Politisches
Farbenspiel an der Weichsel
Von
Lange Zeit begnügte sich die äußere Welt bei Betrachtung der
politischen Zustände in Polen mit einem Strickmuster einfachster Art: Hier das „Ethos“-Lager,
welches aus der politischen Opposition gegen den Staatssozialismus
hervorgegangen war, dort das Lager der „Postkommunisten“, welches die
politischen Erben eben der Volksrepublik zu vereinen hatte. Erst allmählich gewöhnte
man sich an andere bzw. mehr Farben. Das Bild wurde bunter, das alte Strickmuster
war spätestens 2001 vollständig gerissen. Die dramatischen Veränderungen, denen
die politische Szene Polens im Augenblick ausgesetzt ist, verheißen aber keine
Rückkehr zum alten Prinzip. Im Gegenteil. Alles beweist nur, dass immer schon
ein anderer Zuschnitt im politischen Leben des Landes herrschte.
Bezüglich ihrer Präferenzen nämlich
lassen sich die Wähler Polens recht gut in vier etwa gleich große Teile
unterbringen. Daran hat sich seit 1990 trotz teilweise spektakulärer
Entwicklungen in der Parteienlandschaft nur wenig geändert. So kann potentiell
von jeweils gleich starken linken, liberalen, bauernpolitischen oder national-katholischen
Wählerpotentialen gesprochen werden. Wie weit diese Potentiale bei einzelnen
Wahlen (Präsidentschaftswahlen, Parlamentswahlen, Kommunalwahlen) von den
antretenden Parteien tatsächlich abgerufen werden können, hängt vom aktuellen
politischen Trend ab. Eine vergleichsweise niedrige Wahlbeteiligung, Folge etwa
von verbreiteter „Politikverdrossenheit“, schlägt sich nämlich nicht gleichmäßig
auf die einzelnen Wählerpotentiale nieder. Und umgekehrt: Gelingt es einer
einzelnen Partei, das eigene Wählerpotential entgegen dem allgemeinen Trend überdurchschnittlich
zu motivieren, kann Sogwirkung entstehen. Im Ergebnis solcher Sogwirkungen können
Verschiebungen auftreten, die der Annahme relativ ausgeglichener Wählerpotentiale
zu widersprechen scheinen.
So geschah es bei den letzten
Parlamentswahlen im September 2001, als das linke Wahlbündnis aus starker SLD (Sojusz
Lewicy Demokratycznej; Demokratische Linksunion) und kleiner UP (Unia Pracy;
Union der Arbeit) mit 41% einen für polnische Verhältnisse überragenden Erfolg
einfuhr. Die besagte Sogwirkung bezog sich in diesem Falle auf das liberale Wählerpotential
(vor allem verbreitet unter gutausgebildeten und in Großstädten wohnenden
Menschen), welches in großen Teilen an der Fähigkeit der „eigenen“ Parteien
zweifeln musste. Die traditionelle Partei dieses Lagers, die UW (Unia Wolności;
Freiheitsunion), büßte in den Jahren 1997 bis 2001 als Juniorpartner in der
konservativen, AWS-geführten Regierung erheblich an Ansehen ein. Daraus
resultierte die Neugründung der weiter rechts sich positionierenden liberalen
Partei PO (Platforma Obywatelska; Bürgerplattform), die nach den Wahlen als
einziger Vertreter dieses Wählerspektrums in den Sejm einziehen konnte. Mittlerweile
hat sich die Situation in diesem politischen Lager konsolidiert, da die PO in
einigen aktuellen Umfragen die 30%-Marke schrammt. Die UW hingegen kämpft auch
im Augenblick mit der 5%-Hürde und kann nur bedingt vom Ansehensverlust der
Regierungspartei SLD zehren, da die Konkurrenz im eigenen Lager zu übermächtig
geworden ist. Liberal würde im Augenblick PO wählen und kann mittlerweile sogar
mit der Sogwirkung rechnen, die vor drei Jahren der SLD zugute kam. Wohl kein
schlechtes Omen für die 2004 und 2005 anstehenden Wahlen.
Relativ übersichtlich ist die
Situation im sogenannten bauernpolitischen Lager. Bis Ende der 1990er Jahre
dominierte hier eindeutig die PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe; Polnische
Bauernpartei). Mittlereile ist dieser traditionellen polnischen Partei starke
Konkurrenz gewachsen mit der „Samoobrona“ (Selbstverteidigung), einer
Protestbewegung, die 2001 erstmals als eigenständige Partei auftrat und auf
Anhieb die PSL an Stimmen überflügelte. Zusammen kamen beide Parteien aber auf über
20%, werden heute recht unterschiedlich notiert: Während die PSL auf Werte
zwischen 5 und 8% kommt, erfreut sich die „Samoobrona“ gegenwärtig nie
gekanntem Zuspruch: In manchen Umfragen hat sie sogar die SLD überflügelt, wird
zwischen 15 und 20% notiert. „Samoobrona“-Vorsitzender Andrzej Lepper rechnet
indes mit noch höheren Zuwächsen, da er „Beute“ im linken Wählerspektrum zu
macht hofft. Das bauernpolitische Potential ist vor allem auf dem Lande und in
den Kleinstädten zu Hause. Durch die „Samoobrona“ ist es wieder stärker gelungen,
auch in Großstädten die potentiell eigene Klientel zur Teilhabe am politischen
Leben zu gewinnen. Interessanter Unterschied: Während die PSL eine
traditionelle Mitgliederpartei ist – gegenwärtig ist sie nach Mitgliederzahl
die stärkste Partei Polens -, verkörpert die „Samoobrona“ hingegen bereits eine
moderne Wahlpartei. Der Augenblick scheint ihr Recht zu geben.
Zu einer interessanten
Verschiebung kam es 2001 auch im national-katholischen Lager. Dieses Lager
wurde von 1997 bis 2001 eindeutig dominiert von der AWS (Akcja Wyborcza „Solidarność“;
Wahlaktion „Solidarność“), der damaligen Regierungspartei. Da dieses
Wahlbündnis aus einer Reihe kleinerer Parteien und aus dem politischen Arm der
den Namen gebenden Gewerkschaft sich nicht zu einer Partei umwandelte, kam ihr
die Regelung der 5%-Hürde nicht zu Gute. Die AWS verfehlte die für Wahlbündnisse
obligatorisch höhere Hürde und schied aus dem Parlament. An ihrer Stelle übernahmen
in diesem Spektrum zwei Parteien das Ruder. Die LPR (Liga Polskich Rodzin; Liga
Polnischer Familien) und die PiS (Prawo i Sprawiedliwość; Recht und
Gerechtigkeit). Beide Parteien zusammen kamen auf annähernd 20 % und werden
aktuell zusammen etwa bei 25% notiert. Während die LPR sich bisher eindeutig
gegen den Beitritt zur EU positionierte, zählte PiS eher zu den strikten EU-Befürwortern.
Überhaupt scheinen beide konservative Parteien sich wenig in die Quere zu
kommen. Während PiS sich strategisch am liberalen Lager zu orientieren versucht
und die größten Erfolge in Großstädten vorzuweisen hat, zeigt sich die LPR als
eine zutiefst an katholischen Werten ausgerichtete Partei der kleinen Leute. PiS
durchlebt z. Z. jedoch eine nicht einfache Phase. Während die PO in den Augen
der Öffentlichkeit an Profil gewinnt und damit das gesamte liberale Spektrum
erfolgreich abzudecken scheint, gelingt es PiS immer weniger, Wähler aus dem
liberalen Spektrum zu sich herüberzuziehen. Formen der politischen
Zusammenarbeit zwischen beiden Parteien gab es bisher keine. Vielleicht nötigt
die Konstellation vor den Wahlen zum Europäischen Parlament zur Zusammenarbeit
in nie gekannten Formen. Diesbezügliche Signale von Seiten der PiS werden bei
der LPR mit Aufmerksamkeit registriert.
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Überaus dramatisch indes ist die
Entwicklung im linken Spektrum. Dort dominierte bisher unangefochten die SLD. Zusammen
mit der UP (die alleine auf 3% gekommen wäre) erhielt sie im September 2001 über
41% der Wählerstimmen. Eine solch komfortable parlamentarische Situation hatte
noch keine Regierungspartei in Polen seit 1990. Derzeit werden beide Parteien
zusammen immer öfter bei weit unter 20% notiert. Die SLD alleine sackte in
einigen Umfragen sogar auf 12% ab. Da über die Situation der SLD in den letzten
Nummern von „Polen und wir“ ausführlicher berichtet worden war, soll hier nur
darauf verwiesen werden, dass eine klare Alternative zur SLD im linken Feld
einstweilen nicht in Sicht ist. Die traditionsreiche PPS (Polska Partia
Socjalistyczna, Polnische Sozialistische Partei), die älteste existierende
politische Partei in Polen, scheint den Beobachtern schwer angeschlagen zu sein.
In der Medienöffentlichkeit kommt sie kaum vor. Nach jahrelangen
Personalquerelen versucht sie indes, mittels kenntlichen Programms sich als
Alternative zur SLD zu profilieren: „Arbeit-Frieden-Gerechtigkeit“ steht dem
neuen Ehrenbanner der Partei eingeschrieben. In Vorbereitung auf die Wahlen zum
Europäischen Parlament sucht die PPS Partner in der politischen Mitte, die dennoch
linkes Profil haben. Einstweilen hofft man dabei vor allem auf die
Rentnerpartei (in einigen Umfragen bei 3% geführt). Daneben regt sich eine
kleine „antiklerikale Fortschrittspartei“ mit dem Namen „Racja“ (etwa: Der
richtige Standpunkt), die deutlich versucht, aus dem Niedergang der SLD gestärkt
hervorzugehen. Ihr Motto: „Arbeit-Fortschritt-Zuverlässigkeit“.
Die UP befindet sich im Schlepptau der SLD und wird in der breiten Öffentlichkeit beinahe nur noch im Zusammenhang mit der bisher so übermächtigen großen Schwester wahrgenommen. Die kommenden Monate werden zeigen, wohin die UP gehen wird. Links außen haben sich politische Kräfte positioniert, die in einer Antikapitalistischen Linken Liste zu den Europawahlen erstmals zusammengehen wollen. Ihnen wird allerdings kaum Aussicht auf Erfolg beschieden. Zumeist reiben diese kleinen Gruppierungen sich in Einzelaktionen auf, ohne der breiten Öffentlichkeit eine wählbare Alternative vorlegen zu können. In Erinnerung an die heroische „Solidarność“-Periode setzt die antikapitalistische Linke beinahe ausschließlich auf soziale Bewegungen, verpönt herablassend das parlamentarische Geschäft. Hoffnung keimt bei vielen Aktivisten angesichts der schwierigen sozialen Situation. Der löblichen Initiativen gibt es viele, doch ob sich das in absehbarer Zeit so einfach in politisches Gewicht ummünzen lassen wird, darf mit gutem Recht bezweifelt werden.