Die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen

Paradigmenwechsel

Von Christoph Koch

 

Unsere Tagung steht unter der Überschrift „Polen - in Europa angekommen“ - und dann folgt ein Fragezeichen. Ein Blick auf den Titel genügt, und sogleich hat man die apotropäische Versicherung im Ohr, die gewiss auch weiterhin bemüht werden wird, dass Polen niemals in Europa ankommen musste, dass es trotz zweihundertjähriger Teilung, trotz dem verspieltem Eintritt in den Herbst des Bürgertums, trotz Zerstörung und Besetzung im Zweiten Weltkrieg und trotz der Zugehörigkeit zum sozialistischen Lager in der Nachkriegszeit seinen Platz nie anderswo als in Europa gehabt habe, dass das Land, das sich einst von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte, in guten und bösen Tagen seiner staatlichen Existenz einen unverzichtbaren Beitrag zur europäischen Kultur, am Vorabend seines Untergangs gar einen frühen Beitrag zur Grundlegung der bürgerlichen Gesellschaft geleistet habe, und was der freundlichen Worte mehr sind.

 

Das alles ist wahr, und dennoch verrät die Intensität der Beteuerung ein Unbehagen, das nicht so sehr die verdiente Anerkennung einfordert, als dass es die Ahnung zum Ausdruck bringt, dass etwas nicht stimmt, dass Wunsch und Wirklichkeit sich nicht in idealer Weise decken. Das Unbehagen ist gleichsam die Kehrseite des bis in unsere Tage fortwirkenden polnischen Messianismus, der polnisches Leiden als Opfer auf dem Altar der Befreiung wenn nicht der Menschheit, so doch der Nachbarvölker begreift.

Sind Mythen dazu angetan, die Wirklichkeit zu verschleiern, so ist die Wirklichkeit dazu angetan, die Mythen zu entlarven. Seit dem 1. Mai diesen Jahres ist Polen Mitglied der EU und seit diesem Tage nimmt es einen Platz unter den europäischen Staaten ein, die sich um die führenden europäischen Industrienationen zu einem vorerst vor allem wirtschaftlichen Zweckbündnis zusammengeschlossen haben, dessen politische Zweckbestimmung in Jahrzehnten über rudimentäre Ansätze nicht hinausgelangt und eine abgeleitete Funktion der ökonomischen geblieben ist. Das Ziel einer anderthalb Jahrzehnte währenden opferfreudigen Anstrengung der polnischen Politik ist erreicht. Hat es den erwarteten Gewinn erbracht? Der gedämpfte Ton der Siegesfeiern weckt keine Zuversicht, und das in den westeuropäischen Tageszeitungen kolportierte Wort von Polens Fehlstart in die EU hat eine Bedeutung, die weit über den Rahmen der aktuellen Regierungskrise hinausgeht.

Der Fehlstart beginnt mit der zwar verständlichen, nicht aber verzeihlichen Hast, die Polen im Gefolge der Auflösung des sozialistischen Lagers von der Brust des einen an die Brust des anderen seiner großen Nachbarn trieb. Gewiss hatte das Land in der Frage der Abkehr vom Sozialismus, die, als Errungenschaft gehandelt, von einem höheren Standpunkt als Tragödie anzusehen ist, keine Alternative. In der Frage seines Platzes in Europa aber ist zu keinem Augenblick eine Alternative zur blanken Umkehr der Verhältnisse, die Polen von der einen in die andere Abhängigkeit führte, auch nur erwogen worden. Denn von dem Ziel, ein größtmögliches Maß an politischer, wirtschaftlicher und kultureller Selbstbestimmung zu erlangen, ist Polen heute nicht weniger entfernt als vor den eingetretenen Veränderungen. Die Umkehr selbst aber vollzog sich unter den denkbar ungünstigsten Voraussetzungen. Polen hat - wir haben vielfach darüber gesprochen - im Zuge der Aushandlung des Warschauer Vertrages von 1990 die wohl letzte Chance vertan, die völkerrechtliche Anerkennung seiner Westgrenze durch den westlichen Nachbarn zu erreichen. Von ungedeckten Hoffnungen getragen,  hat es sich, wohl wissend, was es tat, die aus der alten in die neue Bundesrepublik hinübergerettete Deutschlanddoktrin aufnötigen lassen, insbesondere die Auffassung vom Fortbestand des Deutschen Reiches über den 8. Mai 1945 hinaus mitsamt den resultierenden Folgerungen für die Beziehungen zu den Staaten, zu deren Bestand Teile des ehemaligen Deutschen Reiches gehören. Ungeachtet der zwingenden Vorgaben des Einigungsvertrages, die Deutschland zu einer abschließenden Regelung seines Verhältnisses zu Polen verpflichteten, und ungeachtet der erkennbar letzten Einhelligkeit der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hat es sich zu einem geringeren Preis hingegeben. „Die Polen sind eben immer flexibler geworden“, kommentierte der französische Außenminister.

Die Entscheidung hat weitreichende Folgen, denn mit ihr hat sich Polen weitgehend des Gewichtes begeben, dessen es für die Bestimmung seiner Stellung in einem nicht nach polnischen Interessen konzipierten und geleiteten Europa bedurft hätte. Ein Klima der Geschichtsvergessenheit, des Wunschdenkens und der Leichtgläubigkeit erleichterte es, auch auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik denkbare Alternativen in den Wind zu schlagen und die gewünschte Entwicklung frühzeitig durch die vor allem von deutscher Seite betriebene Aufnahme Polens in die NATO unumkehrbar zu machen. Das zunehmend enger werdende Korsett trug lange Zeit den Namen einer deutsch-polnischen “Interessensgemeinschaft”. Die daran geknüpfte Euphorie ist mittlerweile einer gründlichen Ernüchterung gewichen, in der Polen, aller möglichen Bündnispartner verlustig, sich in der Rolle weniger des Handelnden als des Behandelten wiederfindet.

Die Versuche, sich aus dieser Lage zu befreien, kommen Verzweiflungstaten nahe. Sie gipfeln in der Beteiligung an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, dessen Begründung die Lebensdauer eines Kartenhauses hat und dessen Beitrag zur Durchsetzung von Demokratie und zur Wahrung der Menschenrechte die Enthüllungen der letzten Wochen verdeutlichen. Der Eintritt in den Kreis der Willigen ist den erhofften Ertrag schuldig geblieben. Die transatlantische Rückendeckung gegenüber den kontinentalen Freunden ist ausgeblieben und im Ergebnis sieht sich Polen auch von dieser Seite nicht nur nicht honoriert, sondern ein weiteres Mal für fremde Ziele instrumentalisiert und es fehlt ihm das spanische Rückgrat, um aus der Erfahrung die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen.

Obwohl es bei alledem keineswegs ohne fremde Ingerenzen abgegangen ist, wäre es nicht gerecht, die Ursachen der Entwicklung in den Nachstellungen der historischen Widersacher Polens zu suchen. Hier hat vielmehr ein - ob heilig? - glühend Herz alles selbst vollendet.

Dabei sind die überkommenen Zumutungen keineswegs von der Tagesordnung verschwunden. Deutschland, das keine seiner Ambitionen aufgegeben hat, schickt sich an, die Unebenheiten seiner Vergangenheit vom Standpunkt eines Siegers der Geschichte einzuebnen, und es ist ein trostloser Trost, dass die Geschichte dazu übergegangen ist, dem vermeintlichen Sieg die materielle Grundlage zu entziehen. Zehn Jahre Befreiung von der sozialistischen Alternative haben genügt, die in ihrer Eigenentwicklung  nunmehr ungehemmte  gegenteilige Wirtschaftsordnung an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu führen. Das erste Opfer der Entwicklung ist die bürgerliche Gesellschaft, die wir in den letzten Zügen ihrer Auflösung sehen. Mit beispielhafter Deutlichkeit führt die aktuelle Entwicklung die Sprengung zu eng gewordener Produktivverhältnisse durch die Eigengesetzlichkeit der Produktivkräfte vor Augen. Im Siegeszeichen des Vorsitzenden der Deutschen Bank vor den Institutionen der scheidenden Gesellschaft findet sie ihren symbolhaften Ausdruck. Nur: mit der Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft hat sich die marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaft ihrer sinnhaften Konstitution begeben und die Ratio ihrer Existenz auf ihr schieres Lebensgesetz, die Maximierung des Profits, reduziert. Mit der Aufhebung der sozialistischen Gesellschaft aber hat sie sich, ungeachtet des real existierenden Zustands derselben, zugleich der Alternative begeben, in die hinüberzuwachsen ihr historisches Schicksal ist, und befindet sich nun in einer beispiellosen Ausweglosigkeit. Es deutet alles darauf hin, dass die Überwindung dieser noch kaum begriffenen Ausweglosigkeit mit hohen Kosten verbunden sein wird und dass die resultierenden Veränderungen den Charakter einer epochalen Wende haben.

Polen ist angekommen, doch fällt der Neubeginn in ein endzeitlichen Szenario und längst hat die helle Auflösung des Bestehenden das Land erfasst. Die Zeichen an der Wand künden davon, dass auf absehbare Zeit selbst reale Fortschritte im Detail durch das Scheitern des Ganzen überwölbt werden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erhält die traditionelle Agenda der deutsch-polnischen Beziehungen einen neuen Stellenwert. Nicht dass die willentlich geschaffenen Hindernisse eines gutnachbarlichen Zusammenlebens beider Staaten damit, dass sie aus dem Blick geraten, auch aus der Wirklichkeit verschwänden. Unbeseitigt wirken sie als Tretminen oder als  virulente Quelle unheilvoller Entwicklungen fort, über die die Tagespolitik lediglich den Anschein trügerischer Sicherheit zu legen vermag. Es wird daher auch weiterhin erforderlich sein, ihnen die angemessene Aufmerksamkeit zu schenken und sich mit allem Ernst für ihre Überwindung einzusetzen. Die Aufgabe wird jedoch überwölbt von dem weitaus umfassenderen Gebot, den Gefahren zu begegnen, die beiden Ländern aus dem aufgezeigten Zustand der nunmehr gemeinsamen Gesellschaftsordnung erwachsen, und die, wie die verzweifelten Befreiungsschläge ihrer führenden Mächte erweisen, alle Chancen eines Einstiegs in eine Periode internationaler Barbarei beinhalten.

Hier tut sich die Perspektive einer tatsächlichen deutsch-polnischen Interessensgemeinschaft auf, die allerdings grundsätzlich andere Partner vereint, als sich in ihrer inzwischen nurmehr rhetorisch bemühten Vorgängerin zusammengefunden haben. Auch insofern ist Polen in der Normalität der marktwirtschaftlich fundierten Gesellschaft angekommen. Die Grenzlinien verlaufen nicht mehr vertikal an Oder und Neiße, sondern horizontal wie durch die bundesrepublikanische, so durch die polnische Gesellschaft. Das Potential an denkenden Menschen ist beiderseits der Grenze nicht geringer als vordem. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Zeit der Desorientierung und der Betäubung, die die Menschen guten Willens dieseits von Sozialdemokratie und gestrigen Sozialisten lähmen, ihrem Ende entgegengeht, und die Veränderungen der wirtschaftlichen, der sozialen und der politischen Wirklichkeit werden diesen Prozess gewiss nicht verlangsamen. Für die Deutsch-Polnische Gesellschaft bedeutet dies, ihr Anliegen einer Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen und sich nach neuen Bündnispartnern in der Bundesrepublik wie in Polen umzusehen. Die Wirklichkeit gibt keinen Anlass zur Hoffnung auf rasche Erfolge, doch ist es nicht das erste Mal, dass sich die Gesellschaft am Beginn einer schwierigen Wegstrecke sieht.                               

Der Autor, Prof. Dr. Christoph Koch, ist Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.