Am 1. Mai 2004 traten Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien,
Ungarn, Lettland, Litauen, Estland, Malta und der griechische Teil Zyperns der
Europäischen Union bei. Entgegen früheren Ankündigungen führten die meisten
bisherigen 15 EU-Staaten Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für
Bürger aus den ostmitteleuropäischen Beitrittsstaaten ein. Die Bürger der neuen
EU-Mitgliedsländer können sich nun ohne Reisepass und Visum im gesamten
EU-Gebiet frei bewegen. Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern für die acht
ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts unterliegt jedoch
Übergangsbestimmungen. Arbeitnehmer aus Malta und Zypern genießen dagegen ab
sofort uneingeschränkte Freizügigkeit.
Auf Initiative der Regierungen
Deutschlands und Österreichs wurde eine abgestufte, maximal 7jährige
Übergangsregelung in den Beitrittsverträgen festgeschrieben. Den neuen
EU-Ländern steht ebenfalls die Möglichkeit der Beschränkung des Zugangs ihrer
Arbeitsmärkte offen. Formal gelten die Regeln des EU-Vertrages über die
Arbeitnehmerfreizügigkeit in der heutigen EU nicht für die neuen EU-Bürger. In
den ersten beiden Jahren darf jedes Land diese Lücke nach eigenem Ermessen
füllen. Will ein Land den Zugang zu seinem Arbeitsmarkt auch danach
einschränken, muss es die dazu erforderlichen Maßnahmen in Brüssel anmelden.
Sie gelten dann für weitere drei Jahre (2006 bis 2009). Danach kann die
EU-Kommission den Mitgliedstaaten solche Maßnahmen für höchstens weitere zwei
Jahre genehmigen (2009 bis 2011).
Zunächst hatten nur Deutschland
und Österreich, die aufgrund ihrer geographischen Nähe zu den Beitrittsländern
befürchten, am stärksten zum Ziel von Zuwanderung aus Ostmitteleuropa zu
werden, angekündigt, den Zugang zu ihren Arbeitsmärkten zu beschränken.
Mittlerweile haben die meisten anderen EU-15-Staaten nachgezogen und eine
Beschränkung des Zugangs zum Arbeitsmarkt bzw. den Sozialleistungen für die
neuen Mitglieder Ostmitteleuropas eingeführt.
In Deutschland dürfen Arbeitgeber
nur dann Personen aus den Beitrittsstaaten dauerhaft beschäftigen, wenn sie
nachweisen können, dass keine geeigneten Kandidaten aus den bisherigen 15
EU-Staaten zur Verfügung stehen. In Großbritannien müssen sich Arbeitssuchende
aus Osteuropa beim Innenministerium anmelden, bevor sie eine Arbeit aufnehmen
dürfen. Der Zugang zu den Sozialleistungen wurde beschränkt. Die
niederländische Regierung beschränkte den Zugang zum Arbeitsmarkt in Reaktion
auf die Maßnahmen anderer Länder, so ein Regierungssprecher. Gleichzeitig wolle
man im ersten Jahr der Erweiterung bis zu 22.000 Arbeitsgenehmigungen an
Ostmitteleuropäer ausgeben.
Ähnlich äußerte sich auch die schwedische Regierung. „Es
wäre naiv von uns, als einziges Land Personen aus Osteuropa freien Zugang zu
Arbeitsmarkt und Sozialleistungen zu gewähren“, so Ministerpräsident Göran
Persson (Sozialdemokraten). Parallel zu der generellen Beschränkung startete
Schweden eine Kampagne zur Anwerbung polnischer Ärzte, um den Engpass im
schwedischen Gesundheitssystem zu beseitigen. Frankreich, Belgien und Spanien
kündigten bilaterale Abkommen mit einzelnen Beitrittsländern für die
Übergangsperiode an, um festzulegen, welche und wie viele Arbeitskräfte aus dem
betreffenden Land eine Arbeitsgenehmigung bekommen. Insofern können die von den
EU15-Ländern angekündigten Maßnahmen nicht als eine vollkommene Schließung
ihrer Arbeitsmärkte verstanden werden, sondern eher als die Fortsetzung der in
den letzten Jahren überall in Europa zu beobachtenden Politik der verstärkten
Auswahl von Zuwanderern anhand ökonomischer Kriterien bei verstärkter
Abschottung gegen unerwünschte Migranten.
In Brüssel ist man über die
Entwicklung besorgt. Die Ängste, die dadurch in den neuen Ländern entstehen,
dürften nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Seine Beamten werden
die Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit dem EU-Recht untersuchen. Die
Regierungen der 15 bisherigen Mitgliedstaaten dürften zwar den Zugang zu ihrem
Arbeitsmarkt begrenzen, sie dürften
aber die Ostmitteleuropäer, die sie ins Land lassen, gegenüber ihren eigenen
Arbeitnehmern nicht benachteiligen.
Auch die Regierungen der
ostmitteleuropäischen Beitrittsländer zeigten sich enttäuscht über die
Kehrtwende der EU15, die lange vollständige Freizügigkeit in Aussicht gestellt
hatten. Es sei weder fair noch gerechtfertigt, jetzt zusätzliche Hürden für
Arbeitskräfte aus Osteuropa zu errichten, sagte der slowakische Außenminister
Eduard Kukan (Christdemokraten). Auch Polens Außenminister Włodzimierz
Cimoszewicz (Sozialdemokraten) zeigte sich enttäuscht, „dass in letzter Minute
die Schlagbäume für Arbeitnehmer runtergehen“.
In Ungarn gelten ab 1. Mai 2004
für Arbeitnehmer aus den alten EU-Staaten die gleichen Zugangsbeschränkungen
zum ungarischen Arbeitsmarkt, wie sie für ungarische Staatsbürger im jeweiligen
EU-Land gelten. Eine entsprechende Reziprozitätsklausel ist im Beitrittsvertrag
enthalten. Der ungarische EU-Kommissar Peter Bálász bezeichnet die Reaktion der
EU15-Staaten als unverständliche Hysterie, hält aber auch die ungarische
Reaktion für ungerechtfertigt. Andere Beitrittsländer wollen sich dem
ungarischen Schritt nicht anschließen. Die Tschechische Republik behält sich
diese Möglichkeit noch vor und macht dies von der Entwicklung auf dem
tschechischen Arbeitsmarkt abhängig. „Wir wollen unseren Arbeitsmarkt schützen,
wollen diesen Schutz aber nicht als Vergeltung oder Sanktion nutzen“, so
Arbeitsminister Zdenek Skromach (Sozialdemokraten).
Eine von der EU-Kommission in
Auftrag gegebene Studie erwartet, dass in den nächsten fünf Jahren maximal 1,1
Mio. Menschen aus den neuen in die bisherigen EU-Mitgliedstaaten wandern. Ein
großer Teil der Arbeitsmigranten würde in den fünf Jahren danach in ihre Heimat
zurück-kehren, falls sich die wirtschaftlichen Verhältnisse dort verbessert
hätten. Das Problem mit der Abwanderung von Arbeitskräften hätten nach der
Untersuchung nicht die 15 bisherigen EU-Länder, sondern die neuen
Mitgliedstaaten. Einige Beobachter befürchten, dass es in den Beitrittsländern
zu einer Elitenabwanderung („Brain Drain“) kommen könnte, da Hochqualifizierte
bessere Chancen auf den westeuropäischen Arbeitsmärkten haben und zudem mobiler
sind.
Die Direktorin des Londoner
Forschungszentrums für europäische Reformen, Heather Grabbe, bezeichnete die
von den alten EU-Staaten getroffenen Maßnahmen als „politische Reaktionen, um
die einheimischen Bevölkerungen zu beruhigen, dass niemand ihnen den Job
wegnehmen wird.“
aus: Migration und Bevölkerung, Ausgabe 3/2004, Hrsg,: Netzwerk Migration in Europa e.V., www.migration-info.de