Eine interessante Initiative

Vernetzung von Experten

Von Alexander Götz

 

Vor über 50 Jahren war die Hellmut-von-Gerlach Gesellschaft ein einzigartiger Verein. Verständigung mit Polen war kein alltägliches Thema. Das ist es heute, fünfzig Jahre später, eigentlich immer noch nicht, aber es gibt gerade in den letzten Jahren mehr und mehr Initiativen, die aus den unterschiedlichsten Zugängen sich um sachliche Information über die Länder Mittel- und Osteuropas und vor allem auch Polen sowie für Verständigung mit diesen Ländern bemühen. Dazu gehören die GFPS (Gemeinschaft für Studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa), die vor fast 20 Jahren als „Gemeinschaft zur Förderung von Studienaufenthalten polnischer Studierender in Deutschland“ gegründet worden war, der von Stipendiaten der Robert Bosch Stiftung gegründete Verein MitOst e.V. (Verein für Sprach- und Kulturaustausch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa), der Berliner „Polen-Treff“ - ein informeller Kreis von Menschen unterschiedlicher Zugänge zum Thema Polen, und es gibt JOE, die Jungen Osteuropa Experten.

 

Eigentlich existiert JOE im Internet. Die „JOE-List“ ist ein deutschsprachiges Forum für junge Fachleute, die sich in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und in der beruflichen Praxis mit Südost-, Ostmittel- und Osteuropa einschließlich der GUS beschäftigen. Sie entstand im Juni 1997 auf Initiative von Jörn Grävingholt als E-Mail-Verteiler aus den „Brühler Tagungen“ des Ost-West-Kollegs und des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Heute erreicht die JOE-List mehr als 2000 Mitglieder in aller Welt. Zudem gibt es in manchen Städten regelmäßige Treffen und Stammtische von Mitgliedern der JOE-List. Ein daraus entstandener “Stammtisch” ist “JOE-fixe” in Berlin-Brandenburg, ein Netzwerk für alle, die beruflich, im Studium oder durch ihr persönliches Interesse und Engagement besonders mit Mittel- und Osteuropa verbunden sind.

Effektiver Zusammenschluss Interessierter

Was steckt hinter dem Phänomen der „Jungen Osteuropa Expert/innen“, was ist das Erfolgsgeheimnis der „JOEs? Welche Eigenschaften, welche Motivationen sind es eigentlich, die uns zu JOEs machen? Welchen Beitrag wollen wir JOEs zur Neugestaltung der Hauptstadtregion und ihrer Nachbarschaft leisten? Die Bezeichnung JOE ist längst zu einer Marke, zu einem Label geworden, das eine bestimmte Sorte Menschen zusammenführt und zusammenhält. Sie bezieht sich nicht nur auf Deutsche, sondern auch auf Menschen aus Mittel- und Osteuropa. Sie bezieht sich auch, so paradox das klingen mag, sowohl auf Jüngere als auch auf Ältere und sowohl auf Fachleute als auch auf einfache Osteuropa-Fans. Der Anteil von Menschen mit einem mittel- oder osteuropäischen Lebenshintergrund beträgt bei den JOEs etwa ein Drittel, die anderen zwei Drittel sind Deutsche, die durch Studium, Beruf, Reisen oder durch persönliche Kontakte intensiv mit Mittel- und Osteuropa in Kontakt gekommen sind.

In der Bezeichnung „Junge Osteuropa Expertin“ oder „Junger Osteuropa Experte“ ist an und für sich jedes einzelne Wort problematisch, denn: Der Begriff „Jung“ ist bekanntlich sehr dehnbar. Über den Begriff „Osteuropa“ kann und muss man immer wieder streiten: Gehören Sibirien, Kasachstan oder Azerbajdzhan dazu? Liegt denn Slowenien überhaupt im Osten? Wo hört Mitteleuropa auf - wo fängt der Osten an? Und so weiter und so weiter! Der Begriff „Experte“ schließlich ist bekanntlich völlig ungeschützt und daher ebenso dehnbar wie die Bezeichnung „Jung“. Trotzdem funktioniert das Label „Junge Osteuropa Exper/innen – JOEs“ in genau dieser Zusammenstellung ganz hervorragend. Allein im Netzwerk JOE-fixe sind nach heutigem Stand über 850 bekennende JOEs aus 370 Berliner und Brandenburger Institutionen miteinander verbunden. Sie arbeiten und engagieren sich in den Bereichen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Kultur und Medien.

Manche fragen, ob das vielleicht einfach daran liegt, dass einerseits die Zugangsschwelle zur Gemeinde der JOEs durch den Begriff „jung“ sehr niedrig gehalten wird und andererseits mit dem Begriff „Experten“ ein gewisser Anspruch verbunden ist? Man sollte diesen Erfolg des Labels JOE am besten zunächst einmal nur zur Kenntnis nehmen und weiter fragen: Wer ist JOE und warum? Oder besser: Was unterscheidet uns JOEs von anderen?

Dazu muß man - mit aller Vorsicht - folgende fünf Kriterien anführen, die auf die meisten von uns zutreffen: Die JOEs haben seit 1989 einen direkten, persönlichen und ungehinderten Zugang zu den Ländern Mittel- und Osteuropas - und nutzen diese neue Freiheit des Reisens, wann immer es möglich ist Sie haben recht originelle Sprachkenntnisse. Oft sprechen sie Sprachen, die andere kaum buchstabieren können. Durch Arbeits- und Studienaufenthalte verfügen sie über Kenntnisse der Alltags- und Geschäftskultur der Zielländer. Diese Kenntnisse sind ja heutzutage als „interkulturelle Kompetenz“ sehr in Mode. Kompetenzen, die häufig bewundert werden, aber für sich genommen nur selten ausreichen, um einen Traumjob zu ergattern. Und fünftens teilen alle die Überzeugung, dass die Länder Mittel- und Osteuropas genauso zu Europa gehören wie Spanien oder Dänemark!

Zentrum Berlin-Brandenburg

Warum gibt es gerade in Berlin und Brandenburg so viele JOEs? Zwar sind die JOEs überall in Deutschland gut vernetzt. Es gibt regelmäßige Treffen in Hamburg, Köln und München. Aber während dort jeweils zehn bis zwanzig JOEs beisammen sitzen, beteiligen sich an den Treffen von JOE-fixe hier in Berlin/Brandenburg Monat für Monat über hundert Personen! Die große Zahl an MOE (Mittel- und Osteuropa)-Interessierten hat natürlich mit der geographischen Nähe, insbesondere zu Polen zu tun. Verlockend auf JOEs aus der ganzen Republik wirkt außerdem die große Zahl von mit Mittel- und Osteuropa befassten Institutionen und die unüberschaubare Menge von Veranstaltungen zu diesem Thema. Insbesondere die Wissenschaftslandschaft hat in Berlin und Brandenburg einen starken MOE-Bezug. Man denke nur an die renommierten Slawistischen Seminare der Humboldt-Universität oder der Universität Potsdam, an die MBA-Studiengänge der Viadrina in Frankfurt an der Oder, an das Osteuropa-Institut der FU und an vieles andere.

Natürlich hoffen wir sehr, dass dieses Potential erhalten bleibt. Die jüngsten Meldungen über den Abbau von 10.000 Studienplätzen lassen dabei Schlimmes befürchten. Eine wichtige Motivation für JOEs, nach Berlin zu kommen, ist natürlich auch die Hoffnung auf Arbeit im Umfeld von Regierung und Parlament! Eine noch viel größere Rolle als dies alles spielt aber wohl eine Reihe von „weichen“ Faktoren: Da ist zunächst die große Zahl von Menschen aus Mittel- und Osteuropa. Allein je über 100.000 Russen und Polen sollen in Berlin leben. Einmalig ist hier auch die MOE-Kultur in allen Sparten und Sprachen. Nicht zu unterschätzen ist schließlich das Image Berlins als offene, unkonventionelle, tolerante und damit interessante Stadt. Und nicht zu vergessen: Es sind schon viele JOEs hier, mit denen man Kontakt aufnehmen kann!

Aus all diesen Gründen zieht es immer mehr JOEs in die Hauptstadtregion. Die Frage ist nur: Sind sie hier auch willkommen? Finden Sie die Jobs, auf die sie hoffen? Sind sich die beiden Bundesländer Berlin und Brandenburg des großen Potentials überhaupt bewusst, das in der beschriebenen MOE-Kompetenz im Allgemeinen und in den JOEs im Speziellen liegt? Wird diese MOE-Kompetenz gehegt und gepflegt? Hat man den Wettbewerb mit anderen Wissensstandorten um die besten Köpfe überhaupt schon begonnen?

Es wurde bereits gesagt, dass die JOEs ein Potential für die Hauptstadtregion sind. Das führt natürlich zu der Frage, worin dieses Potential besteht. Was tun die JOEs für Berlin und Brandenburg? Zur Beantwortung dieser Frage muß man noch einmal auf das ehrenamtliche Engagement der JOEs zurückkommen.

Zuerst das erwähnte Netzwerk JOE-fixe. Bis zur Entstehung von JOE-fixe waren die Berliner Akteure auf dem Feld der Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa scheinbar in alle Winde zerstreut. Ost und West, Wirtschaft und Wissenschaft, sogenannte Bonner Beamte und alteingesessene Berliner Platzhirsche - kaum einer wusste offenbar vom anderen und wenn doch, dann sprach man trotzdem nicht unbedingt miteinander. JOE-fixe bietet dagegen seit über zwei Jahren nicht nur einen neutralen Raum für persönliche Begegnungen von MOE-Interessierten bei den monatlichen Treffen. Die Liste der Adressen und Institutionen der 850 JOEs ist bis heute das umfassendste existierende Verzeichnis der Berliner Mittel- und Osteuropa Szene. Alleine diese kostenlose und hoch effiziente Vernetzung bedeutet für MOE-Projekte in Berlin einen großen Vorteil. Und dieser Vorteil wird von Hunderten von Akteuren regelmäßig genutzt!

Ein ganz konkretes Beispiel dafür: Vor vier Wochen rief ein junger Unternehmer an, der eine Muttersprachlerin brauchte, um tschechische Unternehmen per Telefon für eine internationale Fachmesse anzuwerben. Mit Hilfe von JOE-fixe konnte man ihm schnell eine geeignete Person benennen. Die Verbindungen, die JOE-fixe schafft, sind also nicht nur interessant und persönlich angenehm. Sie führen für Berlin und Brandenburg auch zu einem echten Mehrwert in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur!

Die JOE-Plattform Berlin

Ein weiteres Beispiel ist die JOE-Plattform Berlin. Der Verein mit seinen schon über 100 Mitgliedern und derzeit zwölf Arbeitskreisen ist erst im Februar dieses Jahres gegründet worden, denn einige JOEs wollten über die Treffen und die Kontaktliste des Netzwerkes JOE-fixe hinaus bestimmte Projekte in Eigenregie durchführen. Auch hierfür ein paar konkrete Beispiele:

Der Arbeitskreis (AK) MOE-Kompetenz für Schulen vermittelt Vorträge kompetenter Fachleute an Berliner und Brandenburger Schulen, um die Schülerinnen und Schüler für das Thema MOE zu interessieren oder auf Berufschancen und Ausbildungsmöglichkeiten in diesem Bereich aufmerksam zu machen Der AK Berlin-Szczeciñ bietet regelmäßig Fahrten in die benachbarte Hafenstadt an, um gerade solche Menschen mit Polen in Berührung zu bringen, die bislang nie auf die Idee gekommen sind, auch einmal einen Ausflug nach Osten zu machen! Der AK Kulturnewsletter verschafft allmonatlich allen Kulturinteressierten einen Überblick über die sehr bunte, aber auch sehr unübersichtliche Berliner und Brandenburger MOE-Kulturszene Der AK Recht ist ein Forum für die vielen Fachjuristinnen und Fachjuristen der Stadt, die sich in ihren Instituten und Kanzleien mit der Rechtsentwicklung in Mittel- und Osteuropa befassen.

Man sollte aber noch ein paar Beispiele anderer Akteure nennen:

Der Verein Copernikus e.V. betreut Stipendiatinnen und Stipendiaten aus Mittel- und Osteuropa während ihres Aufenthalts in Berlin.

Horizont e.V. - macht als Verein ehemaliger Freiwilligendienstleister Werbung für die Ableistung von freiwilligem Ersatzdienst in Mittel- und Osteuropa.

Die Regionalinitiative Ostblick e.V. vertritt die Interessen von Osteuropa-Studierenden in Berlin und Brandenburg.

Der Polentreffpunkt bringt Monat für Monat Menschen zusammen, die sich für mehr deutsch-polnische Kontakte engagieren wollen.

Auch wenn dies nur eine willkürliche Auswahl ist: Sie zeigt, dass die JOEs sich als Junge Osteuropa Expertinnen und Junge Osteuropa Experten in Berlin und Brandenburg engagieren, dass sie dabei helfen, die Beziehungen zu unseren Nachbarn in Europa auszubauen und zu vertiefen. Und die Beispiele beweisen auch: Die JOEs warten auf keinen Masterplan Ost. Sie warten nicht auf staatliche Finanzierung, sondern beginnen dort, wo sie selbst etwas beitragen können. Man könnte das - frei nach Kennedy - auf die Formel bringen: Sie fragen nicht, was Europa für sie tun kann, sie fragen, was sie für Europa tun können.

Mehr dazu im Internet unter: www.joe-fixe.de, www.joe-list.de, www.mitost.de und ww.gfps.org        

Zusammengefasst und bearbeitet von Wulf Schade