darf aber  auch nicht zugelassen werden, die Beziehungen zwischen der DDR und der VRP nur grau in grau zu zeichnen. Diese Seiten der Geschichte aufzuhellen, gehört auch zu den notwendigen Hausaufgaben. Heute müssen wir erleben, wie im Osten Deutschlands die Ergebnisse der Bodenreform zur Disposition gestellt werden, dass in Wäldern Schilder „Privat“ aufgestellt werden, dass Häuser und Immobilien übertragen werden und sich Bürger um ihre Datschen sorgen - ist das nicht schon wieder Vertreibung? Sage niemand. eines hätte mit dem anderen nichts tun. Kapital- und Grundbesitz sind unersättlich und globale Herrschaft ihr Programm. Das wird auch in Polen kritisch zur Kenntnis genommen.

Noch etwas muss beachtet werden, das sich entwickelnde „Schlesierbewusstsein“ (siehe POLEN und wir, Nr. 4/2003 ). Das gilt nicht nur für Polen, auch Deutschen wird das ins Gedächtnis geprägt und sei es durch das amtliche KFZ- Kennzeichen NOL im Nordosten Sachsens - „Niederschlesisch-Oberlausitzer Kreis“, eine unsägliche Konstruktion, die daran erinnert, dass die Hauptstadt Niederschlesiens Breslau war.

Die Hausaufgaben sind umfangreich; zu ihrer Bewältigung schlage ich vor: Eine genaue, mit Fakten gesicherte Arbeit zum Thema Flucht und Vertreibung, die sich an sozialen Prozessen orientiert. Die Sammlung von so vielen Lebensläufen als möglich, diesseits und jenseits der Grenze, die auch die Entwicklung in der Nachkriegszeit berücksichtigen. Die Zusammenarbeit mit der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder könnte dabei sehr hilfreich sein.