Als Goliath ausgetrickst wurde

Die Erinnerungen der Meldegängerin Krystyna Niedzielska

 

Sie war 17 und dabei: Krystyna Niedzielska. Ihre Mutter war Lehrerin. Ihr Vater, ebenfalls Pädagoge, war 1939, als Reserveoffizier eingezogen, in sowjetische Gefangenschaft geraten und 1940 mit 4.000 anderen polnischen Militärs von Stalins Henkern in Katyn erschossen worden. Die Journalistin arbeitete 1977 bis 1983 in Berlin als Chefredakteurin der Zeitschrift der Internationalen Frauenföderation (IdFF), »Frauen der ganzen Welt«.

 

Gerd Kaiser: Welche Erinnerung haben Sie an den Beginn des Aufstandes?

Niedzielska: Ich war in der AK, der Landesarmee. Am 1. August traf ich mich mit drei anderen Mädchen in einer Warschauer Wohnung. Das war unser Sammelpunkt.

Wie kamen Sie ins Kampfgebiet?

Nachts kam ein Melder und führte uns in einen Stadtteil, der bereits in unserer Hand war. Auf dem Weg dorthin mussten wir durch vom Mond erhellte Straßen, die bereits unter deutschem Beschuss lagen. Wir schlichen durch Gärten, immer auf der Hut vor deutschen Horchposten. Noch heute gellt mir das laute Knirschen der Kohlblätter in den Ohren, wenn man unversehens auf eine Pflanze trat. Schließlich waren wir bei den Unsrigen. Zumeist auch Jugendliche. Sie trugen selbst gefertigte Uniformen, manche Pfadfinderuniformen. Alle hatten die weiß-roten Armbinden der AK um.

Und ihr Kampfauftrag?

Wir bezogen eine Stellung im Zentrum, in der Wspólna-Straße. Unweit von uns befand sich das Hochhaus der Post. Von dort schossen die Deutschen auf uns. Und gegen unsere Barrikaden schickten sie eine ihrer neuesten Waffen, den unbemannten Minipanzer »Goliath«. Der war ferngesteuert und beförderte eine Sprengstoffladung, die gezündet wurde, sobald er unsere Stellungen erreicht hatte. Aber wir fanden Mittel, die Hightech unschädlich zu machen, durch Funkstörung. Mehrmals versuchten wir vergeblich die Post zu stürmen. Ich verband zig Verwundete.

Waren Sie Sanitäterin?

Nein, es war das erste Mal, dass ich so etwas machte. Meine Freundinnen und ich waren Meldegängerinnen. Die eigens angelegten und streckenweise auch abgedeckten Laufgräben boten zwar einen gewissen Schutz, aber irgendwann musste man diese verlassen – und geriet ins Feuer der Deutschen.

Sie haben bis zum bitteren Ende mitgekämpft. Wie ging’s weiter?

Nach der Kapitulation suchte ich meine Mutter und verließ mit ihr gemeinsam das brennende Warschau. Wir nahmen den Weg, den W³adys³aw Szpilman, der »Pianist«, in seinen Erinnerungen beschreibt.

Gerieten Sie in Gefangenschaft?

Ja. Und meiner Mutter Hoffnung, man möge uns nicht trennen, zerschlug sich bald. Wir kamen nach Pruszków, einem Durchgangslager. Dort entschieden Wehrmachtsoffiziere über unser weiteres Schicksal. »Nach rechts hieß es für die Jungen, »Nach links!« für Alte und Kranke. Ich wurde in einen Viehwaggon verladen und kam nach zwei Tagen im Lager Lamsdorf in Schlesien an. Dort wurden wir zur Zwangsarbeit eingeteilt. Mein erster Dienstherr war sehr unzufrieden mit mir. Aber woher sollte ich Stadtkind die bäuerliche Arbeit kennen? Er überstellte mich dem Arbeitsamt zurück. Mein neuer Chef im schlesischen Giersdorf war ein anständiger Mensch. Als die Front sich näherte, musste er sich einem Flüchtlingstreck anschließen. Uns »Fremdarbeiter« jagte man ins tschechische Großkunzendorf, wo ich am 8. Mai 1945 von sowjetischen Soldaten befreit wurde. Im zerstörten Warschau traf ich dann auch meine Mutter wieder.

(aus: Neues Deutschland vom 31.07.04)

 

Streit über den „Aufstand“ im “Tygodnik Powszechny” 1945-1994

Innere Zerrissenheit

Von Andzrj Brzeziecki

 

(...) In einem Text der Redaktion lesen wir anlässlich des ersten Jahrestages: „Die Redlichkeit zwingt einen, zwei Seiten des Aufstandes zu unterscheiden: eine politische und eine militärische. Wir kennen die gesamten politischen Zusammenhänge des Aufstandes nicht. (..) Deshalb müssen wir ein politisches Urteil einstweilen unterlassen. Anders sieht es bezüglich des Warschauer Aufstandes als bewaffnete Aktion der Bevölkerung der Hauptstadt aus. (...) Das war ein nach vorn gerichteter Aufschrei eines bis an den Rand des Todes gequälten Volkes: Ich lebe und ich will leben. (...) Das sagte Warschau 1944 der Welt. Hier liegt das moralisch Wertvolle. Und deshalb ehren wir ihn.“ (TP Nr. 19/1945).


Zwei Wochen später schreibt Wojciech Kętrzyński, dass die Vorstellung die politischen Entscheidungsträger von der kämpfenden Stadt trennen zu können, eine Vereinfachung sei: [...] Das Warschauer Volk war sich der Tatsache bewusst, dass sich der Kampf des gesamten Volkes in der Hauptstadt fokussiert. (...) Das Volk opferte die Hauptstadt, weil es meinte, dass das für die Verteidigung der Ehre und der Souveränität Polens notwendig sei. Der Aufstand der Hauptstadt war also eine Notwendigkeit.[...]“, schrieb Kêtrzyñski (Nr. 21/1945)

(...) Im Artikel „Nationale Abrechnung“ (Nr. 24/1945) antwortete Kętrzyński Stefan Kisielewski. Die Redaktion, sich des kontroversen Charakters des Artikels bewusst und selbst stark gespalten, versah den Aufsatz Kisielewskis mit der Zeile: “Diskussionsbeitrag“. Und tatsächlich entfachte er einen riesigen Sturm.

Kisiel warf Kętrzyński Einseitigkeit vor: nach Meinung von Kisielewski war die Bevölkerung davon überzeugt, dass „der Kampf kurz andauern und erfolgreich sein würde“. Wäre es anders gewesen, dann hätten sich 90% gegen den Beginn des Aufstandes ausgesprochen. Diese 10% hätte die Jugend gestellt. Denn die Tragödie des Warschauer Aufstandes war vor allem eine Tragödie der Warschauer Jugend“. Nach Meinung Kisielewskis lebte die während der Besatzung erzogene Jugend nur mit dem Gedanken nach Kampf, der für sie letztlich zur „psychologischen Notwendigkeit“ wurde. Beherrscht von diesem Gedanken opferte die Warschauer Jugend auf dem Altar dieses Kampfes die polnische Kultur, „deren Denkmäler die Warschauer Gebäude, Kirchen und Bibliotheken waren“. Im Namen eines falsch verstandenen Ehrgefühls verspielten sie nahezu den höchsten Wert: die Existenz der Nation. „Der Warschauer Aufstand wie auch einige unserer vorherigen Aufstände war also nicht Ausdruck einer reifen Männlichkeit: er war eine Tat der Ungeduld und jugendlicher Maßlosigkeit. Und deshalb war er für das grundlegende Axiom, das Patriotismus ausmacht, schädlich: die Existenz der Nation als höchstem Wert“. (...)

Kisiel polemisierte auch mit der Ansicht, dass das Losschlagen der Aufständischen eine politische Demonstration war und den Willen nach Unabhängigkeit unterstreichen sollte. Wenn das eine Demonstration sein sollte, hätte sie nur drei Tage dauern dürfen (...) Ein 63 Tage dauernder hoffnungsloser Kampf hatte politisch keinen Sinn und sein Preis war viel zu hoch.“   (....) 

 

[aus: Tygodnik Powszechny vom 1.8.2004; Einfügungen in eckigen Klammern von der Redaktion, Übersetzung: Wulf Schade, Bochum]