»Es nimmt einem den Atem – endlich frei!«

Vor 60 Jahren versuchten polnische Patrioten, Warschau aus eigener Kraft zu befreien

Von Gerd Kaiser

 

Burza, der »Sturm« – so der Tarnname des Warschauer Aufstands – bricht am 1. August 1944 los. Der ihn auslösende Tagesbefehl an die »Soldaten der Hauptstadt« ist unterzeichnet von »Bór« (Wald). Das ist der nome de guerre des Befehlshabers der Armia Krajowa (AK), der polnischen Landesarmee, General Tadeusz Komorowskis: »Ich habe heute den von Euch sehnlichst erwarteten Befehl gegeben, den offenen Kampf mit den ewigen Feinden Polens, den deutschen Eindringlingen, aufzunehmen... Nach nahezu fünf Jahren harter Kämpfe, tretet ihr heute an, um dem Vaterland die Freiheit wiederzugeben Komorowskis schwangere Frau verbleibt in der Stadt. Der Befehlshaber will seinen Angehörigen keine Vorrechte zukommen lassen. Es ist nicht gewiss, was die nächsten Tage und Wochen den Warschauern bringen werden. 

 

Seit November 1943 hatten »Bór« und die Offiziere seines Stabs auf diesen Tag hingearbeitet, die Operation detailliert vorbereitet.

Entschlossen, trotz Zweifel

Seit November 1943 hatten "Bór" und die Offiziere seines Stabs auf diesen Tag hingearbeitet, die Operation detailliert vorbereitet. Ungeachtet eigener Zweifel am Gelingen.  Noch am 14. Juli 1944 hat er seiner Regierung, dem polnischen Exilkabinett in London, seine Ansicht mitgeteilt, dass ein Aufstand in Warschau »keine Aussicht auf Erfolg« habe. Selbst bei bester Ausstattung mit Waffen und Unterstützung von außen, sei mit großen Verlusten zu rechnen. Dies befürchtet auch der Chef der Landesarmee im Militärbezirk Warschau, Oberst Antoni ChruścielMonter«, Monteur). Und doch lässt er seine Zweifel nicht offenbar werden. 63 Tage lang befehligt er tapfer die Aufständischen aus seinem Gefechtsstand in der Jasna-Straße in Warschaus Zentrum. Der Aufstand soll ein Signal sein.

Er erhält einzig von der Zivilbevölkerung Unterstützung. Leszek Pogonski von der Aufständischen-Zeitung »Demokrat« berichtet: »Die Bevölkerung reagierte auf den Beginn des Kampfes enthusiastisch. Die ersten Tage gab es zahlreiche Zeugnisse der Liebe und Fürsorge für die Aufständischen. Sie wurden mit Blumen überhäuft, in zahlreichen Hauseingängen waren Tische aufgestellt, darauf standen Essen und Zigaretten. Die Bevölkerung engagierte sich stark bei der Einrichtung von Hilfslazaretten und der Medikamentensammlung, beim Barrikadenbau und beim Luftschutz

Doch ein solcher Aufstand hätte, um Erfolg zu haben, auch einer politischen und militärischen Koordinierung mit den Alliierten in Ost und West bedurft. Insbesondere mit den bereits im strategischen Vorfeld Warschaus operierenden Streitkräften der Roten Armee. Letztere hatte nichts vom bevorstehenden Unternehmen erfahren. Auch die britische Seite war nur teilweise und kurz zuvor (25. und 28. Juli) in Kenntnis gesetzt worden. Das wird in heutigen Darstellungen verschwiegen, statt dessen wahrheitswidrig behauptet, die Rote Armee habe den Aufstand verbluten lassen.

Zu Beginn stehen annähernd 25.000 Aufständische bereit, ihre Zahl verdoppelt sich schnell auf 50.000 Männer und Frauen, die jedoch schlecht ausgerüstet sind. Sie verfügen lediglich über 38 schwere Maschinengewehre, 130 leichte MG, 600 Maschinenpistolen und vier Granatwerfer; für jede MPi sind nur 100 Schuss vorhanden. Zwar können die Aufständischen in den ersten Tagen einige deutsche Waffen erobern, sogar einen Panzer vom Typ »Panther«, doch die Crux unzureichender Ausrüstung bleibt.

Dem von der Landesarmee organisierten und geführten Aufstand schließen sich auch Einheiten – etwa 1.800 Kämpfer – der Armia Ludowa (AL), der im polnischen Untergrund operierenden Volksarmee, an. Zwischen AK und AL wird ein punktuelles Zusammenwirken verabredet, den Kommandeuren der Landesarmee jedoch zugleich aus London strenge Zurückhaltung gegenüber der kommunistisch-dominierten Volksarmee befohlen. Ähnlich gespannt ist das Verhältnis zu den wenigen Überlebenden der Jüdischen Kampforganisation (ZOB), die im Jahr zuvor den Warschauer Ghetto-Aufstand gewagt hatten und sich jetzt, wie etwa die Gruppen um Marek Edelmann und Icchak Cukierman, selbstlos an der neuen Erhebung beteiligen.

Menschliche Deutsche?

Die erste, die offensive Phase des Aufstands – bis 4. August – lässt Hoffnungen keimen. Der 22-jährige AK-Offizier W³adys³aw Bartoszewski notiert in sein Tagebuch: »Es nimmt einem den Atem, dass man endlich frei ist Doch die Verluste der Aufständischen sind von Anfang an hoch. Die ihnen gegenüberstehenden Einheiten, anfangs 16.000 Wehrmachtsangehörige der Warschauer Garnison und 9. Armee, werden alsbald durch 20.000 Mann verstärkt, darunter Angehörige der SS-Brigaden unter Bronislaw Kaminski und Otto Dirlewanger sowie aus Deserteuren rekrutierte aserbaidschanische und Kosaken-Regimenter. Hinzu kommen deutsche Polizeiregimenter. Ununterbrochen klinkt die deutsche Luftwaffe todbringende Last über Warschau aus.

Die zusammengewürfelte Soldateska steht unter dem Befehl von SS-Obergruppenführer und General der Polizei Erich von dem Bach-Zelewski. Am 17. September 1944 ruft er den Kommandanten der Aufständischen im Stadtteil Zoliborz zur Kapitulation auf und versichert »Menschlichkeit« gegenüber den Gefangenen. Die Antwort von »Zubr« (Wisent): »Die so genannte deutsche Menschlichkeit kennen wir Polen seit mehreren Jahren... Wir hören die Schreie der von den ›menschlichen‹ Deutschen gemordeten polnischen Bevölkerung, wir sehen die riesigen Brände ganzer Straßen, verursacht von eben jenen ›menschlichen‹ Deutschen...«

Die 1. Belorussische Front der Roten Armee hat im Zuge der verlustreichen Sommeroffensive Mitte Juli 1944 das weite Vorfeld Warschaus erreicht. Ihre 2. Panzerarmee muss jedoch am 30. Juli zur Verteidigung übergehen, wird eingeschlossen und in schweren Kämpfen größtenteils aufgerieben. Dennoch legen die Marschälle Konstanty Rokossowski und Georgi Shukow am 8. August – nachdem der Frontalangriff auf die polnische Hauptstadt gescheitert war – Stalin einen Operationsplan vor, der die Einnahme Warschaus durch eine Zangenoperation vorsieht. Dieser bestätigt das Unternehmen nicht. Die Gründe dürften politische sein. Mikołajczyk, nach dem Tod Sikorskis Premier der Exilregierung, wirft dem »Generalissimus« vor, die Offensive bewusst zu stoppen. Worauf Stalin den Aufstand das »Abenteuer einer Verbrechergruppe« nennt, deren Ziel es sei, »die Macht zu ergreifen«. Es geht in der Tat um Macht – auch für Stalin.

Erst am 14. September gelingt es sowjetischen und polnischen Verbänden der 1. Belorussischen Front unter Rokossowski den auf dem Ostufer der Weichsel liegenden Stadtteil Praga zu befreien. Die polnische 1. Infanteriedivision »Tadeusz Kościuszko« zählt 1.792 Gefallene, die Rote Armee mehr als 6.000. Die im Verband dieser Front kämpfenden polnischen Soldaten der 1. Polnischen Armee unter General Zygmunt Berling brennen darauf, den stark bedrängten Aufständischen zur Hilfe zu eilen. Auf das Westufer der Weichsel übergesetzt, verlieren die 2. und die 3. Division der 1. Polnischen Armee 4.000 Mann. Die regulären Truppen können den Aufständischen Feuerschutz geben, jedoch keine operative Wende herbeiführen.

Ab 13. September fliegen sowjetische Luftstreitkräfte systematische Angriffe gegen die deutschen Truppen in Warschau und werfen aus niedriger Höhe auch Waffen für die Aufständischen ab, ab 18. September – im Rahmen der mit Moskau vereinbarten Operation »Frantic« – auch die westlichen Alliierten. Doch nur ein geringer Teil der über dem Stadtgebiet abgeworfenen Waffen gelangt in die Hand der Aufständischen (lediglich 44 von 149 Abwürfen der Westalliierten.

Die Rache der Okkupanten

Als Hitler und Himmler vom Aufstand erfahren, befehlen sie sogleich dessen blutige Niederwerfung und die Auslöschung Warschaus. Während der Kämpfe sterben an die 20.000 Aufständische. Die Zivilbevölkerung hat nahezu 200.000 Tote zu beklagen. Allein im Stadtteil Wola werden 30.000 Zivilisten von den deutschen Besatzern erschossen. Warschauer Bürger und Bürgerinnen dienen als lebende Schutzschilde für die Panzer der Division »Hermann Göring«. Am 14. August befiehlt Heinz Guderian, Generalstabschef des Heeres, die restlose Zerstörung der Stadt. Hauptmann Wilhelm Hosenfeld – jener Wehrmachtsoffizier, der dem polnischen jüdischen Pianisten Szpilmann helfen wird, zu überleben und dem Jahrzehnte später Roman Polanski mit einem Film ein Denkmal setzen wird – notiert in seinem Tagebuch: »Warschau soll dem Erdboden gleichgemacht werden... Alle Straßenzüge werden durch Feuer zerstört Ein anderer Wehrmachtsoffizier notierte: »Lkw-weise wurden noch Waren, Möbel, Lebensmittel usw. herausgeholt...«

Erhobenen Hauptes

Komorowskis Befehl vom 2. Oktober 1944, die Waffen zu strecken, ist ebenso knapp, wie sein Befehl zu Aufstandsbeginn war: »Weitere Kämpfe in Warschau haben keine Aussicht auf Erfolg mehr... Ich danke allen Soldaten für ihre Arbeit, Mühe und Brüderlichkeit Gemeinsam mit seinen Kämpfern marschiert er selbstbewusst in die Gefangenschaft. In den Erinnerungen eines Zeitzeugen liest man: »Wir verließen Warschau... erhobenen Hauptes, in vorgeschriebenem Tempo, in Viererreihen. Wir kamen an einer Gruppe deutscher Offiziere vorbei, die sich interessiert diese Aufständischen-Armee ansahen, die sie 63 Tag lang nicht hatten in die Knie zwingen können... Ich hörte, wie einer von ihnen laut sagte: ›Stolze Polen‹

Die weitgehend entvölkerte Stadt wird systematisch dem Erdboden gleichgemacht. Als Warschau am 17. Januar 1945 befreit wird, gleicht es einem Trümmerhaufen.

Der Epilog beinhaltet noch eine weitere Tragik. General Leopold Okulicki, Komorowskis Nachfolger als Chef der Landesarmee, gerät in sowjetische Haft, in der er 1946 verstirbt. In seinen – erst jüngst aufgefundenen – Haftnotizen begründet er, dass man die Rote Armee in einem aus eigener Kraft befreiten Warschau als Hausherr habe begrüßen wollen, um damit Verhandlungen zwischen der Exilregierung und Moskau auf gleicher Augenhöhe zu ermöglichen – und nebenbei die polnische Linke auszumanövrieren.                       

(Der Artikel erschien das erste Mal im ND vom 31.07.04. Wir danken dem Autoren für das Nachdrucksrecht. Zitate in den von der Redaktion eingefügten Kästen aus: Jan Ciechanowski, Zryw przed burzą (Polityka Nr. 31 v. 31.7.2004, S. 60-64; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum)

 

“Die Regierung des polnischen Untergrundstaates hatte keinen eigenen Aufstand in Warschau vorgesehen. Kämpfe dort sollten nur im Rahmen eines allgemeinen Aufstandes im gesamten Land stattfinden (dieser Plan trug den Decknamen „Sturm“), der im Moment des Zusammenbruchs des III. Reiches ausbrechen sollte.”

 

“Im „März 1944 schloss General Bór-Komorowski die Hauptstadt aus dem Plan “Sturm“ aus, um Zerstörungen zu vermeiden und der Zivilbevölkerung Leiden zu ersparen. Von diesem Moment an wurden die Waffen, die man durch die britischen Abwürfe erhalten oder im Land illegal produziert hatte, hauptsächlich in die Gebiete östlich der Weichsel verlagert, wo die Hauptaktionen der Aktion „Sturm“ stattfinden sollten.”

 

“Wie später General Bór formulierte, „könne man nur durch Kampf den Willen eines Volkes nach Freiheit und Unabhängigkeit zeigen. Es ging um den Kampf um die Hauptstadt, die die Gesamtheit und die Zukunft repräsentierte: durch die Einnahme Warschaus vor ihrer Einnahme durch die Russen musste sich Rußland zu einem „entweder–oder“ entscheiden: entweder uns anerkennen, oder uns mit Gewalt vor den Augen der Welt vernichten.“”

 

“Die Führer im Land, die Warschau in den Kampf rissen, ließen sich hauptsächlich von Gründen politischer, ideologischer und militärischer Natur leiten. Sie meinten, dass die Beherrschung Warschaus durch die AK [Armia Krajowa-Landesarmee] das Recht der Londoner Regierung in den Augen der westlichen Alliierten sowie der Weltöffentlichkeit auf die Übernahme und Vertretung der Macht in Polen stärkt und der Welt bewusst macht, wer im Nachkriegspolen regieren muss: die rechtmäßige Regierung der Republik und nicht die von Stalin unterstützten Kommunisten.”

 

„Der Warschauer Aufstand war demnach militärisch gegen die Deutschen, aber politisch gegen die Sowjetunion gerichtet.“

 

“Man muss zugeben, dass sie [die Briten – d. Übers.] niemals Unterstützung für einen bewaffneten Aufstand versprochen hatten. Der gerade aus London am 30. Juli angekommene Hauptmann Jan Nowak-Jeziorański, Gesandter der AK, informierte die Landesführung, dass Warschau nicht mit bedeutenden Waffenabwürfen und der Sendung einer Fallschirmspringerbrigade aus England rechnen könne sowie dass „die Wirkung des Aufstandes und sein Einfluß auf die Regierungen und öffentlichen Meinungen der Verbündetetn wie ein ‚Sturm im Wasserglas sein’“ wird”.

 

“General Władysław Anders bezeichnete die Entscheidung der AK-Leitung als „unglücklich“. Die Ausrufung des Aufstandes in der Hauptstadt befand er „nicht nur als Dummheit, sondern als schweres Verbrechen“.”