Kommentar
Ein halber Schritt des
Kanzlers
„Wir Deutsche wissen sehr gut, wer diesen Krieg entfesselt
hat und wer seine ersten Opfer waren. (...) Weder die Bundesregierung noch
irgendeine ernstzunehmende politische Kraft in Deutschland unterstützt individuelle
Ansprüche“, erklärte Bundeskanzler Schröder während der Feierlichkeiten zum 60.
Jahrestag des Warschauer Aufstandes. Und – was wichtig und neu ist – er fügte
hinzu, dass „diesen Standpunkt die Bundesregierung
auch vor internationalen Gerichten vertreten wird“.
Ansprüche gegen Polen stellt in
Deutschland eine kleine Gruppe und das ohne politischen Rückhalt. Wenn es ihr
allerdings gelingen würde, ein Präzedenzurteil zu erreichen, wird es
unwesentlich sein, wie viele Personen Klage erhoben. Der Kanzler ist sich
endlich der Tatsache bewusst, dass
der Sturm, der dann beginnen, sich auch gegen ihn richten würde – die
Bundesrepublik würde (wortwörtlich) für das Spiel bezahlen müssen, das sie
gegenüber Polen und eigenen Bürgern, die hinter die Oder Vertriebenen, seit
Jahren spielt.
Ein einziges derartiges Urteil würde Polen zur Erhebung von
Reparationsforderungen gegenüber Deutschland für die Kriegszerstörungen zwingen.
Das würden unvorstellbare Summen sein. Die Regierung der BRD ging von der (unausgesprochenen)
Grundlage aus, dass die Übernahme deutschen Landes
durch Polen als Reparation zu betrachten sei. Gleichzeitig betonte sie jedoch, dass die Frage privater Forderungen von Deutschen gegenüber
Polen offen sei, und die Regierung nicht im Namen der Bürger verzichten könne: Die
Vertriebenen könnten dann Wiedergutmachung von Deutschland fordern. Der
Standpunkt der BRD-Regierung war bisher doppelt unredlich: gegenüber Polen und
gegenüber den deutschen Vertriebenen. Letztlich war es so, dass
sie nach 1945 für die Verluste zahlten, die der deutsche Staat Polen zufügte.
Die heutige Situation hat sich für Polen dadurch
verschlechtert, dass es durch ein Urteil des Straßburger
Gerichtshofes seinen eigenen Vertriebenen (den ehemaligen polnischen Bewohnern
jenseits des Bug; heute Ukraine bzw. Weißrussland – d.
Übers.) Entschädigungen zahlen muss. Ebenso könnte
Polen zu Zahlungen an Deutsche gezwungen werden. Diese aus historischem,
moralischem und politischem Gesichtspunkt absurde Situation ergibt sich daraus,
dass das in den Jahren 1945 bis 1989 nichtsouveräne
Polen durch die UdSSR zum Abschluss von Verträgen
gezwungen wurde, kraft derer auf Warschau die Gesamtlast des finanziellen
Ausgleichs für die vertriebenen Polen fiel. Danach dann zwangen die Sowjets die
Regierung der VRP (Volksrepublik Polen – d. Übers.), auf Reparationen zu
verzichten, die Polen aus der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR hätte
ziehen können. Polen kann materiell weder die eigenen Vertriebenen noch die
deutschen Vertriebenen entschädigen.
Der Kanzler hat endlich aufgehört, den Kopf in den Sand zu
stecken. Aber er tat nur einen halben Schritt: Eine Übernahme eventueller Ansprüche
ihrer Bürger durch die deutsche Regierung hätte die Angelegenheit jetzt endgültig
erledigt.
Wojciech Pięciak
(Pół kroku
kanclerza, Tygodnik Powszechny Nr. 32 vom 8. August 2004)
Rede von Bundeskanzler Schröder
zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes
(...) Wir verneigen uns heute vor dem Opfermut und dem Stolz
der Männer und Frauen der polnischen Heimatarmee. 63 Tage lang haben die Bürgerinnen
und Bürger von Warschau den deutschen Besatzern heroisch und todesmutig
Widerstand geleistet. Sie kämpften für die Freiheit und für die Würde Polens. Ihr
Patriotismus steht als ein leuchtendes Beispiel in der großen Geschichte der
polnischen Nation.
Wir beugen uns heute in Scham angesichts der Verbrechen der
Nazi-Truppen. Sie haben 1939 Polen überfallen. Sie legten nach dem Aufstand 1944
das alte Warschau in Schutt und Asche. Unzählige polnische Frauen und Männer
und ihre Kinder wurden ermordet oder in Lager und Zwangsarbeit verschleppt. An
diesem Ort des polnischen Stolzes und der deutschen Schande hoffen wir auf Versöhnung
und Frieden.
Dass ich heute als Bundeskanzler
eines anderen, freien und demokratischen Deutschlands dieser Hoffnung hier
Ausdruck geben darf, ist all den Menschen zu danken, die sich wie die Aufständischen
von Warschau der Nazi-Barbarei widersetzt haben. (...)
In Deutschland fanden wir auf der Suche nach Verstehen,
Vergebung und Versöhnung lange nicht die Kraft dazu. So wurden die Warschauer
Aufständischen, die schon 1944 ohne Hilfe blieben, auch im Erinnern lange Zeit
im Stich gelassen. (...)
Meine Damen und Herren, niemand kann Geschichte ungeschehen
machen. Doch gerade heute in einem freien Europa, dem Polen und Deutschland als
gleichberechtigte Partner angehören, darf Geschichte nicht um- oder
fehlgedeutet werden. Solchen Versuchen gilt es auch weiterhin entschieden
entgegen zu treten.
Während des Zweiten Weltkrieges verloren
über sechs Millionen polnische Staatsbürger ihr Leben. Millionen Menschen
verschiedener Nationalitäten - darunter auch mehr als zwei Millionen Polen - wurden
während und nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben. Die
Erinnerung an ihr schweres Leid darf uns nicht aufs Neue trennen, sondern soll
uns verbinden. Um unsere gemeinsame Zukunft zu sichern, bedarf es eines guten
Gedächtnisses. Nie wieder dürfen wir es zu solch schlimmen Unrecht kommen
lassen. Dieser Auftrag eint die Völker Europas.
Wir Deutschen wissen sehr wohl, wer den Krieg angefangen hat
und wer seine ersten Opfer waren. Deshalb darf es heute keinen Raum mehr für
Restitutionsansprüche aus Deutschland geben, die die Geschichte auf den Kopf
stellen. Die mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängenden Vermögensfragen sind für
beide Regierungen kein Thema mehr in den deutsch-polnischen Beziehungen. Weder
die Bundesregierung noch andere ernst zu nehmende politische Kräfte in
Deutschland unterstützen individuelle Forderungen, soweit sie dennoch geltend
gemacht werden. Diese Position wird die Bundesregierung auch vor allen
internationalen Gerichten vertreten.
Die Bundesregierung wendet sich auch gegen Pläne, in Berlin
ein nationales “Zentrum gegen Vertreibung” zu errichten. Wir unterstützen die
Bemühungen für ein europäisches Netzwerk, wie der polnische Staatspräsident und
der deutsche Bundespräsident es vorgeschlagen haben. (...) m
(aus einer Mitteilung des Bundespresseamtes)