Im Totenbuch des Konzentrationslagers Dora-Mittelbau bei Nordhausen
findet sich für den 6. März 1945 - neben anderen - der Eintrag „Häftling Nummer
113195, politischer Pole, Ledochowski, Ignatz.“ Wie aus der Häftlingsnummer
hervorgeht, muss der Verstorbene zwischen dem 12. und 17. Februar in Dora
angekommen sein. Er war einer von den über 11 000 Insassen des bei
Liegnitz/Legnica gelegenen KZ Groß Rosen, die die Deutschen im Februar 1945 in
aller Eile vor der sich rasch nähernden Roten Armee nach Dora-Mittelbau
verbracht hatten. Auf der mehrere Tage dauernden Fahrt in eisiger Kälte und im
offenen Güterwaggon hatte sich der 73-Jährige eine Lungenentzündung zugezogen,
der sein durch sieben Monate KZ-Haft geschwächter Körper keinen Widerstand mehr
entgegen setzen konnte.
Ignacy Kazimierz Maria
Ledóchowski - so sein vollständiger Name in originaler Schreibweise -
entstammte einem alten, traditionell katholischen, südpolnischen
Adelsgeschlecht, das zum Wappenverband (herb) Halka gehört und sich auf einen
legendären Stammvater gleichen Namens zurück führt, der schon im 9. Jahrhundert
den christlichen Glauben angenommen und das Eintreten für diesen als
Familientradition begründet haben soll. Angehörige der Familie Ledóchowski
beteiligten sich zur Zeit der polnischen Teilungen aktiv am nationalen
Widerstand gegen Rußland und Preußen, die beiden nichtkatholischen
Teilungsmächte. Ignacys Großvater Ignacy Hilary (1789-1870), Absolvent der
Wiener Ingenieur-Akademie, trat 1810 in die Armee des Großherzogtums Warschau
ein und zeichnete sich im Unabhängigkeitskrieg 1830-31 gegen Russland
(powstanie listopadowe) als Verteidiger der Feste Modlin aus, die sich als eine
der letzten polnischen Bastionen der russischen Übermacht am 9. Oktober 1831
ergab. Ein Großonkel Ignacys, Jan Ledóchowski (1791-1864), war als Abgeordneter
maßgeblich am Beschluss des Sejm vom 25. Januar 1831 beteiligt, der den
russischen Zaren als König von Polen für abgesetzt erklärte. Als Resultat der
Niederlage der Aufständischen wurden die Ledóchowskis aus Russisch-Polen
ausgewiesen. Ignacy Hilary ließ sich im österreichischen Teilungsgebiet, dem
späteren „Königreich Galizien und Lodomerien“, nieder; Jan ging nach Frankreich
und starb im Pariser Exil.
Ein Vetter von Ignacys Vater,
Bischof Mieczysław Ledóchowski (1822-1902), war Primas von Polen und wurde
1875 von Papst Pius IX. zum Kardinal ernannt. Als Erzbischof von Gnesen-Posen
war er anfangs um Kooperation mit der preußischen Teilungsmacht bemüht, vertrat
jedoch im „Kulturkampf“ (1872-79), der allgemein gegen die katholische Kirche
zielte und in den ehemals polnischen Gebieten zudem eine deutlich antipolnische
Stoßrichtung bekam, entschieden die Belange der Kirche und der polnischen
Minderheit in Preußen. Er wurde 1874 in Festungshaft genommen und saß bis zu
seiner Ausweisung aus dem Deutschen Reich 1876 in Landsberg (Warthe)/Ostrów
Wielkopolski ein.
Zwar konnten sich die
Ledóchowskis nicht mit „Magnaten“ wie etwa den Zamojskis oder Potockis messen,
deren Besitztümer die Größe westeuropäischer Kleinstaaten wie Belgien
erreichten. Dennoch waren sie durchaus vermögend und in ihrer Region
einflussreich, was unter anderem dadurch erhellt wird, dass Ignacys Urgroßvater
Antoni Ledóchowski (1755-1835) im Jahre 1797, nach der dritten polnischen
Teilung (1795) vom westgalizischen Adel zum Gesandten an den Wiener Hof gewählt
wurde, wo Kaiser Franz II ihn („mit allen Nachkommen beiderlei Geschlechts“) im
Jahre 1800 in den erblichen Grafenstand erhob. Spätestens aus dieser Zeit
stammen die engen, auch familiären Verbindungen der Familie Ledóchowski zu
Österreich. Ignacys Vater Antoni, der außer Grundbesitz in Galizien auch
Ländereien in Niederösterreich hatte, heiratete eine österreichische Adlige,
Josefa von Salis-Zizers. Aus dieser Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen
vier sich einen Namen weit über die Grenzen ihrer Heimatregion gemacht haben:
die Ordensgründerinnen Maria Teresa (1863-1922, selig gesprochen 1975) und
Julia Urszula (1865-1939; heilig gesprochen 2003), der Jesuitengeneral Włodzimierz
(1866-1942) und nicht zuletzt der jüngste Sohn des Ehepaares, Ignacy Kazimierz
Maria, der eine weltliche Laufbahn einschlug.
Am 5. August 1871 auf dem
Besitztum seiner Eltern in Loosdorf (Niederösterreich) geboren, wurde Ignacy
von der Familie für den Offiziersberuf vorgesehen. Mit elf Jahren erhielt er
seine erste Uniform als Zögling des Internats der Heeresschule St. Pölten. Die
Sommerferien verbrachte er in Lipnica Murowana in der Nähe von Bochnia in
Westgalizien, wo seine Eltern 1883 ein Landgut gekauft hatten und wohin sie
auch später ihren ständigen Wohnsitz verlegten. Nach Ende der vierjährigen
Schulzeit in St. Pölten wechselte Ignacy 1886 auf die seinerzeit berühmte
Heeresschule in Weißkirchen. 1889 setzte er seine Ausbildung an der Wiener
Kriegsakademie fort, die er 1892 mit dem Offiziersexamen abschloss. Im selben
Jahre, am 1. August 1892, trat er mit dem Rang eines Leutnants in den
österreichisch-ungarischen Heeresdienst ein und wurde zur Krakauer Garnison
versetzt.
Krakau lag zu dieser Zeit an der
Südwestecke des Russischen Reiches. Es war 1795 bei der dritten polnischen
Teilung an Österreich gekommen und nach dessen Niederlage von Napoleon 1809 dem
„Großherzogtum Warschau“ zugeschlagen worden. 1815 erhielt es auf dem Wiener
Kongress den Status einer Freien Stadt („Republik Krakau“) unter dem
Protektorat der drei Teilungsmächte Preußen, Russland und Österreich, wurde
jedoch von letzterem nach der Niederschlagung des Krakauer Aufstandes von 1846
annektiert und Galizien zugeschlagen. In den folgenden Jahren bauten die
Österreicher Krakau zur - seinerzeit hochmodernen - Grenzfestung mit einer
starken Garnison aus. Noch heute trifft man im Stadtbild von Krakau auf
Kasernenbauten und mächtige Forts aus dieser Zeit, obwohl vieles, weil
inzwischen funktionslos geworden, verfiel und abgerissen wurde.
1867 erhielt Galizien im Rahmen
des österreichisch-ungarischen „Ausgleichs“ weitgehende Autonomie. Den Polen in
Galizien wurde neben den Deutschen in Österreich und den Magyaren in Ungarn der
Status einer „herrschenden Rasse“ offiziell zuerkannt. Während im russischen
und preußischen Teilungsgebiet die Teilungsmächte - weitgehend ohne Erfolg -
die Bevölkerung zu russifizieren bzw. germanisieren versuchten, setzte in
Galizien ein Prozess der „Repolonisierung“ von oben ein. Polnisch wurde
alleinige Amts- und Unterrichtssprache. Polen rückten in Staat und Verwaltung
in die Positionen ein, die nach 1846 weitgehend von Tschechen und Deutschen
besetzt worden waren (die sich übrigens großenteils schnell „polonisierten“,
meist durch Heirat). Polen stiegen bis in höchste Staatsstellungen der
Doppelmonarchie auf, wie etwa Julian Dunajewski (1824-1907) zum Finanzminister,
Kazimierz Badeni (1846-1909) zum Premierminister und Agenor Gołuchowski
jun. (1849-1921) zum Außenminister. Der Preis hierfür war unbedingte Loyalität
zum Kaiser (1848-1916) Franz Joseph I., der sich nach eigener Aussage im
Reichsrat, dem Parlament der Doppelmonarchie, stets auf „seine Polen“ verlassen
konnte.
Es war also keineswegs
ungewöhnlich, dass der k.u.k Leutnant Ignacy Ledóchowski, Pole von Vaters Seite
her, nach Krakau versetzt wurde. In der Stadt blühte ein reiches polnisches Kulturleben.
Die Szene dominierten Dichter, Maler und Dramatiker wie Stanisław Wyspiański
(1869-1907), Lucjan Rydel (1870-1918), Jacek Malczewski (1854-1929), Jan
Matejko (1838-1893) oder die Gebrüder Kazimierz (1865-1940) und Włodzimierz
Tetmajer (1861-1925). Sie machten in ihren Werken Polen und seine Geschichte
auf vielfältige Art - oft mythologisierend und fast immer heroisierend - zum
Thema und riefen zur nationalen Wiedergeburt auf. In diesem geistig-kulturellen
Klima erhielt der junge Ignacy nicht nur den letzten Schliff in der polnischen
Sprache, sondern empfing ohne Zweifel auch entscheidende Impulse für seinen
späteren Lebensweg als polnischer Patriot.
Seine Militärkarriere verlief in
den in Friedenszeiten üblichen ruhigen Bahnen. 1896 wurde er zum Oberleutnant
befördert. Von 1897 bis 1899 war er wieder in Wien zur Generalstabsausbildung
an der Kriegsakademie. 1902 erhielt er seine Beförderung zum Hauptmann, 1913
zum Major. Wie sein Vater hatte er außer dem Grafen-Titel den eines
österreichischen Kammerherrn. Um 1902, im Alter von dreißig Jahren, lernte
Ignacy seine neun Jahre jüngere künftige Frau, Paulina Gräfin Lubieńska,
kennen. Das Landgut, das beide zur Heirat bekommen hatten, verpachteten sie.
Sie nahmen sich eine Stadtwohnung in Krakau in der ulica Kolejowa (heute ulica
Westerplatte) Nr. 13 mit Aussicht auf den Grüngürtel Planty. Hier wurden auch
ihre vier Kinder geboren: Jadwiga (1904-1994) und Józefa Maria (1907-1983), die
beide Ordensschwestern wurden, Maria Teresa (1906-1992), Malerin und Professorin
an der Łódźer Kunstakademie, sowie Włodzimierz Ignacy
(1910-1987), der den Ingenieurberuf ergriff.
Als im August 1914 der I. Weltkrieg ausbrach, wurde Ignacy
Ledóchowski unverzüglich an der russischen Front in Galizien eingesetzt. Dort
führte er anfangs die 7. Berittene Artillerie-Abteilung, später das 43. und
danach das 126. Feldartillerie-Regiment. 1915 wurde er zum Oberstleutnant
befördert. Im Oktober und November desselben Jahres kämpfte seine Abteilung in
Wolhynien Seite an Seite mit der von Józef Piłsudski (1867-1935) geführten
I. Brigade der Polnischen Legionen. Anfang April 1916 wurde Ignacy Ledóchowski
zusammen mit seinem Regiment an die italienische Front verlegt (Einsatz ab 5.
April), wo er bis zum 24. Januar 1917 blieb. Vom 8. Oktober 1917 bis zum 1.
Februar 1918 war er wieder an der russischen Front. Über seine Tätigkeit in den
davor liegenden acht Monaten findet sich nichts in den einschlägigen
militärhistorischen Nachschlagewerken. Vom 2. Februar 1918 bis zur Kapitulation
Österreich-Ungarns (3. November 1918) war er erneut an der italienischen Front
im Einsatz. 1918 erfolgte auch seine Beförderung zum Oberst. Er erhielt zwei
hohe Kriegsauszeichnungen: den - österreichischen - Leopolds-Orden und den -
ungarischen - Orden der Eisernen Krone.
(Wird fortgesetzt)