Polen - in
Europa angekommen?
Von Eva Seeber
Diesem Thema widmete sich das diesjährige Mitgliedergespräch der
Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, das vom 21. bis
23. Mai 2004 im “Krakauer Haus” in Nürnberg zusammen mit der
Berlin-Brandenburgischen Auslandsgesellschaft durchgeführt wurde. Unterstützt
wurde die Veranstaltung durch die Deutsch-Polnische Gesellschaft Franken e.V.,
dem Kulturzentrum Krakauer Haus und dem Amt für Internationale Beziehungen
Nürnberg. Drei Wochen nach der Osterweiterung der Europäischen Union interessierte
die Frage, in welcher Verfassung sich Polen, Deutschland und die Europäische
Union zum Zeitpunkt der Erweiterung befinden, welche neuen Erscheinungen in den
deutsch-polnischen Beziehungen auftreten und inwieweit der Beitritt zur EU von
inhaltlichen Wertvorstellungen bzw. vorwiegend vom wirtschaftlichen Kalkül bestimmt werden.
Die Vorabendveranstaltung, an der ca. 40 Personen
teilnahmen, stand unter dem Motto: „(K)ein Zentrum gegen Vertreibung?“ und
konzentrierte sich auf die im Trend liegenden ahistorischen Bewertungen des
Zweiten Weltkrieges und der letztlich von Deutschland verursachten
Grenzveränderungen. Wulf Schade kommentierte zunächst die Abfolge der
Diskussion um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ des BdV seit Mai 1998, wobei er
die besondere Aufmerksamkeit auf die zunehmende Beunruhigung in Polen lenkte.
Zuerst sei in der ersten Hälfte des Jahres 2002 in Polen durchaus offen über
ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ diskutiert worden. Der Versuch von Markus
Meckel („Wrocław statt Berlin als Ort eines europäisch ausgerichteten
Zentrums gegen Vertreibungen“), hier vermittelnd einzugreifen, wurde in seiner
Bedeutung gewürdigt. Schade belegte gestützt auf die von “Polen und wir”
konsequent dokumentierte Eskalation, dass sich dann im Sommer 2002 insofern ein
Dammbruch ereignet habe, als das Thema der Vertreibung auch in der Literatur
durch den Roman „Im Krebsgang“ von Günther Grass eine bedenkliche Umbewertung
erfuhr und deutsche Journalisten und Politiker wie Peter Glotz, Ralf Giordano,
Helga Hirsch mit ihren Beiträgen zu Gunsten eines Zentrums des BdV in der
öffentlichen Diskussion wahrgenommen wurden. Mit ihrem Gegenantrag vom Juni
2002 eines “europäisch” ausgerichteten Zentrums hätten die Regierungsparteien
den gefährlichen Eindruck eines vermeintlich überparteilichen Konsenses
erweckt. Die polnische Öffentlichkeit neigt inzwischen zu einer härteren
Haltung. Sie steht auf einem Standpunkt, der sich zusammenfassen ließe: Weder
Berlin noch Breslau! Sie möchte heute ein europäisch ausgerichtetes dezentrales
„Zentrum“ unter der Trägerschaft des Europarates.
In der an den Vortrag anschließenden
Diskussion wurde festgestellt, dass unbeeindruckt davon, dass nach einer
Entschärfung gesucht wurde, die Hardliner des “Bundes der Vertriebenen” (BdV)
Chancen für ihr Treiben witterten. Dadurch entstand ein Klima, das geeignet
war, unverblümte Forderungen auf Eigentumsveränderungen vorzubringen, was auch
prompt von einer Instanz vorgebracht wurde, die sich Die Preußische Treuhand
GmbH & Co. KG nennt. Man gelangte in Nürnberg nahezu einhellig zur
Auffassung - angesichts des neuen öffentlichen Interesses - in gemeinsamen
Veranstaltungen bzw. Büchern verdeutlichen zu müssen, dass dem Drängen der
Zentrumsbefürworter die verhängnisvolle Tendenz innewohnt, den Vorgängen der
Nachkriegsregelung ihre Rechtmäßigkeit absprechen zu wollen. In diesem Sinne bestätigten
die Teilnehmer der Debatte die Auffassung der Schriftstellerin Daniela Dahn,
was heute benötigt werde, sei ein “Zentrum gegen den Krieg”! Wir müssen zurecht
rücken, dass vom BdV zu Unrecht der Opferstatus für alle Vertriebenen und
Flüchtlinge in Anspruch genommen und Schuld und Unrecht Osteuropa zugeordnet
wird.
Prof. Christoph Koch und
Generalkonsul Wacław Oleksy bestritten dann am Samstagvormittag das
Hauptthema, die politische und ökonomische Bewertung des EU-Eintritts Polens.
Koch beschäftigte der Rahmen für die neue Staatsräson Polens. Dieser sei die
nun erfolgte Aufnahme durchaus dienlich, zugleich aber sei die gegenwärtige
Situation Polens durch eine Außenpolitik belastet, die Polen eine Stellung
zugunsten eines transatlantischen Rückhaltes beziehen ließ und es in Gegensatz
zu seinem traditionellen Verbündeten Frankreich und seinem neuen Verbündeten
Deutschland gebracht habe. Polen sei in den Sog einer US-Außenpolitik geraten,
die mit militärischen Maßnahmen die nach dem zweiten Weltkrieg mühsam
errichteten internationalen Strukturen beschädigt und vertraglich verankerte
Hoheitsrechte der UN missachtet habe und in Europa willige Verbündete für eine
völkerrechtswidrige Besetzung des Irak fand.
Generalkonsul Oleksy zeichnete
ein im wesentlichen optimistisches Bild vom gegenwärtigen Wirtschaftswachstum
in Polen. 2003 habe Polen den europäischen Spitzenwert von 3,7% erreicht. Die
Struktur verändere sich zugunsten des Dienstleistungssektors (65%). Große
Sorgen verursache die Arbeitslosigkeit von 20% und die vor der Landwirtschaft
stehenden Absatzprobleme.
In der Diskussion überwog
indessen die Problematisierung der jüngsten statistischen Angaben. So
entgegnete die Ökonomin, Prof. Renate Weiß, dass Polen trotz seines Tempos im
Vergleich mit dem Durchschnitt nur 39% des BIP pro Kopf der Bevölkerung
erzeuge. Um den Durchschnitt der bisherigen 15 Mitglieder, darunter Spanien,
Griechenland und Portugal zu erreichen, wird es 25 bis 30 Jahre dauern. Der
Konsul musste bestätigen, dass die noch fehlenden Verwaltungsstrukturen so
groteske Ergebnisse zeitigen, dass erst 7,5% der Landwirte bisher Anträge auf
Förderung an Brüssel gestellt haben. Dr. Maraun, Anfang der 1950er Jahre einst
Student des EUROPA-Kollegs in Brügge, wollte diese rein ökonomische Sichtweise
nicht dominieren lassen und betonte den Charakter der EU als Werte-Kultur- und
Friedensgemeinschaft, die demzufolge als Chance und nicht als Last betrachtet
werden dürfe.
Auf ebenfalls großes Interesse
stießen die Beiträge am Nachmittag von Dorota Barwińska, die leider aus
Krankheitsgründen nicht anwesend sein konnte, aber deren Beitrag von Karl
Forster kompetent zusammengefasst wurde, und Witold Kaminski vom Polnischen
Sozialrat in Berlin, einer Immigrantenorganisation außerhalb der Polonia.
Während Barwińska ihre Untersuchungen zu den Auswirkungen der Arbeit der
deutsch-polnischen bzw. polnisch-deutschen Gesellschaften auf die direkt an der
Arbeit beteiligten Personen darstellte, führte Kaminski aus, welche kollektiven
Denkmuster bei vielen Polinnen und Polen als Grundlage für ihre Bewertung des
Beitritts Polens zur EU vorliegen. Kaminski arbeitete viele Jahre im Polnischen
Sozialrat Berlin, einer Organisation, die aus wechselnden Bedürfnissen
entstand, eine Selbsthilfeorganisation v.a. aber nicht nur polnischer Menschen
ist. So organisierte sie Beratungsstellen für durch das Exil entstandene
psychisch Kranke, half selbst illegal Lebenden zu einer anonymen
Unfallversicherung, und unterstützte Maßnahmen bei der Bewältigung von
Identitätsproblemen in der 2.Generation. Alles das sind große Probleme der
vertikalen Teilung der Gesellschaft, bei denen der Sozialrat Einfluss auf die
Politik zu nehmen versucht.
Auch im Anschluss an diese beiden
Beiträge fand eine sehr lebhafte Diskussion statt. Henryk Dechnik, aus Polen
stammend und jahrzehntelang als Mathematik- und Philosophielehrer in Düsseldorf
tätig, machte wie auch andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf wunde Punkte
im polnisch-deutschen Verhältnis aufmerksam. Eindrücklich wurden zunächst die
Gefühle beschrieben, die anlässlich der Gratulation zur Europäischen
Wiedervereinigung bei vielen Polen aufgekommen sind. Im kollektiven Bewusstsein
spielten Worte wie Europäische Grundwerte, Kampf um Unabhängigkeit, Chance des
Beitritts eine große Rolle. Daraus erklärte sich in der Vorbereitung auf den
Beitritt zur EU die Genugtuung und Schwärmerei über die neuen guten
Beziehungen. Die deutsche Verstimmung über den Brief der acht europäischen
Staaten wurde jedoch wie ein speziell auf Polen gerichteter Vorwurf empfunden,
sich in die Europäische Politik einzumischen. Unabhängig vom Inhalt erzeugte
die Abkehr vom Nizza-Vertrag Unwillen. Die viel beschworene Freundschaft schien
zu Ende. Kleine Verstimmungen wuchsen sich aus zur Abkühlung und zu der Frage:
Geht es um christliche Werte oder Zuteilung der Stimmen? Berechtigter Anspruch
auf Gleichheit mischte sich mit Geltungsdrang. Dechnik wies darauf hin, wie
wichtig es sei, Verletztheiten wahrzunehmen, da sonst die Spirale eskaliere.
Die Fähigkeit zur Empathie dürfe auf beiden Seiten nicht verloren gehen.
Von mehreren Teilnehmern wurden
Versäumnisse in der Jugendarbeit beklagt, die sich beispielsweise in einem
Nichtwissen und Desinteresse auch der Lehrer hinsichtlich der Geschichte,
Grenzen und Geographie des Nachbarlandes äußern. Dechnik führte den Beweis
anhand eines bestimmten Unterrichtsmaterials über Polens Ostgrenze. Andere
Teilnehmer signalisierten mangelnde Bereitschaft der Schüler, nach Polen zu
reisen. Dies wurde auch auf unwirksame, weil schlecht vorbereitete Fahrten wie auch auf vorhandene Stereotype gegen die
Menschen in Polen usw. zurückgeführt. Gefordert wurde eine stärkere finanzielle
und inhaltliche Förderung, die sich an den Erfolgen des deutsch-französischen
Jugendwerkes messen lassen müsse.
Das Mitgliedergespräch schloss mit einem kulturellen Höhepunkt, der den Teilnehmern Gelegenheit bot, einen eindrucksvollen Vortrag des Leiters des “Amtes für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg”, Dr. Norbert Schürgers, zu “Veit Stoss - ein europäischer Lebensweg” zu hören und Auskunft über die Beziehungen von Nürnberg und Krakau zu erhalten.