Vor über 50 Jahren war die Hellmut-von-Gerlach Gesellschaft ein
einzigartiger Verein. Verständigung mit Polen war kein alltägliches Thema. Das
ist es heute, fünfzig Jahre später, eigentlich immer noch nicht, aber es gibt
gerade in den letzten Jahren mehr und mehr Initiativen, die aus den unterschiedlichsten
Zugängen sich um sachliche Information über die Länder Mittel- und Osteuropas
und vor allem auch Polen sowie für Verständigung mit diesen Ländern bemühen.
Dazu gehören die GFPS (Gemeinschaft für Studentischen Austausch in Mittel- und
Osteuropa), die vor fast 20 Jahren als „Gemeinschaft zur Förderung von
Studienaufenthalten polnischer Studierender in Deutschland“ gegründet worden war,
der von Stipendiaten der Robert Bosch Stiftung gegründete Verein MitOst e.V.
(Verein für Sprach- und Kulturaustausch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa), der
Berliner „Polen-Treff“ - ein informeller Kreis von Menschen unterschiedlicher
Zugänge zum Thema Polen, und es gibt JOE, die Jungen Osteuropa Experten.
Eigentlich existiert JOE im
Internet. Die „JOE-List“ ist ein deutschsprachiges Forum für junge Fachleute,
die sich in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und in der
beruflichen Praxis mit Südost-, Ostmittel- und Osteuropa einschließlich der GUS
beschäftigen. Sie entstand im Juni 1997 auf Initiative von Jörn Grävingholt als
E-Mail-Verteiler aus den „Brühler Tagungen“ des Ost-West-Kollegs und des
Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Heute
erreicht die JOE-List mehr als 2000 Mitglieder in aller Welt. Zudem gibt es in
manchen Städten regelmäßige Treffen und Stammtische von Mitgliedern der
JOE-List. Ein daraus entstandener “Stammtisch” ist “JOE-fixe” in
Berlin-Brandenburg, ein Netzwerk für alle, die beruflich, im Studium oder durch
ihr persönliches Interesse und Engagement besonders mit Mittel- und Osteuropa
verbunden sind.
Was steckt hinter dem Phänomen
der „Jungen Osteuropa Expert/innen“, was ist das Erfolgsgeheimnis der „JOEs?
Welche Eigenschaften, welche Motivationen sind es eigentlich, die uns zu JOEs
machen? Welchen Beitrag wollen wir JOEs zur Neugestaltung der Hauptstadtregion
und ihrer Nachbarschaft leisten? Die Bezeichnung JOE ist längst zu einer Marke,
zu einem Label geworden, das eine bestimmte Sorte Menschen zusammenführt und
zusammenhält. Sie bezieht sich nicht nur auf Deutsche, sondern auch auf
Menschen aus Mittel- und Osteuropa. Sie bezieht sich auch, so paradox das
klingen mag, sowohl auf Jüngere als auch auf Ältere und sowohl auf Fachleute
als auch auf einfache Osteuropa-Fans. Der Anteil von Menschen mit einem mittel-
oder osteuropäischen Lebenshintergrund beträgt bei den JOEs etwa ein Drittel,
die anderen zwei Drittel sind Deutsche, die durch Studium, Beruf, Reisen oder
durch persönliche Kontakte intensiv mit Mittel- und Osteuropa in Kontakt
gekommen sind.
In der Bezeichnung „Junge
Osteuropa Expertin“ oder „Junger Osteuropa Experte“ ist an und für sich jedes
einzelne Wort problematisch, denn: Der Begriff „Jung“ ist bekanntlich sehr
dehnbar. Über den Begriff „Osteuropa“ kann und muss man immer wieder streiten:
Gehören Sibirien, Kasachstan oder Azerbajdzhan dazu? Liegt denn Slowenien
überhaupt im Osten? Wo hört Mitteleuropa auf - wo fängt der Osten an? Und so weiter
und so weiter! Der Begriff „Experte“ schließlich ist bekanntlich völlig
ungeschützt und daher ebenso dehnbar wie die Bezeichnung „Jung“. Trotzdem
funktioniert das Label „Junge Osteuropa Exper/innen – JOEs“ in genau dieser
Zusammenstellung ganz hervorragend. Allein im Netzwerk JOE-fixe sind nach
heutigem Stand über 850 bekennende JOEs aus 370 Berliner und Brandenburger
Institutionen miteinander verbunden. Sie arbeiten und engagieren sich in den
Bereichen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Kultur und Medien.
Manche fragen, ob das vielleicht
einfach daran liegt, dass einerseits die Zugangsschwelle zur Gemeinde der JOEs
durch den Begriff „jung“ sehr niedrig gehalten wird und andererseits mit dem
Begriff „Experten“ ein gewisser Anspruch verbunden ist? Man sollte diesen
Erfolg des Labels JOE am besten zunächst einmal nur zur Kenntnis nehmen und
weiter fragen: Wer ist JOE und warum? Oder besser: Was unterscheidet uns JOEs
von anderen?
Dazu muß man - mit aller Vorsicht
- folgende fünf Kriterien anführen, die auf die meisten von uns zutreffen: Die
JOEs haben seit 1989 einen direkten, persönlichen und ungehinderten Zugang zu
den Ländern Mittel- und Osteuropas - und nutzen diese neue Freiheit des
Reisens, wann immer es möglich ist Sie haben recht originelle Sprachkenntnisse.
Oft sprechen sie Sprachen, die andere kaum buchstabieren können. Durch Arbeits-
und Studienaufenthalte verfügen sie über Kenntnisse der Alltags- und
Geschäftskultur der Zielländer. Diese Kenntnisse sind ja heutzutage als
„interkulturelle Kompetenz“ sehr in Mode. Kompetenzen, die häufig bewundert
werden, aber für sich genommen nur selten ausreichen, um einen Traumjob zu
ergattern. Und fünftens teilen alle die Überzeugung, dass die Länder Mittel-
und Osteuropas genauso zu Europa gehören wie Spanien oder Dänemark!
Warum gibt es gerade in Berlin
und Brandenburg so viele JOEs? Zwar sind die JOEs überall in Deutschland gut
vernetzt. Es gibt regelmäßige Treffen in Hamburg, Köln und München. Aber
während dort jeweils zehn bis zwanzig JOEs beisammen sitzen, beteiligen sich an
den Treffen von JOE-fixe hier in Berlin/Brandenburg Monat für Monat über
hundert Personen! Die große Zahl an MOE (Mittel- und Osteuropa)-Interessierten
hat natürlich mit der geographischen Nähe, insbesondere zu Polen zu tun.
Verlockend auf JOEs aus der ganzen Republik wirkt außerdem die große Zahl von
mit Mittel- und Osteuropa befassten Institutionen und die unüberschaubare Menge
von Veranstaltungen zu diesem Thema. Insbesondere die Wissenschaftslandschaft
hat in Berlin und Brandenburg einen starken MOE-Bezug. Man denke nur an die
renommierten Slawistischen Seminare der Humboldt-Universität oder der
Universität Potsdam, an die MBA-Studiengänge der Viadrina in Frankfurt an der
Oder, an das Osteuropa-Institut der FU und an vieles andere.
Natürlich hoffen wir sehr, dass
dieses Potential erhalten bleibt. Die jüngsten Meldungen über den Abbau von
10.000 Studienplätzen lassen dabei Schlimmes befürchten. Eine wichtige
Motivation für JOEs, nach Berlin zu kommen, ist natürlich auch die Hoffnung auf
Arbeit im Umfeld von Regierung und Parlament! Eine noch viel größere Rolle als
dies alles spielt aber wohl eine Reihe von „weichen“ Faktoren: Da ist zunächst
die große Zahl von Menschen aus Mittel- und Osteuropa. Allein je über 100.000
Russen und Polen sollen in Berlin leben. Einmalig ist hier auch die MOE-Kultur
in allen Sparten und Sprachen. Nicht zu unterschätzen ist schließlich das Image
Berlins als offene, unkonventionelle, tolerante und damit interessante Stadt.
Und nicht zu vergessen: Es sind schon viele JOEs hier, mit denen man Kontakt
aufnehmen kann!
Aus all diesen Gründen zieht es immer mehr JOEs in die
Hauptstadtregion. Die Frage ist nur: Sind sie hier auch willkommen? Finden Sie
die Jobs, auf die sie hoffen? Sind sich die beiden Bundesländer Berlin und
Brandenburg des großen Potentials überhaupt bewusst, das in der beschriebenen
MOE-Kompetenz im Allgemeinen und in den JOEs im Speziellen liegt? Wird diese
MOE-Kompetenz gehegt und gepflegt? Hat man den Wettbewerb mit anderen
Wissensstandorten um die besten Köpfe überhaupt schon begonnen?
Es wurde bereits gesagt, dass die
JOEs ein Potential für die Hauptstadtregion sind. Das führt natürlich zu der
Frage, worin dieses Potential besteht. Was tun die JOEs für Berlin und
Brandenburg? Zur Beantwortung dieser Frage muß man noch einmal auf das
ehrenamtliche Engagement der JOEs zurückkommen.
Zuerst das erwähnte Netzwerk
JOE-fixe. Bis zur Entstehung von JOE-fixe waren die Berliner Akteure auf dem
Feld der Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa scheinbar in alle Winde
zerstreut. Ost und West, Wirtschaft und Wissenschaft, sogenannte Bonner Beamte
und alteingesessene Berliner Platzhirsche - kaum einer wusste offenbar vom
anderen und wenn doch, dann sprach man trotzdem nicht unbedingt miteinander.
JOE-fixe bietet dagegen seit über zwei Jahren nicht nur einen neutralen Raum
für persönliche Begegnungen von MOE-Interessierten bei den monatlichen Treffen.
Die Liste der Adressen und Institutionen der 850 JOEs ist bis heute das
umfassendste existierende Verzeichnis der Berliner Mittel- und Osteuropa Szene.
Alleine diese kostenlose und hoch effiziente Vernetzung bedeutet für
MOE-Projekte in Berlin einen großen Vorteil. Und dieser Vorteil wird von
Hunderten von Akteuren regelmäßig genutzt!
Ein ganz konkretes Beispiel
dafür: Vor vier Wochen rief ein junger Unternehmer an, der eine
Muttersprachlerin brauchte, um tschechische Unternehmen per Telefon für eine
internationale Fachmesse anzuwerben. Mit Hilfe von JOE-fixe konnte man ihm
schnell eine geeignete Person benennen. Die Verbindungen, die JOE-fixe schafft,
sind also nicht nur interessant und persönlich angenehm. Sie führen für Berlin
und Brandenburg auch zu einem echten Mehrwert in den Bereichen Wirtschaft,
Wissenschaft, Politik und Kultur!
Die JOE-Plattform Berlin
Ein weiteres Beispiel ist die
JOE-Plattform Berlin. Der Verein mit seinen schon über 100 Mitgliedern und
derzeit zwölf Arbeitskreisen ist erst im Februar dieses Jahres gegründet
worden, denn einige JOEs wollten über die Treffen und die Kontaktliste des
Netzwerkes JOE-fixe hinaus bestimmte Projekte in Eigenregie durchführen. Auch
hierfür ein paar konkrete Beispiele:
Der Arbeitskreis (AK)
MOE-Kompetenz für Schulen vermittelt Vorträge kompetenter Fachleute an Berliner
und Brandenburger Schulen, um die Schülerinnen und Schüler für das Thema MOE zu
interessieren oder auf Berufschancen und Ausbildungsmöglichkeiten in diesem
Bereich aufmerksam zu machen Der AK Berlin-Szczeciñ bietet regelmäßig Fahrten
in die benachbarte Hafenstadt an, um gerade solche Menschen mit Polen in
Berührung zu bringen, die bislang nie auf die Idee gekommen sind, auch einmal
einen Ausflug nach Osten zu machen! Der AK Kulturnewsletter verschafft
allmonatlich allen Kulturinteressierten einen Überblick über die sehr bunte,
aber auch sehr unübersichtliche Berliner und Brandenburger MOE-Kulturszene Der
AK Recht ist ein Forum für die vielen Fachjuristinnen und Fachjuristen der
Stadt, die sich in ihren Instituten und Kanzleien mit der Rechtsentwicklung in
Mittel- und Osteuropa befassen.
Man sollte aber noch ein paar
Beispiele anderer Akteure nennen:
Der Verein Copernikus e.V.
betreut Stipendiatinnen und Stipendiaten aus Mittel- und Osteuropa während
ihres Aufenthalts in Berlin.
Horizont e.V. - macht als Verein
ehemaliger Freiwilligendienstleister Werbung für die Ableistung von
freiwilligem Ersatzdienst in Mittel- und Osteuropa.
Die Regionalinitiative Ostblick
e.V. vertritt die Interessen von Osteuropa-Studierenden in Berlin und
Brandenburg.
Der Polentreffpunkt bringt Monat
für Monat Menschen zusammen, die sich für mehr deutsch-polnische Kontakte
engagieren wollen.
Auch wenn dies nur eine
willkürliche Auswahl ist: Sie zeigt, dass die JOEs sich als Junge Osteuropa
Expertinnen und Junge Osteuropa Experten in Berlin und Brandenburg engagieren,
dass sie dabei helfen, die Beziehungen zu unseren Nachbarn in Europa auszubauen
und zu vertiefen. Und die Beispiele beweisen auch: Die JOEs warten auf keinen
Masterplan Ost. Sie warten nicht auf staatliche Finanzierung, sondern beginnen dort,
wo sie selbst etwas beitragen können. Man könnte das - frei nach Kennedy - auf
die Formel bringen: Sie fragen nicht, was Europa für sie tun kann, sie fragen,
was sie für Europa tun können.
Mehr dazu im Internet unter:
www.joe-fixe.de, www.joe-list.de, www.mitost.de und ww.gfps.org