Polen - ein Selbstportrait im Spiegel der Soziologie

Von Jacek Zakowski

 

Der Pole ist Europa beigetreten. Mit Ängsten, Komplexen und Stolz. Der Stolz sagt ihm, dass er Europa die wahren Werte lehrt. Die Komplexe warnen ihn, er werde in der Konkurrenz mit dem Westen nicht bestehen. Der Stolz führt zur Vision, dass er durch den stärkeren Westen seinen nationalen Charakter verliert und kolonialisiert wird. Die Ängste, Komplexe und der Stolz, das sind offensichtlich die Quelle für die Volksneurose. Aber diese Neurose wächst vor allem deshalb, weil das Selbstbewusstsein des Polen immer falscher wird. Nicht wahr, es wird immer schwieriger, sich selbst zu finden? Haben Sie bemerkt, dass der tatsächliche Pole aufgehört hat, zu dem projizierten Polen zu passen? Wer hat uns das angetan? Es scheint, die III. Republik hat uns so verändert, unsere Gestalt, unseren Stil verwandelt. Die Welt um uns herum hat sich verändert. Wir haben uns verändert. Aber grob gesagt sind unsere Vorstellungen von uns selbst so geblieben, wie sie waren.

 

Es ist Zeit, unsere Vision neu zu erlernen. Vor allem deshalb, weil wir einen hervorragenden Spiegel bekommen haben, in dem wir uns im Vergleich mit anderen Gesellschaften wie auch in einem bestimmten Zeitraum betrachten können.

Was ist in unseren, den polnischen Köpfen passiert? Wo platzieren wir uns?

Wenn der Pole in den Spiegel schaut, überzeugt er sich erstaunt davon, dass er sich seit Generationen als etwas Besonderes betrachtet. Nun, wir sind ein ganz durchschnittliches Völkchen auf dieser Welt. Nicht nur hinsichtlich des Umfangs und des Könnens. Auch unsere Identität, Werte, Ansichten und Haltungen lokalisieren uns meistens in der Mitte unter den Nationen.  Unter 80 untersuchten nationalen Gesellschaften befindet sich der Pole meistens im mittleren Feld – irgendwo zwischen dem 25. und 55. Platz. Sein Anderssein kann noch teilweise die Briten oder die Deutschen schocken, aber in Europa trifft er selten auf extreme Positionen.

Wenn er aufmerksam hinschaut, sieht er, was ihn grundlegend unterscheidet, die Zusammenhanglosigkeit der Ansichten sowie das Tempo der Veränderungen. Dieses Tempo und diese Veränderungen führen dazu, dass man seine Meinung revidieren muss. Zunächst: Verabschiede dich von “Paweł” und dem „Christus der Völker“. Begrüße das globale Mittelmaß!

Der faule Workaholic

Der Pole ist es gewöhnt, sich selbst als Bruder Leichtfuß zu sehen. In der Einbildung wird  das Polentum so betrachtet wie in seinen romantischen Anfängen und der alltäglichen Trägheits- Befindlichkeit. Der Spiegel Ingleharts zeigt andere Bilder.*

Auf eine Frage antworteten wir am häufigsten mit „Ja“; das ist ausgerechnet die Frage “ob der Mensch das Recht habe, nicht zu arbeiten, wenn er keine Lust dazu hat“. Das würde die alten Stereotype ( festgefahrene Meinungen) festigen, dass wir uns von den Völkern der Welt hauptsächlich durch unsere Faulheit unterscheiden. Aber die Angelegenheit ist nicht so einfach.

Für einen Polen, der an seine Stereotype (schablonenhafte Betrachtung) gewöhnt ist, ist es schwer zu glauben, dass wir uns im Vergleich Europas schon fast an der Spitze der Arbeitsliebhaber befinden. Wir könnten bald die arbeitsamsten Europäer sein, denn der Westen wird immer fauler, während wir immer größere Enthusiasten der Arbeit werden. Am Anfang des untersuchten Zeitraums hat etwa ein Drittel der Franzosen, Engländer und Polen festgestellt, dass die Arbeit in ihrem Leben außerordentlich wichtig sei. Jetzt sind es zwei Drittel der Franzosen (Das ist Weltrekord!), die Hälfte der Engländer, annähernd die Hälfte der Deutschen (!) und nicht ganz jeder sechste Pole. In der Europäischen Union gibt es kein zweites Land, das feststellt, dass die Arbeit so wichtig sei.. Ob sich so die Angst vor der Arbeitslosigkeit bemerkbar macht?

Das Gewicht, das die alten Europäer und Amerika der Arbeit beimessen, fällt radikal. Dagegen halten die Polen sie für immer wichtiger.

Und es geht nicht allein um die Arbeit als Quelle des Unterhalts. Für den Polen ist die Arbeit in viel höherem Maße Sache der Ambitionen und der Ehre als für die Mehrheit der Europäer. Der Pole will sich in der Arbeit verwirklichen und stellt erstaunt fest, dass Geld ohne Arbeit demütigend ist. So denken 64 Prozent der Polen, 47 Prozent der Tschechen, 44 Prozent der Spanier und Franzosen, aber nur ein Drittel der Engländer, der Deutschen und der Amerikaner.

Vielleicht wird es bald eine neue Redewendung geben, „der arbeitsame Pole“ und „der faule Deutsche?“

Aber vielleicht ist es besser, damit zu warten? Es genügt, die Polen zu fragen, was in der Arbeit für sie wichtig ist. Fast 93 Prozent meint eine gute Bezahlung. Das sind mehr als in irgend einem anderen Land der Europäischen Union und um die Hälfte mehr als in Frankreich oder Österreich. Aber auch auf anderen Gebieten sind unsere Erwartungen gegenüber der Arbeit anspruchsvoller als die Erwartungen der Mehrzahl der westlichen Europäer. Mehr von uns wollen nicht nur eine gut bezahlte Arbeit, sondern auch eine ruhige, sichere, chancenreiche, initiativreiche, verantwortliche, interessante Arbeit sowie angenehme Kollegen, Entwicklungsmöglichkeiten und Selbstverwirklichung. Der Pole hat in jeder Hinsicht überhöhte Erwartungen gegenüber der Arbeit, wenn man den europäischen Maßstab zugrunde legt.

Das mag auch teilweise unseren ersten Platz in der Akzeptanz derer erklären, die nicht arbeiten wollen. Weil Arbeit, die die Polen erwarten, nicht einfach zu finden ist. Das unterstreicht hervorragend das Los derer, die bereits nach einigen Tagen „Arbeit für Brot“ aus England zurückkommen. Aber vor allem erklärt das unsere Resignation zum Thema Regierung. Denn der Pole weiß, wie schwer es  ihm recht zu machen ist.

Ein strenger Anarchist

Der polnische Bürger schaut ungern und unsicher in den Spiegel. Seit Generationen sollte er den Bürgersinn der Fremden kennen lernen. Als Patriot verhielt er sich in heroischen Zeiten gut. In Zeiten banaler Alltäglichkeit quälen ihn als Bürger Komplexe: Unabhängigkeit, Unruhestifter, Besserwisser, Privatwelt.

In die Tiefe des Spiegels von Inglehart schauend, stellt der Pole fest, dass er in den 90er Jahren so etwas wie eine ethische Revolution durchlebt hat. Insbesondere nahm er die Fähigkeit auf, sich risikofreudig zu verhalten. Nur bei der Nichtzahlung von Steuern benahm er sich äußerst rigoros. Aber bald sieht er, dass er keinen Grund hat, sich in Komplexe zu verrennen. In bezug auf Europa sieht es nicht schlecht aus. Sogar gegenüber den Deutschen, die ihm so oft als Muster der Disziplin und bürgerlichen Tugend hingestellt wurden, präsentiert er sich würdevoll, geradezu rigoros. „ Der ordentliche Deutsche“, aber nicht nur er, akzeptiert häufiger als der Pole Steuerbetrügerei, Trinkgelder, Lüge, sogar das Autofahren unter Alkohol und das Überschreiten der Geschwindigkeit.

Nun ist der Pole als Bürger stolz, denn im Vergleich mit den Nachbarn schauen wir auf eine musterhafte, ehrenhafte und rechtschaffene Gesellschaft von Menschen. Als Sargnagel für das Stereotyp des „rechtstaatlichen Deutschen“ und des „anarchistischen Polen“ erkläre ich die Meinung zum Denunziantentum. Denn annähernd die Hälfte der Polen und nur jeder vierte Deutsche ist der Ansicht, dass „die Person, die Informationen hat, die dem Recht helfen könnten, sie den staatlichen Einrichtungen übergeben muss“.

Wenn deklarierte Bewertungen über tatsächliche Haltungen entscheiden würden (!), dann wären wir jetzt eine der ordentlichsten Gesellschaften Europas und vielleicht sogar der Welt. Der Pole stellt mit Trauer fest, dass die Einwohner von Bangladesh, der Türkei und Vietnam der gesellschaftlichen Bildung offenbar den größten Wert beimessen. Diese Länder sind aber keineswegs berühmt für ihre Unkäuflichkeit oder Skrupellosigkeit bei der Zahlung von Steuern. Folglich bedauert der polnische Bürger, dass man oft die rigorosen Forderungen in Bezug auf die Bürgerrechte auf andere überträgt, nicht auf sich, obwohl man sich dazu bekennt.

Toleranter Fremdenhasser

Alles was der Pole ringsherum sieht, sucht er im Spiegel von Inglehat:

Das Polentum oder das Volk, die Gesellschaft, die Gemeinschaft ist das Erbe großer Verwerfungen von der Sintflut bis zur Solidarnoœæ. Und was sieht er, wenn er in den Spiegel schaut? Sich selbst. Ringsumher Leere. Vielleicht sind die Verwandten ausgenommen. Noch schlimmer ist, er fühlt bei diesem Anblick der Leere Erleichterung, weil man ohnehin von den anderen nichts Gutes erwartet.

Der Pole traut anderen nicht. Wenn gefragt wird: „Wen möchtest du nicht als Nachbarn haben?“, hatten wir in 9 von 12 Fällen mehr Vorbehalte als irgendein anderes Land im alten Europa und blieben immer in der oberen Hälfte der Welttabelle. Das lässt sich nicht vollständig dem Fremdenhass und der Intoleranz zuschreiben. Fremdenhass und Intoleranz bestehen ganz offensichtlich, aber es ist schwierig, damit den allgemeinen Unwillen der Polen gegenüber nachbarschaftlichen Beziehungen zu einer kinderreichen Familie zu erklären. Der Spiegel verleitet uns eher zu Vermutungen, denn die Angelegenheit ist tiefgründiger und umfassender. Es scheint, dass die Polen eine überdurchschnittliche Neigung zum „süßen, angenehmen“ Leben haben, und alles ausschalten möchten, was dabei stört.

Am Anfang des Untersuchungszeitraums hat noch jeder Dritte von uns geglaubt, dass man dem anderen trauen sollte. Jetzt glaubt das nur noch jeder fünfte. Es gibt auf der Welt nur wenige Menschen, die so misstrauisch sind wie der Pole. Unter dem Gesichtspunkt des Misstrauens den Menschen gegenüber gehen wir Kopf an Kopf mit der Bevölkerung von Aserbaidschan und Serbien, die sich nicht der allerbesten Meinung erfreuen. In der gesamten größeren Europäischen Union sind nur die Letten, Slowaken und Portugiesen misstrauischer als wir. Der Pole weiß, vor dem Spiegel stehend, dass Misstrauen etwas Zufälliges des eigenen Verstandes und der Kultur sein kann und nicht seine Ursache in den Unzulänglichkeiten der anderen haben muss.

Der Pole ist geneigt zu glauben, dass er zu einem der am wenigsten vergesellschafteten Völker in der Welt gehört. Unter dem Aspekt der Mitgliedschaft in verschiedenen Organisationen und der gesellschaftlichen Arbeit befinden wir uns zumeist am Schwanze der Schlange- nicht nur in Europa, sondern im Weltmaßstab. Das belegt auch, dass wir uns gegenseitig nicht kennen. Im Vergleich mit der modernen Welt sind wir extreme Einzelgänger und Individualisten. Nur in 8 Ländern der Welt haben Menschen seltener freundschaftliche und gesellschaftliche Kontakte als in Polen. Und das nicht deshalb, weil uns das gesellige Leben nicht gefällt oder wir dafür keine Zeit haben. Uns sind einfach Freunde nicht wichtig. Wir gehören zu den zehn am wenigsten organisierten modernen Gesellschaften. Der größte Teil dieser Gesellschaften lebt in Osteuropa.

Und was ist für uns wichtig? Unverändert vor allem die Familie. Damit landen wir in der Mitte der globalen Tabelle, gemeinsam mit Schwarzenberg, Serbien, Irland, Singapur. An zweiter Stelle steht die Arbeit, weiter die Religion, Politik, Erholung, Freunde und Freizeit. Noch aussagekräftiger ist die Dynamik der von den Polen anerkannten Werte. An Bedeutung verlieren die Freizeit, Politik und Religion. An Bedeutung gewinnen die Arbeit und die Arbeitskollegen.

Im Spiegel von Inglehart sieht der Pole deutlich, dass er in der III. Republik individualistischer und materialistischer geworden ist. Das ist zu erkennen am Rückgang der Teilnahme an den gesellschaftlichen Aktivitäten. Die Bereitschaft, Petitionen zu unterschreiben, brachten zu Anfang der Erhebung 52 Prozent der Befragten zum Ausdruck, am Ende nur noch 29 Prozent. Die Zahl derer, die bereit waren, an einem Boykott teilzunehmen, fiel um ein Drittel (von 35 auf 24 Prozent), an einer Demonstration von 51 auf 31 Prozent, am nichtoffiziellen Streik von 24 auf 16 Prozent. Sogar das passive Interesse an Politik fiel von 49 auf 42 Prozent. Und das nicht zugunsten anderer Aktivitäten. Den Polen interessiert einfach alles andere immer weniger als seine eigene Nasenspitze. Es nahm sogar die Zahl der Personen ab, die politische Gespräche führen wollen. Sogar über allgemeine Probleme will keiner mehr reden.

Der sich im Spiegel Ingleharts betrachtende Pole stellt mit einer gewissen Trauer fest, dass in banalen Zeiten uns nicht nur weniger verbindet als es uns scheint, sondern dass das Tatsache ist. Die Gemeinschaft sehnt sich nach heroischen Zeiten, nach Momenten eines großen Beginns, nach nationaler Nähe. Der einzelne ist stolz auf sein Volk, sogar in steigendem Maße wie kaum jemand in der Welt und in Europa.

Demokrat und Diktator

Der Pole schaut in den Spiegel von Inglehart und sucht in ihm einen aufrichtigen Demokraten in der Tradition des Großen Sejm. Er schaut und schaut und lächelt sich zu. „Das bin ich“, denkt er. Zur Demokratie sagt er kein böses Wort.

Und tatsächlich: Die Polen erweisen sich als echte Apologeten des demokratischen Systems. Nur wenige in der Welt glauben wie wir an die praktische Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit der Demokratie. In keinem Land der Welt opponieren die Menschen so zahlreich gegen Vorwürfe, dass „die Demokratie nur schwer die Ordnung aufrecht erhält.“ Nur die Brasilianer bemerken öfter als wir, dass „ mit Hilfe der Demokratie günstig Entscheidungen getroffen werden können.“ Nur in einigen Ländern der Welt sind Menschen der Meinung, dass in der Demokratie „ die Wirtschaft schlecht funktioniert“.

Aber der Demokrat wird von dem magischen Glauben der Polen an Fachleute und Experten geplagt. In den alten Demokratien glauben 30 Prozent (Dänemark) bis 60 Prozent (Österreich), dass es besser wäre, wenn Fachleute und nicht Regierungen entscheiden würden, was am besten für das Land sei. In Polen sind es 88 Prozent der Befragten. Nur in zwei Ländern auf der Welt glauben mehr Menschen eher an den Experten als an demokratische Regierungen, das ist in Vietnam und Montenegro so. Keines dieser Länder ist ein Muster moderner Demokratie.

Schlimmer ist, dass der polnische Demokrat im Vergleich mit den alten Demokratien an das Gute einer Militärdiktatur glaubt. In den alten Demokratien glauben 1 Prozent ( Island,, Dänemark, Holland) bis 9 Prozent (USA), dass für das Land Militärdiktaturen gut wären. In Polen glauben das bis zu 17 Prozent der Befragten! Das ist noch kein Drama. In 25 Ländern gibt es noch mehr Anhänger der Junta. In Brasilien meinen das 45 Prozent, in Mexiko 35 Prozent in Rumänien 28 Prozent und in Russland 19 Prozent.

Sobald die Frage an den polnischen Demokraten gestellt wird: „Ist es gut, im Lande eine Demokratie zu haben“, fällt sein Selbstwertgefühl. „ Ja“ antworten 84 Prozent der befragten Polen. Auf den ersten Blick sieht das gut aus, aber nur in drei Ländern der Welt – auf den Philippinen, in Moldawien und in Russland – hat die Demokratie weniger Sympathisanten! Jeder 6. Pole möchte lieber eine Diktatur!

Zum Glück ist die Mehrzahl von uns immun gegenüber solchen Überlegungen. Zwei wichtige Fragen, die die Authentizität der demokratischen Haltung beweisen, fallen für uns gut aus - sogar gegenüber den alten Demokratien. Nur 22 Prozent der Polen sehen sich nach einem starken Leader um. Öfter geschieht das den Portugiesen ( 36%), den Franzosen (35%), den Belgiern (33%), den Schweizern ( 31%), den Amerikanern (30%). Die Mehrheit der Polen ist auch dafür, dass die Kirchenfürsten keinen Einfluss auf die Staatsmacht nehmen (nur in vier Ländern ist diese Betrachtung populär); sie sollten auch nicht darauf Einfluss nehmen, wie gewählt wird (hierbei überholt uns nur Malta).

Das erklärt auch die notorische Niederlage der Partei, die den Bischof unterstützt. Um dieses Signal zu verstehen, muss der Pole etwas näher seine Religiosität durchleuchten.

Der religiöse Sünder

Der katholische Pole zeigt vor dem Spiegel mit Überzeugung seine Halskette. Denn sie soll dem trägen Europa Auftrieb geben. Der Glaube ist der Stolz der Polen. Er ist das Bollwerk der polnischen Tradition und der Identität.

Der Pole ist stolz, weil sein Volk immer als das am meisten katholische galt. In der erweiterten Union laufen wir bezüglich der Religiosität Kopf an Kopf mit den Maltesern, die die gläubigsten Christen der Welt sind. Die Polen betrachten sich als religiöse Menschen (zum Glauben an Gott bekennen sich 97 Prozent der Polen), aber noch mehr Malteser glauben an Gott (100 Prozent) und nehmen an Gottesdiensten teil. Hierbei nehmen die Malteser den 4.und wir den 8. Platz in der Welt ein.

Nicht so gut erweist sich die Antwort auf die Frage: „ Wie wichtig ist Gott in deinem Leben?“ Hierbei fallen wir in das dritte Zehntel zurück - Malta überholt uns deutlich –  wir entwickeln uns ähnlich wie die Amerikaner, die uns bald überholen werden. Für sie wird Gott immer wichtiger, wie in anderen Ländern auch, während er für die Polen immer weniger wichtig wird.

Die Katholiken in Polen beunruhigt am meisten die Lockerung der Moral. Die III. Republik brachte eine wachsende Akzeptanz für Homosexualität, für Scheidungen, Euthanasie, Selbstmord, weiche Drogen, für Ehebruch und alleinerziehende Mütter. (18 bis 42 Prozent) Hier landet der Pole irgendwo in der Mitte des europäischen Niveaus. Aber als religiöse Person ist er im Zweifel, ob er gerade eine solche Modernisierung im Spiegel betrachten möchte.

Der polnische Katholik ist beunruhigt, wenn ihm der Spiegel zeigt, dass er aus der Religion immer weniger Kraft schöpft, immer weniger betet und immer seltener an Gottesdiensten teilnimmt. Die Veränderungen sind vielleicht nicht groß, aber sie sind gut sichtbar im Vergleich zum globalen Trend

Jetzt fühlt der polnische Katholik eine wachsende Unruhe. Denn er konnte sich überzeugen, dass ihm Europa die Laisierung bringt und dass Europa ihn von der Kirche, von Gott und von dem Zusammenhang zwischen Glauben und der polnischen Identität entfernt. Im Spiegel Ingleharts sieht der Pole, dass sich eine zunehmende Routine in der Erziehung entwickelt. Nichts wurde zerstört, die Kirchen leerten sich nicht, nichts wurde endgültig neu definiert, aber die Verschiebung ist Fakt. Der Pole legt sich darüber noch keine Rechenschaft ab, er betrachtet sich immer noch als besonders religiösen Menschen, aber die Religiosität wird schwächer.

Der sozialistisch Liberale

Der Pole ist stolz darüber, dass er schnell lernt und sich immer zu helfen weiß. Leicht und ohne Vorbehalte übernahm er den Glauben an den Markt. Vor dem Spiegel stehend, stellt er fest, dass ihn dieser neue Glaube zunehmend auslaugt.

Der Pole möchte mit der Welt Schritt halten. Er ist stolz und weiß um den revolutionären Charakter der veränderten Ansichten über die Wirtschaft in Polen. Am besten wird der Maßstab der Revolution durch die Antwort auf die Frage wiedergegeben: „Ist Konkurrenz gut?“ Am Anfang der Untersuchung bejahte jeder achte Pole diese Frage, am Ende schon mehr als jeder zweite. Im Weltmaßstab liegt die entsprechende Zahl zwischen 12 und 66 Prozent. Der Unternehmer macht sich gewisse Sorgen. Denn trotz der großen ideologischen Veränderungen gehören wir weiter zu den am wenigsten entwickelten marktwirtschaftlichen Gesellschaften. Gleichzeitig freut er sich, denn unter den 16 Gesellschaften, die noch skeptischer als wir  gegenüber der Konkurrenz sind, befinden sich acht ältere Mitglieder der Union. Die meisten Anhänger der Konkurrenz hat Frankreich – 46 Prozent!

Jedoch wenn der Pole etwas länger in den Spiegel von Inglehart schaut, wird er unruhig, weil er feststellt, dass fast 56 Prozent der Polen möchten, dass sich der Staat mehr um die privaten Betriebe kümmern sollte. Er sieht, dass wir hinsichtlich des Misstrauens gegenüber privaten Betrieben in Europa den dritten Platz einnehmen – nach Litauen und der Slowakei. Sogar in Weißrussland und in Russland schätzen die Menschen die Manager! Fortlaufend verkleinerte sich die Gruppe der Polen, die bereit ist, das ungleiche Wachstum der Einkommen für den individuellen Bedarf anzuerkennen (Rückgang von 79 auf 51 Prozent). In der erweiterten Union sind nur die Esten und Luxemburger noch unzufriedener über die größer werdende Ungleichheit. Außerdem sind bis zu 75% der Polen der Meinung, dass eine gerechte Gesellschaft die Pflicht hat, die Ungleichheit abzubauen. Genau die Hälfte ist der Meinung, dass die Ursache für die Armut die gesellschaftliche Ungerechtigkeit ist. Das ist Rekord in der Europäischen Union;  fast 80 Prozent meinen, dass die Gesellschaft allen die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse sichern muss. Das ist der vierte Platz in der Union.

Der Pole ist ein Liberaler - wie es die Mode in der Welt der 90er Jahre verlangt – aber sein Liberalismus ist sehr egalitär. Der Spiegel sagt ihm nicht, ob das ein Erfolg der letzten 10 Jahre ist oder auch das Resultat der mehrjährigen sozialistischen Indoktrination. Aber auch hier spürt der Pole den Druck zwischen dem neuen liberalen Glauben, dem er sich verschrieben hat, und dem Gefühl der Gerechtigkeit, die er nicht zu erreichen vermag.

Die doppelte Spiegelung

Je mehr der Pole sich betrachtet, um so mehr wundert er sich. Sicher ist aber: Die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, lassen sich nicht sinnvoll darstellen.

Im Spiegel von Inglehart sieht der Pole die spezifische Stabsichtigkeit, durch seine Betrachtungsweise hervorgerufen. Denn er schätzt schon sehr die Arbeit, aber eher die, welche nicht existiert. Er hat schon ein großes Gefühl der Rechtstaatlichkeit, aber alle wissen, dass er ihr nicht gewachsen ist. Er ist überzeugt, Konkurrenz ist gut, aber ihre Wirkungen gefallen ihm nicht. Er unterstützt die Demokratie, aber die Staatsmacht will er den Fachleuten überlassen, nicht der Regierung, die gewählt worden ist. Immer bezeichnet er sich als religiöse Person, aber immer weniger stören ihn Scheidungen, Euthanasie und zufälliger Sex.

Wie stark diese polnischen Spezifika sind, sieht er am deutlichsten, wenn er sich neben einen Malteser stellt, der zur selben katholischen Kirche gehört. In den Spiegel Ingleharts schauend, sieht der Pole einen sozialistischen Liberalen, einen übermissionierten Katholiken, einen autokratischen Demokraten, einen anarchischen Staatsanhänger. Ihn beunruhigt die eigenartige doppelte Identität. Er fühlt in sich wachsenden Druck, den er nicht beherrscht. Er beginnt sich zu fürchten, dass er in ein gespaltenes Ich fallen könnte. Er möchte gerne wissen, womit und als was er in Europa eintritt. Aber irgendwie kann er sich nicht entscheiden, weil er sich selbst nicht versteht.      

 

* Der Spiegel Inglehart

- Im Frühling dieses Jahres ist der Band : „Human Belifs and Velues. A cross–cultural sourcebook based on the 1999-2002 values survey” unter der Redaktion von Ronald Inglehart sowie Moguel Basanez, Jaime Dietz-Medrano, Loek Haman und Rudi Luijkx (Herausgegeben von Siglo XXI, Mexiko) mit 500 Seiten herausgekommen. Er beinhaltet die Forschungsergebnisse über die Werte und Überzeugungen der Gesellschaften in über 80 Ländern. (Untersuchung in zwei Zeitetappen 1990 und 2000)

Ronald Inglehar ist einer der gegenwärtig geachtetsten Soziologen. Er ist Professor in Ann Arbor, Schöpfer und Leiter des Welt-Werte-Meinungsforschungsinstituts.         

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© Jacek Zakowski, Polak, czyli kto?, aus: “Polityka” Nr. 25 (2457), 19. Juni 2004; S. 3-10; Übersetzung: Renate Weiß, Berlin; wir danken der Redaktion von Polityka für das einmalige Abdruckrecht in eigener Übersetzung

 

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