Der „Heilige General“ - Ignacy Ledóchowski (1871-1945)

Von Joachim Neander

 

Im Totenbuch des Konzentrationslagers Dora-Mittelbau bei Nordhausen findet sich für den 6. März 1945 - neben anderen - der Eintrag „Häftling Nummer 113195, politischer Pole, Ledochowski, Ignatz.“ Wie aus der Häftlingsnummer hervorgeht, muss der Verstorbene zwischen dem 12. und 17. Februar in Dora angekommen sein. Er war einer von den über 11 000 Insassen des bei Liegnitz/Legnica gelegenen KZ Groß Rosen, die die Deutschen im Februar 1945 in aller Eile vor der sich rasch nähernden Roten Armee nach Dora-Mittelbau verbracht hatten. Auf der mehrere Tage dauernden Fahrt in eisiger Kälte und im offenen Güterwaggon hatte sich der 73-Jährige eine Lungenentzündung zugezogen, der sein durch sieben Monate KZ-Haft geschwächter Körper keinen Widerstand mehr entgegen setzen konnte.

 

Seine Familie - eine Geschichte traditionsbewussten Patriotismus’

Ignacy Kazimierz Maria Ledóchowski - so sein vollständiger Name in originaler Schreibweise - entstammte einem alten, traditionell katholischen, südpolnischen Adelsgeschlecht, das zum Wappenverband (herb) Halka gehört und sich auf einen legendären Stammvater gleichen Namens zurück führt, der schon im 9. Jahrhundert den christlichen Glauben angenommen und das Eintreten für diesen als Familientradition begründet haben soll. Angehörige der Familie Ledóchowski beteiligten sich zur Zeit der polnischen Teilungen aktiv am nationalen Widerstand gegen Rußland und Preußen, die beiden nichtkatholischen Teilungsmächte. Ignacys Großvater Ignacy Hilary (1789-1870), Absolvent der Wiener Ingenieur-Akademie, trat 1810 in die Armee des Großherzogtums Warschau ein und zeichnete sich im Unabhängigkeitskrieg 1830-31 gegen Russland (powstanie listopadowe) als Verteidiger der Feste Modlin aus, die sich als eine der letzten polnischen Bastionen der russischen Übermacht am 9. Oktober 1831 ergab. Ein Großonkel Ignacys, Jan Ledóchowski (1791-1864), war als Abgeordneter maßgeblich am Beschluss des Sejm vom 25. Januar 1831 beteiligt, der den russischen Zaren als König von Polen für abgesetzt erklärte. Als Resultat der Niederlage der Aufständischen wurden die Ledóchowskis aus Russisch-Polen ausgewiesen. Ignacy Hilary ließ sich im österreichischen Teilungsgebiet, dem späteren „Königreich Galizien und Lodomerien“, nieder; Jan ging nach Frankreich und starb im Pariser Exil.

Ein Vetter von Ignacys Vater, Bischof Mieczysław Ledóchowski (1822-1902), war Primas von Polen und wurde 1875 von Papst Pius IX. zum Kardinal ernannt. Als Erzbischof von Gnesen-Posen war er anfangs um Kooperation mit der preußischen Teilungsmacht bemüht, vertrat jedoch im „Kulturkampf“ (1872-79), der allgemein gegen die katholische Kirche zielte und in den ehemals polnischen Gebieten zudem eine deutlich antipolnische Stoßrichtung bekam, entschieden die Belange der Kirche und der polnischen Minderheit in Preußen. Er wurde 1874 in Festungshaft genommen und saß bis zu seiner Ausweisung aus dem Deutschen Reich 1876 in Landsberg (Warthe)/Ostrów Wielkopolski ein.

Zwar konnten sich die Ledóchowskis nicht mit „Magnaten“ wie etwa den Zamojskis oder Potockis messen, deren Besitztümer die Größe westeuropäischer Kleinstaaten wie Belgien erreichten. Dennoch waren sie durchaus vermögend und in ihrer Region einflussreich, was unter anderem dadurch erhellt wird, dass Ignacys Urgroßvater Antoni Ledóchowski (1755-1835) im Jahre 1797, nach der dritten polnischen Teilung (1795) vom westgalizischen Adel zum Gesandten an den Wiener Hof gewählt wurde, wo Kaiser Franz II ihn („mit allen Nachkommen beiderlei Geschlechts“) im Jahre 1800 in den erblichen Grafenstand erhob. Spätestens aus dieser Zeit stammen die engen, auch familiären Verbindungen der Familie Ledóchowski zu Österreich. Ignacys Vater Antoni, der außer Grundbesitz in Galizien auch Ländereien in Niederösterreich hatte, heiratete eine österreichische Adlige, Josefa von Salis-Zizers. Aus dieser Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen vier sich einen Namen weit über die Grenzen ihrer Heimatregion gemacht haben: die Ordensgründerinnen Maria Teresa (1863-1922, selig gesprochen 1975) und Julia Urszula (1865-1939; heilig gesprochen 2003), der Jesuitengeneral Włodzimierz (1866-1942) und nicht zuletzt der jüngste Sohn des Ehepaares, Ignacy Kazimierz Maria, der eine weltliche Laufbahn einschlug.

Ignacy Kazimierz Maria Ledóchowski

Am 5. August 1871 auf dem Besitztum seiner Eltern in Loosdorf (Niederösterreich) geboren, wurde Ignacy von der Familie für den Offiziersberuf vorgesehen. Mit elf Jahren erhielt er seine erste Uniform als Zögling des Internats der Heeresschule St. Pölten. Die Sommerferien verbrachte er in Lipnica Murowana in der Nähe von Bochnia in Westgalizien, wo seine Eltern 1883 ein Landgut gekauft hatten und wohin sie auch später ihren ständigen Wohnsitz verlegten. Nach Ende der vierjährigen Schulzeit in St. Pölten wechselte Ignacy 1886 auf die seinerzeit berühmte Heeresschule in Weißkirchen. 1889 setzte er seine Ausbildung an der Wiener Kriegsakademie fort, die er 1892 mit dem Offiziersexamen abschloss. Im selben Jahre, am 1. August 1892, trat er mit dem Rang eines Leutnants in den österreichisch-ungarischen Heeresdienst ein und wurde zur Krakauer Garnison versetzt.

Krakau - die Heimstatt des jungen Ledóchowski

Krakau lag zu dieser Zeit an der Südwestecke des Russischen Reiches. Es war 1795 bei der dritten polnischen Teilung an Österreich gekommen und nach dessen Niederlage von Napoleon 1809 dem „Großherzogtum Warschau“ zugeschlagen worden. 1815 erhielt es auf dem Wiener Kongress den Status einer Freien Stadt („Republik Krakau“) unter dem Protektorat der drei Teilungsmächte Preußen, Russland und Österreich, wurde jedoch von letzterem nach der Niederschlagung des Krakauer Aufstandes von 1846 annektiert und Galizien zugeschlagen. In den folgenden Jahren bauten die Österreicher Krakau zur - seinerzeit hochmodernen - Grenzfestung mit einer starken Garnison aus. Noch heute trifft man im Stadtbild von Krakau auf Kasernenbauten und mächtige Forts aus dieser Zeit, obwohl vieles, weil inzwischen funktionslos geworden, verfiel und abgerissen wurde.

1867 erhielt Galizien im Rahmen des österreichisch-ungarischen „Ausgleichs“ weitgehende Autonomie. Den Polen in Galizien wurde neben den Deutschen in Österreich und den Magyaren in Ungarn der Status einer „herrschenden Rasse“ offiziell zuerkannt. Während im russischen und preußischen Teilungsgebiet die Teilungsmächte - weitgehend ohne Erfolg - die Bevölkerung zu russifizieren bzw. germanisieren versuchten, setzte in Galizien ein Prozess der „Repolonisierung“ von oben ein. Polnisch wurde alleinige Amts- und Unterrichtssprache. Polen rückten in Staat und Verwaltung in die Positionen ein, die nach 1846 weitgehend von Tschechen und Deutschen besetzt worden waren (die sich übrigens großenteils schnell „polonisierten“, meist durch Heirat). Polen stiegen bis in höchste Staatsstellungen der Doppelmonarchie auf, wie etwa Julian Dunajewski (1824-1907) zum Finanzminister, Kazimierz Badeni (1846-1909) zum Premierminister und Agenor Gołuchowski jun. (1849-1921) zum Außenminister. Der Preis hierfür war unbedingte Loyalität zum Kaiser (1848-1916) Franz Joseph I., der sich nach eigener Aussage im Reichsrat, dem Parlament der Doppelmonarchie, stets auf „seine Polen“ verlassen konnte.

Es war also keineswegs ungewöhnlich, dass der k.u.k Leutnant Ignacy Ledóchowski, Pole von Vaters Seite her, nach Krakau versetzt wurde. In der Stadt blühte ein reiches polnisches Kulturleben. Die Szene dominierten Dichter, Maler und Dramatiker wie Stanisław Wyspiański (1869-1907), Lucjan Rydel (1870-1918), Jacek Malczewski (1854-1929), Jan Matejko (1838-1893) oder die Gebrüder Kazimierz (1865-1940) und Włodzimierz Tetmajer (1861-1925). Sie machten in ihren Werken Polen und seine Geschichte auf vielfältige Art - oft mythologisierend und fast immer heroisierend - zum Thema und riefen zur nationalen Wiedergeburt auf. In diesem geistig-kulturellen Klima erhielt der junge Ignacy nicht nur den letzten Schliff in der polnischen Sprache, sondern empfing ohne Zweifel auch entscheidende Impulse für seinen späteren Lebensweg als polnischer Patriot.

Seine Militärkarriere verlief in den in Friedenszeiten üblichen ruhigen Bahnen. 1896 wurde er zum Oberleutnant befördert. Von 1897 bis 1899 war er wieder in Wien zur Generalstabsausbildung an der Kriegsakademie. 1902 erhielt er seine Beförderung zum Hauptmann, 1913 zum Major. Wie sein Vater hatte er außer dem Grafen-Titel den eines österreichischen Kammerherrn. Um 1902, im Alter von dreißig Jahren, lernte Ignacy seine neun Jahre jüngere künftige Frau, Paulina Gräfin Lubieńska, kennen. Das Landgut, das beide zur Heirat bekommen hatten, verpachteten sie. Sie nahmen sich eine Stadtwohnung in Krakau in der ulica Kolejowa (heute ulica Westerplatte) Nr. 13 mit Aussicht auf den Grüngürtel Planty. Hier wurden auch ihre vier Kinder geboren: Jadwiga (1904-1994) und Józefa Maria (1907-1983), die beide Ordensschwestern wurden, Maria Teresa (1906-1992), Malerin und Professorin an der Łódźer Kunstakademie, sowie Włodzimierz Ignacy (1910-1987), der den Ingenieurberuf ergriff.

Der I. Weltkrieg

Als im August 1914 der I. Weltkrieg ausbrach, wurde Ignacy Ledóchowski unverzüglich an der russischen Front in Galizien eingesetzt. Dort führte er anfangs die 7. Berittene Artillerie-Abteilung, später das 43. und danach das 126. Feldartillerie-Regiment. 1915 wurde er zum Oberstleutnant befördert. Im Oktober und November desselben Jahres kämpfte seine Abteilung in Wolhynien Seite an Seite mit der von Józef Piłsudski (1867-1935) geführten I. Brigade der Polnischen Legionen. Anfang April 1916 wurde Ignacy Ledóchowski zusammen mit seinem Regiment an die italienische Front verlegt (Einsatz ab 5. April), wo er bis zum 24. Januar 1917 blieb. Vom 8. Oktober 1917 bis zum 1. Februar 1918 war er wieder an der russischen Front. Über seine Tätigkeit in den davor liegenden acht Monaten findet sich nichts in den einschlägigen militärhistorischen Nachschlagewerken. Vom 2. Februar 1918 bis zur Kapitulation Österreich-Ungarns (3. November 1918) war er erneut an der italienischen Front im Einsatz. 1918 erfolgte auch seine Beförderung zum Oberst. Er erhielt zwei hohe Kriegsauszeichnungen: den - österreichischen - Leopolds-Orden und den - ungarischen - Orden der Eisernen Krone.                     

(Wird fortgesetzt)