Am 2. und 3. April 2004 traf sich in Genshagen die aus deutschen und polnischen Experten bestehende „Kopernikus-Gruppe“ zu ihrer neunten Sitzung. Themen der Beratungen waren der Stand der deutsch-polnischen Beziehungen nach der EU-Konventsdebatte und die Perspektiven des bilateralen Verhältnisses innerhalb der Europäischen Union nach der Erweiterung. Das Arbeitspapier VIII der „Kopernikus-Gruppe“ fasst die Bestandsaufnahme und daran anschließende gemeinsame Überlegungen zusammen. POLEN und wir veröffentlicht hier diesen Text leicht gekürzt zur Information und Diskussion.
Der 1. Mai 2004 stellt das deutsch-polnische Verhältnis auf eine neue
Probe. Die EU-Erweiterung wird zu Recht als historische Großtat gefeiert, als
Beendigung der Teilung Europas. Diese positive Bewertung der Aufnahme Polens
und weiterer neun Staaten wird aber bereits heute in Frage gestellt. Die
Bevölkerungen in Polen und in Deutschland müssen anscheinend erst noch davon
überzeugt werden, dass die Osterweiterung – jenseits der historischen Dimension
– auch für ihren künftigen Alltag ein Gewinn ist. In Polen wachsen die
Befürchtungen, dass das Land dem EU-Wettbewerb nicht standhalten und die
offenkundigen ökonomischen Vorteile des Beitritts nicht nutzen kann, weil seine
Verwaltung kaum in der Lage scheint, die technisch-formalen Bedingungen für die
Milliardentransfers aus Struktur- und Regionalfonds u.a. zu erfüllen.
In Deutschland verbinden viele
Menschen mit der Osterweiterung vor allem Billiglohnkonkurrenz, wachsende
Arbeitslosigkeit, Sozialdumping, massenhafte Migration, wachsende Kriminalität.
Glaubt man den Umfragen, wünscht sich nur jeder zweite Deutsche Polen in der
EU.
Die aktuellen gesellschaftlichen
Strömungen in beiden Ländern sind nur die eine Seite der Medaille. Auf der
anderen Seite stehen die Unterschiede in entscheidenden politischen Fragen, die
in der letzten Zeit sichtbar geworden sind. Dazu gehören so fundamentale
Probleme wie die Sicherheitspolitik (Stichwort: Irakkrise und -krieg), die
zukünftige Gestalt der Europäischen Union und die unerwartete Rückkehr von
Geschichtsdebatten mit einem ebenso unerwarteten politischem Instrumentalisierungspotenzial.
Besonders augenscheinlich waren
die Wahrnehmungs- und die Interessenunterschiede mit der europäischen
Verfassungsdiskussion verbunden. So war man in Deutschland und anderen
Mitgliedsstaaten zunächst davon ausgegangen, dass viele der Kandidatenländer
und insbesondere Polen in der EU-Reformdebatte eine euroskeptische,
antiföderalistische Haltung einnehmen würden, weil es ihnen – nach dieser These
– schwer fallen müsste, so kurz nach der Wiedererlangung der staatlichen
Eigenständigkeit Souveränitätsrechte an supranationale Einrichtungen
abzutreten. Tatsächlich gehörten die polnischen Delegierten aber nicht nur zu
den aktivsten Teilnehmern im Konvent, sondern vertraten dabei auch
integrationsfreundliche und z. T. stärker föderalistische Konzepte als viele
Vertreter der Mitgliedsstaaten. Dies wurde kaum wahrgenommen, und wo es
wahrgenommen wurde, wurde es durch die starre polnische Haltung auf dem Gipfel
von Brüssel wieder verwischt.
Der Verfassungskonvent wurde in
den Augen des politischen Establishments in Warschau allein als Kampf um
nationale Interessen verstanden. Die polnische Regierung hatte nicht erkannt,
dass es im Konvent weniger um die Durchsetzung nationaler Interessen als um das
gegenseitige Überzeugen, Argumentieren und die Schaffung eines
Verfassungskonsenses ging. Sie hat sich in dieser Frage auf europäischer Bühne
zeitweise isoliert. Dieser Prozess wurde ungewollt noch verstärkt durch die
Haltung der Bundesregierung, die unter Hinweis auf die eigene, primär an
europäischen Interessen orientierte Haltung auf eine demonstrative Einbindung
Polens (anders als auf dem Gipfel von Kopenhagen) verzichtete. Deutschland fiel
diese Haltung leicht, denn das Konventsergebnis berücksichtigt zahlreiche
deutsche Vorstellungen, während es aus polnischer Sicht vor allem als Verzicht
auf „historische Errungenschaften“ (die Aufwertung Polens im Vertrag von Nizza)
aufgefasst wurde. Eine Renationalisierung von europäischen Strategien der
Mitgliedsländer und das Verweilen in rein nationalstaatlichen Mustern bei
Neumitgliedern muss auf längere Sicht die Handlungsfähigkeit einer EU von 25
oder mehr Staaten dramatisch einschränken.
Die polnische Haltung zur
Stimmengewichtung in der EU der 25 war Ausdruck einer in der polnischen
politischen Elite weitgehend ungebrochenen Zentriertheit auf den scheinbar
souveränen Nationalstaat und sein Interesse, für den Kompromiss in der
europäischen Staatenwelt weiterhin mit dem Odium der Niederlage behaftet ist
und somit keinen Wert hat. Nach diesem Muster gibt es nur Sieg oder Niederlage,
ist internationale Politik in Europa ein Nullsummenspiel, der Gewinn des einen
ist der Verlust des anderen. Es ist nicht zu verkennen, dass diese Wahrnehmung
der Außenwelt zugleich auch verstärkt wurde durch die Angst vor einer
Renationalisierung der Außenpolitiken der alten EU-Staaten, nicht zuletzt
Deutschlands, die vor und während der Regierungskonferenz nicht den Eindruck
vermittelten, als ob sie den „Neuen“ eine positive Lektion über Kompromisssuche
im europäischen Geist des Verstehens und verstehen Wollens der Befürchtungen
von Schwächeren und Kleineren erteilen wollten. Es fällt uns nicht leicht, in
diesem Zusammenhang vor den womöglich für den Platz und das allgemeine
Erscheinungsbild Polens in der EU fatalen, wenn nicht dramatischen Auswirkungen
eines Irrwegs der politischen Klasse in Polen zu warnen. Das Auftreten fast
aller polnischen EU-Parlamentarier bei der Befragung der neuen polnischen
EU-Kommissarin Hübner war beschämend. Es ist die Sorge vor dauerhafter
Selbstbeschädigung Polens in der europäischen Familie, die uns so dezidiert
Stellung nehmen lässt gegen einen Autismus, der Polen keinerlei Nutzen bringen
wird.
Die fatale Ungleichzeitigkeit
außenpolitischer Kulturen, in dieser Hinsicht eine Art „clash of
civilizations“, wird mit der Ausarbeitung eines Kompromisses über die
Europäische Verfassung nicht verschwinden, sondern die deutsch-polnischen
Beziehungen und die Funktionsfähigkeit der erweiterten EU in Mitleidenschaft
ziehen. Es fehlt beiden Ländern an einer Strategie für eine über den
Beitrittsprozess hinausgehende Interessengemeinschaft in der EU, weil die
Berechenbarkeit beider Staaten in den Augen des jeweils anderen in den letzten
Jahren stark gelitten hat. (Die Konflikte um das transatlantische Verhältnis
und die Irak-Krise sind nur zwei Beispiele dafür.)
Die für die deutsche Öffentlichkeit
eher marginale Debatte über ein Zentrum gegen Vertreibungen und die wenig
wahrgenommenen Aktivitäten der Preußischen Treuhand haben in Polen zu starken
Irritationen in Politik und Öffentlichkeit geführt. Es entstand die Sorge –
mindestens in den Medien verbreitet – , in einer erweiterten EU vor
unerfüllbare Restitutionsansprüche gestellt zu werden. Diese Reaktion in Polen
wurde von der deutschen Politik nicht angemessen wahrgenommen, wodurch wiederum
in Polen zahlreiche Versuche, eine Gegenrechnung aufzumachen, ausgelöst wurden.
Zahlreiche Städte lassen inzwischen die Verluste und Zerstörungen, die durch
die deutsche Besatzung entstanden sind, für mögliche Entschädigungsansprüche
errechnen. In der öffentlichen Debatte hat so eine von den Regierungen weitgehend
ignorierte gegenseitige Aufrechnung eingesetzt, die weitere Schatten auf den
Erweiterungsprozess und das deutsch-polnische Verhältnis wirft.
In diesem gegenseitigen
Aufrechnungskreislauf droht eine weitere Eskalation, wenn beim Europäischen
Gerichtshof die ersten Entschädigungs- oder Restitutionsklagen deutscher
Vertriebener – und in der Folge vielleicht auch polnischer Städte – eingereicht
werden. Unabhängig von der juristischen Relevanz solcher Forderungen muss mit
starken politischen Rückwirkungen in der Öffentlichkeit gerechnet werden. Damit
würde aus dem juristischen Problem ein außenpolitisches, das von den
Regierungen in beiden Ländern auch als solches ernst genommen werden
sollte.
Nach dem 1. Mai 2004 werden sich
Deutschland und Polen als gleichberechtigte Partner in der erweiterten EU
gegenüberstehen. Damit beginnt eine neue Phase in den deutsch-polnischen
Beziehungen. Spätestens dann wird die Tatsache offenbar, dass beide Staaten
sich in einer instabilen Übergangsphase befinden, in der sie ihre jeweilige
Rolle als europäische und internationale Akteure neu definieren, ohne bisher
ihr neues Selbstverständnis austariert zu haben. Dieser Prozess hat bereits zu
starken Missverständnissen und Fehlinterpretationen geführt. Deutschland will
als global player ernst genommen werden, Polen versucht, seine europäische
Rolle stärker zu profilieren. In dieser Situation kommt man nicht an der
gemeinsamen Verantwortung von Deutschen und Polen für die europäische
Integration vorbei. Die Vorstellung, dass die stärksten – Frankreich und
Deutschland – die Gestalt Europas
allein definieren könnten, stößt in Polen auf Misstrauen und provoziert
die Frage, wie die europäische Integration verstanden werden sollte. Sie
verursacht in Polen unabhängig von ihrer Berechtigung eine Infragestellung der
Loyalität der deutschen Partner.
Deutsche und polnische Politik
darf nicht vergessen, dass Deutschland und Polen eine ganz spezielle
Verpflichtung gegenüber EU-Europa haben und dass die deutsch-polnischen
Beziehungen einen höchst symbolischen Wert für die europäische Integration
besitzen. Die Frage, wie Deutschland sein Interesse in Ostmitteleuropa
definiert und wie Deutsche und Polen ihre Interessen harmonisieren können, ist
von dauerhafter Bedeutung für die europäische Integration.
Deutsche (und EU-) Politik muss
sich bewusst sein, dass sich die jüngste EU-Erweiterung nicht zuletzt darin von
früheren Erweiterungen unterscheidet, dass die neuen Mitglieder aus
Ostmitteleuropa in die EU historische Erfahrungen einbringen, die sich über 40
Jahre von denen Westeuropas unterschieden und andere Bewertungen von
politischen Phänomenen zur Folge haben. Diese kulturellen Unterschiede werden
für längere Zeit trotz aller notwendigen Kompromisse beiderseits die Beziehungen
innerhalb der EU-25 prägen.
Trotz aller neuen Zweifel
existiert auch nach der EU-Erweiterung noch eine deutsch-polnische
Interessengemeinschaft, die allerdings einer neuen Begründung bedarf. Sie wird
in den nächsten Jahren vor allem auf folgenden Pfeilern beruhen:
-einem gemeinsamen Interesse an
einer solidarischen EU, wobei Solidarität strategisch und nicht allein normativ
oder finanziell verstanden werden soll. Gerade die Attentate von Istanbul und
Madrid haben gezeigt, dass in der zukünftigen EU allen Mitgliedern an
umfassenden Solidaritätsmechanismen gelegen sein muss;
-einem gemeinsamen Interesse an
einer handlungsfähigen Union. Eine noch so starke Vertretung Polens in den
entscheidenden EU-Gremien geht auf Dauer auch zu Lasten polnischer Interessen,
wenn sie auf Kosten der Entscheidungsfähigkeit der gesamten EU geht. Die
deutsche Seite muss aber intensiver lernen, dass ihre östlichen Nachbarn
gleichrangige Partner sind und ihre Interessen früh in öffentlichen Debatten berücksichtigt werden müssen;
-einem gemeinsamen Interesse an
einer schnellen und umfassenden Integration Polens in die Innen- und
Justizpolitik der EU und der vollen Ausschöpfung der bilateralen Möglichkeiten
der Zusammenarbeit in diesem Bereich (grenzüberschreitende Überwachung,
Verfolgung, Nacheile, Datenaustausch);
-einem gemeinsamen Interesse an
einem Gelingen der ersten Beitrittsphase, das durch die administrativen
Probleme Polens gefährdet wird. So besteht die Gefahr, dass Polen zu einem
faktischen Nettozahler wird, weil es nicht in der Lage ist, die zur Verfügung
gestellten Fördergelder abzurufen oder mitzufinanzieren, und damit die
Legitimation der EU-Mitgliedschaft in der polnischen Bevölkerung unter starken
Druck gerät;
-einem gemeinsamen Interesse an
der Koordinierung der effektiven Nutzung der Strukturgelder der Europäischen
Union für die Verbesserung der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur
sowie der stärkeren Einbindung der sog. Lissabon-Ziele in die
deutsch-polnischen Projekte, die aus EU-Mitteln finanziert werden;
-einem gemeinsamen Interesse an
der Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich der Verwaltung – sowohl auf
Regierungs- als auch auf der regionalen Ebene;
-einem gemeinsamen Interesse an
der Definition gemeinsamer Ziele und Positionen im Bereich der europäischen
Agrar- und der europäischen Regionalpolitik;
-einem gemeinsamen Interesse an
einer Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union. Zu
diesem Zweck ist die Initiativrolle eines „Kerns“ unerlässlich, dem sich anzuschließen ausdrücklich jedem
EU-Mitgliedsstaat freistehen muss. Ohne eine Gemeinsamkeit von Deutschland,
Frankreich und Großbritannien in den Grundfragen einer GASVP lässt sich die
Kohärenz der EU nicht verstärken. Polen sollte als größtes neues EU-Mitglied
seinen Platz in dem „Kern“ sehen und in diesen „Kern“ aufgenommen werden. Damit
würde der trilateralen Zusammenarbeit Paris-Berlin-Warschau ("Weimarer
Dreieck") eine Stabilisierung durch Ausweitung zuteil;
- einem gemeinsamen Interesse an
einer stabilen Nachbarschaftspolitik der EU. Polen und Deutsche stellen die
stärksten Befürworter einer nachhaltigen Einbindung der Ukraine, von Belarus,
Moldawien und Russland dar.
In dieser Situation am Beginn einer neuen Phase der europäischen und der deutsch-polnischen Beziehungen ist energisches und effektives Handeln angesagt. Die bilateralen Beziehungen bedürfen mehr Konsultation und Koordination, als das in der letzten Zeit der Fall war.