SWIAT - Polnische
Kinder fotografieren ihre Welt
Erste Schritte
zu einer besseren Zukunft
Polnische Intellektuelle haben einen „Verein zur Entwicklung der
Gemeinde Krzywa“ initiiert. Er ermöglicht, dass den Kindern und Jugendlichen in der Grundschule nun täglich
Freizeit- und Bildungsangebote gemacht werden: PC-Kurse, Englisch-Unterricht,
Tanzunterricht, Künstlerische Gestaltung. Die Schule ist das einzige derartige
Jugendprojekt in dieser Region. Besonders erfolgreich ist ein unter Leitung des
polnischen Fotografen Piotr Janowski („Gazeta Wyborcza“) durchgeführtes
Fotoprojekt, in dessen Verlauf die Jugendlichen ihre eigene Welt und
Lebenswirklichkeit fotografierten. Der Verein MitOst
e.V. hat die jugendlichen Fotografen und ihre gefeierte Ausstellung nun erstmals
nach Deutschland geholt. Vom 5.-28. Mai 2004 war sie in der Berliner
Kulturbrauerei zu sehen. Verbunden damit war ein gemeinsames deutsch-polnisches
„Foto-Shooting“, in dessen Verlauf die Kinder aus Krzywa und Jasionka gemeinsam mit
deutschen Jugendlichen ein ganz eigenes, unverwechselbares Porträt von Berlin
zeichneten. Entstanden ist eine neue Ausstellung, die von Berlin aus ihren Weg
nach Polen und in weitere europäische Städte antreten wird. Erstmals zu sehen
war sie vom 7. Mai bis 5. Juni 2004 in der Alten Feuerwache im Zentrum Berlins.
Im Rahmen der Ausstellung fanden Lesungen und Diskussionsabende mit bedeutenden
polnische Autoren statt. Das Projekt wurde in
Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung des Bundes, dem „Verein zur Entwicklung
der Gemeinde Krzywa“ (Polen), dem Deutsch-Polnischen
Jugendwerk sowie den Berliner Vereinen „Projektraum Feuerwache“ und „Das Haus“ realisiert.
Als Medienpartner konnten die Veranstalter die polnische Gazeta
Wyborcza sowie das Radio MultiKulti
aus Berlin gewinnen. Beide Ausstellungen wie auch die Leseabende mit den
polnischen Autoren fanden ein reges Interesse des Berliner Publikums und der
Medien.
Die Zukunft
ist nur eine Angst in diesem Augenblick
Von Mirko Schwanitz
Krzywa und Jasionka, das sind ein paar Häuser, wie
mit loser Hand in ein Tal gestreut. Ein paar Ställe, die, krumm und schief, die
Last ihrer Dächer kaum mehr tragen. Eine Straße schlägt Haken und Bögen, als
wolle sie sich anpassen an den torkelnden Gang der Männer nach durchzechter
Nacht. Die beiden Dörfer liegen in Polen, nah der Grenze zur Slowakei und
Ukraine, irgendwo dort, wo die Europäische Union bald ihr Ende haben wird. Neben
einem Holzkirchlein steht verträumt die Grundschule. Zwei Erstklässler
links vorm Lehrertisch, zehn Drittklässler rechts
davon. Im Nachbarraum fünf Vorschulkinder. Ein Lehrer, der auch Direktor ist,
eine Erzieherin, die sich um die Jüngsten kümmert. Wenn die älteren
Jugendlichen aus der 17 Kilometer entfernten Sammelschule kommen, treffen sie
sich an der Bushaltestelle. Wenn der Mond aufgeht, haben viele Kinder hier
nicht mal ein eigenes Bett.
Krzywa und Jasionka liegen in Polens Post-LPG-Gebieten, in denen nach der Wende fast alles zusammen gebrochen ist. Die Arbeitslosigkeit beträgt 98 Prozent. In diesem Tal hat der bekannte polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk einige seiner bekanntesten Bücher geschrieben („Die Welt hinter Dukla“, „Galizische Geschichten“, „Der weiße Rabe“), in diesem Tal hat er mit Freunden einen Verein gegründet, der den Kindern mit vielfältigen kleinen Projekten eine Zukunft eröffnen will. Im Ergebnis eines Projektes entstand eine ungewöhnliche Fotoausstellung, die inzwischen in Warschau, Krakau, Wien und Goeteborg Besucher in Scharen anzog. Unter Betreuung von Piotr Janowski, dem preisgekrönten Fotografen der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, entstanden 3500 Fotos, von denen die schönsten nun auch in Berlin zu sehen waren. Sie zeigen, wie Kinder am Rande der erweiterten Europäischen Union leben und wie sie selbst diesen Rand sehen. Es sind Bilder voller Intimität, Zärtlichkeit und Poesie. Zugleich zeigen sie ohne jede Verklärung, dass Polen immer noch ein gespaltenes Land ist und dass die Bilder der feiernden Massen auf Warschaus Straßen nach dem Referendum zum Beitritt zur Europäischen Union nichts gemein haben mit jenem Bild, das die Kinder von Krzywa und Jasionka von ihrer Zukunft haben. Wer genau hinsieht, meint Andrzej Stasiuk, könne sehen, dass die Zukunft für die Menschen dort im Moment nur eine Angst ist. In den Tälern der Beskiden, wo noch heute nachts die Wölfe heulen, waren Veränderungen stets spürbarer als andern Orts, weil sie immer von außen kamen. In Krzywa und Jasionka - und nicht nur hier - wurden die zivilisatorischen, kulturellen und politischen Veränderungen daher stets als Invasion wahrgenommen. Sie kamen von außen und befahlen den Menschen von einem bestimmten Moment an, anders zu leben. Nie hatten sie darum gebeten, es nie darauf abgesehen. Und eben deshalb erzählen die Fotos dem aufmerksamen Betrachter nicht nur Geschichten. Sie erzählen auch von Geschichte. Die nämlich ließ den Menschen in diesem Teil der nun gewachsenen Europäischen Union nie die Zeit, ein Gefühl für ihr eigenes Schicksal zu entwickeln. Auf den Fotos geht es auch um die Identität von Menschen, die immer an den Peripherien gelebt haben. Dort also, wo die von verschiedenen Zentren ausgehenden konzentrischen Kreise von Machtinteressen sich schnitten und schließlich im Desinteresse für die in Besitz genommenen Gebiete ihr Ende fanden. In diesem Teil Europas bedeutete Reisen immer etwas Schlechtes, weil es entweder eine Reise nach Brot war, oder Flucht vor Armut, Krieg und Deportation bedeutete. Hier war der Wechsel des Ortes immer gleichbedeutend mit einem Fluch, niemand reiste hier aus Vergnügen, um Geschäfte zu machen oder neue Länder zu entdecken. Und so erzählen die Bilder der Kinder von Krzywa und Jasionka auch von der mentalen Obdachlosigkeit jener Menschen, die pausenlos auf irgendeine Art und Weise enterbt wurden. Sei es durch Eroberungskriege, die über dieses Gebiete hinweg wogten, sei es durch den Wechsel von Staatszugehörigkeit und politischem System. Immer wenn die Menschen hier glaubten, Grund unter den Füßen zu bekommen, begann er wegzurutschen wie Schwemmsand. Veränderungen erwuchsen hier nie aus der Idee von Selbstverwaltung oder Selbstbestimmung. Die Krieger und Politiker von früher haben die Menschen nie gefragt und die Reformer von heute haben sie einfach vergessen. Deshalb können die Bilder der Kinder von Krzywa und Jasionka beim Betrachter auch zum Verständnis beitragen. Zum Verständnis, warum 42 Prozent der Polen beim Referendum nicht für die Union gestimmt haben. Zum Verständnis aber auch, warum Projekte wie dieses so wichtig sind. Es sind solche Projekte, die, wie diese Ausstellung zeigt, den Jugendlichen ermöglichen, mit dem restlichen Europa in einen Dialog zu treten. Weil sie so spüren, dass sie nicht in unserem Desinteresse verschwinden, sondern dass sie mit ihren Fotos bereits Anschluss an jene Welt gefunden haben, die hinter den Kämmen der Beskiden auf sie wartet.
„Die Fotos
haben die Welt der Kinder größer gemacht“
Interview von
Mirko Schwanitz mit dem Fotografen
Piotr Janowski von Gazeta Wyborcza
Mirko Schwanitz: Wie kam es zum
Ausstellungsprojekt „SWIAT - Polnische Kinder fotografieren ihre Welt“?
Piotr Janowski: Als mich Andrzej Stasiuk fragte, ob ich nicht einmal was mit den Kindern
machten könnte, fragte ich: Was könne ich schon machen? Das einzige, was ich
kann, ist fotografieren. Eben, sagte er, und das war der Anfang des
Fotoprojektes ‚SWIAT - Polnische Kinder fotografieren ihre Welt’. Das daraus
einmal eine Ausstellung entstehen würde und ein Fotobildband, konnte damals
keiner ahnen.
Was war
das Besondere an diesem Projekt?
Kinder etwas
fotografieren zu lassen, ist nicht neu. Solche Projekte hat es dutzendfach
gegeben. Der Unterschied ist vielleicht, dass diese
Kinder hier, inmitten von Europa und im 21. Jahrhundert, in dem ein Fotoapparat
zur Grundausstattung eines Haushaltes gehört, bisher keinen eigenen Fotoapparat
besaßen und einige noch nie einen in der Hand hatten. Natürlich wussten sie, was das ist, ein Fotoapparat. Aber
fotografiert wird hier nur zu Hochzeiten und vielleicht bei Kommunionsfeiern.
Was haben
die Kinder fotografiert?
Eine der
Grundlagen des Projektes war, die Kinder durch keinerlei Vorgaben einzuengen,
ihnen z.B. zu sagen, ihr müsst den lächelnden Papa
fotografieren. Sie waren völlig frei.
Was hat
sie als professionellen Fotografen am Ergebnis überrascht?
Nicht nur
ich, auch viele meiner Berufskollegen waren über das Ergebnis verblüfft - diese
Energie in den Bildern, die Spontaneität, die Ehrlichkeit. Was mich am meisten
beeindruckte, das war die Freude, die in den Bildern steckt. Als ich sie zum
ersten mal in Ruhe betrachtete, begriff ich plötzlich,
dass ich als professioneller Fotograf niemals diese
Intimität, eine solche Verbundenheit mit der Landschaft erreichen kann, wie sie
die Fotos dieser Kinder zum Ausdruck bringen.
Ich habe
selbst mehrfach versucht, Reportagen über diese Post-LPG-Gebiete
zu machen, weil dies eines der wichtigsten Themen im Gegenwartspolen ist. Weil
es ein Fragment meines Landes ist und zwar ein ziemlich großes. Wer hierher
kommt, spürt, dass die Menschen, die er hier trifft,
zu jenen gehören, die seit 1989 vom sich beschleunigenden Wagen gefallen sind. Das
ist nicht nur hier im Süden Polens so. Auch im Westen und Osten. Ich habe
dieses Thema mehrmals in Angriff genommen. Aber ich konnte in meinen Fotos
nicht aufhören zu urteilen. Die Kinder vermochten das und das macht das Außerordentliche
an diese Fotos aus.
Inzwischen
wurden die Bilder auf Ausstellungen in Kraków,
Warschau, Łódź, Wien, Goeteborg
gezeigt. Jetzt kommen sie nach Berlin. Welchen Eindruck haben Sie auf den
bisherigen Ausstellungen gewonnen?
Angesichts
der Tatsache, das Ausstellungen von Kinderfotografien
heutzutage nichts Besonderes mehr sind, war ich doch überrascht, wie viel
Zuspruch diese Bilder erhielten. Es muss mit ihnen
also etwas anders sein. Ich glaube, die Kinder sind in den drei Wochen, in
denen sie fotografierten, so mit ihrer Umwelt verschmolzen, dass
sie von ihr nicht mehr wahrgenommen wurden. So entstanden unglaublich
wahrhaftige, ehrliche, emotionale Bilder, die ein professioneller Fotograf so
nur selten hinbekommt. Während der Ausstellung in Wien kam ein serbischer Maler
zu mir und sagte mit Tränen in den Augen, er sehe in diesen Bildern seine
Kindheit. Er sehe sein Dorf in der serbischen Provinz. Insofern stehen die
Fotos auch stellvertretend für einen Raum, der sich von der Heimat der Kinder
bis weit nach Osten erstreckt, sie hätten in jeder Ecke Mittel- oder Südosteuropas
gemacht werden können.
Sie haben die
Kinder am Anfang und am Ende des Projektes erlebt. Haben Sie eine Veränderung
gespürt?
Eines der
Ziele war, den Kindern ein positives Erlebnis zu vermitteln. Ich bin sicher, dass sie sich später einmal an diese Erfahrung aus der
Kindheit erinnern werden. Dass sie fühlen werden, dass es ihnen mit diesem Fotoprojekt ersten Mal gelungen
ist, aus jener Welt herauszutreten, in der man nichts tut oder nur fern sieht
und dass dies eine der ersten Stufen war, die sie auf
ihrem Weg in eine neue Welt erklommen haben. Aber ich bin sicher, dass sie bereits von dieser Stufe aus ihre eigene Welt aus
einer ganz anderen Perspektive gesehen haben. Die EU, das ist etwas, was ihren
Eltern unheimliche Angst einjagt. Sie verbinden damit nichts Gutes. Nach dem
Besuch in Berlin, werden es die Kinder sein, die ihnen einen Teil dieser Angst
nehmen können, denn sie haben Europa wirklich erlebt.
Wie haben
denn die Eltern auf die Fotos ihrer Kinder reagiert?
Als ich die
Fotos im Dorf zum ersten Mal auf einer großen Leinwand zeigte, hatte ich
Bedenken, wie sie darauf reagieren werden. Ich hatte Angst, dass
sie es so verstehen würden, dass diese Fotos eine
arme, eine hoffnungslose Welt zeigen. Als die Vorstellung dann zu Ende war,
sagte eine Mutter zu einer anderen: Schau mal, ich wusste
gar nicht, dass es so schön bei uns ist.
(Fotos aus der Ausstellung “Swiat...)
„Hier ist der Schulleiter wichtiger als der Priester“
Interview von Mirko Schwanitz mit Monika Sznajderman und Andrzej Stasiuk über
die Gründung der Stiftung zur Förderung der Gemeinden von Krzywa
und Jasionka
Mirko Schwanitz: Sie haben hier in der
Gegend ein soziales Projekt gegründet. Wie heißt es und was war der Anlass, dieses Projekt zu gründen?
Monika Sznajderman:
Wir haben eine Stiftung gegründet. Die Stiftung zur Förderung der Kinder von Krzywa und Jasionka. Die Idee
wurde im Jahr 2001 in einem Supermarkt geboren. Ich stand an der Kasse mit
einem Wagen, der vollgeladen war mit Leckereien. Plötzlich stellte ich fest, dass irgend etwas nicht in Ordnung ist.
Was war
nicht in Ordnung?
Monika: Es war kurz vor Weihnachten und
es waren ganz normale Einkäufe für drei, vier Tage. Aber was wir da im Wagen
hatten, dass war der Wert eines monatlichen Sozialhilfesatzes.
Und in dem Supermarkt war plötzlich eine leichte Hysterie, weil wir soviel
eingekauft hatten, Dinge, die man für das tägliche Leben überhaupt nicht benötigt.
Andrzej Stasiuk: ....viele Menschen
sind hier arbeitslos, es herrscht eine unbeschreibliche Armut und es gibt nicht
wenige Menschen, die unterernährt sind.
Wie ist es
zu dieser Armut gekommen?
Monika: Alle Kinder, die hier zur
Schule gehen, haben Eltern, die früher in der LPG gearbeitet haben. Nach der
Wende in Polen sind alle diese LPGn zusammen
gebrochen. Früher wurden hier Pferde und Schafe gezüchtet. Die Menschen hatten
ein gesichertes Leben, sie mussten über nichts
nachdenken. Sie hatten genug zu essen und immer eine Gesundheitsversorgung. Es
gab immer jemanden, der sich um diese Menschen gekümmert hat, der den Arzt her
brachte, der dafür sorgte, dass immer genug zu essen
da war, der ihnen den Lohn auszahlte. Nie mussten
sich diese Menschen wirklich um etwas selbst kümmern.
Von
Pferden und anderen Tiere ist heute weit und breit nichts zu sehen. Was
passierte hier nach dem Zusammenbruch des Sozialismus?
Monika: Nichts passierte, gar nichts. Alles
ist verschwunden. Jeder Familie bekam ein kleines Stück Land zugeteilt, gerade
einmal Platz genug, etwas Gemüse anzubauen. Die meisten Menschen hier haben
keine Ausbildung, keinen Beruf. Niemand braucht sie und sie fühlen sich völlig überflüssig.
Andrzej: Der frühere Direktor der LPG,
ein alter Kommunist, hat alle Gebäude der früheren LPG aufgekauft seinen
eigenen kleinen Betrieb aufgemacht, in dem er drei bis vier Leute für einen
Hungerlohn beschäftigt. Er spielt halt Kapitalist.
Welche
Folgen hatte diese Entwicklung für die Kinder?
Andrzej: Früher war es für die Kinder
hier einfacher. Die Menschen waren reicher und die gesundheitliche Versorgung
war auch sicher. Der Landarzt schaute regelmäßig vorbei und untersuchte die
Kinder...
Monika: Die Eltern der Kinder gehören
zu dem, was man die unterste Schicht einer Gesellschaft nennt. Die Kinder
bekommen das mit und entwickeln starke Minderwertigkeitsgefühle. Hinzu kommt
dann noch, dass viele der kleinen Landschulen
geschlossen wurden, auch hier in Krzywa wurde ein
Teil der Schule dicht gemacht. Die Älteren müssen heute 18 Kilometer in
sogenannte Sammelschule fahren. Wenn sie am Nachmittag in ihre Dörfer zurück-kommen, wartet auf diese Jugendlichen das Nichts,
ein schwarzes Loch. Es gibt kein einziges Freizeitangebot und die Eltern haben
keinerlei Kontakt zu der Schule, in die ihre Kinder gehen.
Und wie
sieht der Kontakt der Eltern zu ihren Kindern aus?
Monika: Hier in Krzywa
gibt es eine kleine Gruppe von Eltern, die interessiert sind und die zu allen
Veranstaltungen kommen, die unsere Stiftung anbietet. Aber 80 Prozent der
Eltern interessieren sich für gar nichts. Selbst, als wir einige Ärzte und
Spezialisten in den Ort holten, haben sie ihre Vier- und Fünfjährigen allein zu
den Ärzten geschickt und sind selbst nicht mitgegangen.
Wie kann
so etwas passieren?
Monika: Über Jahrzehnte hat man die
Menschen hier glauben lassen, der Staat sei für alles verantwortlich. Auch dafür,
die Kinder zu erziehen. Das glauben die Menschen hier auch heute noch. Früher kümmerte
sich das Ortsamt um alles und mit Auftauchen unserer Stiftung glauben sie nun, dass wir es sind, die ihre Kinder erziehen. Und je mehr wir
den Kindern geben, desto höher werden auch die Erwartungen...
Was ist
denn aus den Ortsbehörden geworden?
Monika: Die Ortsbehörden haben
keinerlei Macht und werden von Warschau nicht mit den finanziellen Mitteln
ausgestattet, ihren Aufgaben für diese entlegenen Winkel nachzukommen. So wurde
der Schulleiter hier zur wichtigsten Persönlichkeit. Im Grunde genommen ist er
derjenige, der die Kinder erzieht. Er lehrt sie nicht nur den Unterrichtsstoff.
Er ist auch derjenige, der darauf achtet, dass die
Kinder gegessen haben, dass sie ordentlich angezogen
sind. Er ist mit Sicherheit wichtiger als der Priester und das will in Polen
schon etwas heißen.
Er achtet
darauf, dass die Kinder gegessen haben...?
Monika: Einmal bat der Direktor die
Kinder im Kunstunterricht, eine Kartoffel zum Basteln mitzubringen. Am nächsten
Tag kamen die Kinder in die Schule und sagten ihm, die Mütter hätten ihnen
keine Kartoffel mitgeben können, weil sie keine Kartoffel für solchen Zweck übrig
hätten. So ist die Situation hier...
Mit
welchem Ziel haben sie dann diese Stiftung gegründet?
Monika: Es gibt viele Ziele, weil es
viele Nöte gibt. Weil sich viele Eltern hier nicht einmal den Schulbus leisten
können, übernehmen wir z.B. die Kosten für die Tickets, damit die Kinder überhaupt
zur Sammelschule fahren können. Unsere Hauptaufgabe aber sehen wir darin,
diesen Kindern Zukunftsperspektiven zu eröffnen, in dem wir sie intellektuell fördern.
Aber wir bemühen uns auch um vernünftige Freizeit- und Bildungsangebote vor
Ort, organisieren Workshops und Ferienlager. Wir versuchen, in den umliegenden
Städten junge Menschen zu finden, die bereit sind, aktiv an der Schaffung einer
Zivilgesellschaft mitzuarbeiten; die bereit sind, in diese vergessene Gegend zu
kommen und mit den Kindern zu arbeiten. Im Rahmen unserer Möglichkeiten
versuchen wir so Voraussetzungen zu schaffen, dass
diese Kinder sich normal entwickeln können. Im Grunde geht es uns um
Chancengleichheit. Die Kinder hier sollen die gleichen Chancen haben wie ihre
Altersgefährten in Warschau, Wroc³aw oder Posen.
Müsste man nicht auch mit den Eltern arbeiten?
Andrzej: Mit Sicherheit müsste man das. Aber das ist für uns zu schwierig, das können
wir nicht, dazu fehlen uns die Mittel und die staatliche Unterstützung. Dazu
braucht man Sozialarbeiter, Erwachsenenbildung und eine sinnvolle Arbeit, damit
diese Menschen sich wieder selbst lieben und schätzen lernen, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen entwickeln. Ich fürchte,
dazu ist es zu spät. Manchmal denke ich, man müsste
die Gesellschaft hier dem Erdboden gleich machen und ganz von vorne anfangen,
denn die Eltern, so hart das klingt, sind eine verlorene Generation....
Was tut
die Regierung?
Monika: Im Grunde ist die Regierung unfähig,
die Probleme der Peripherie zu lösen. Wer in Warschau regiert, dessen Augen
reichen nicht bis hierher, manchmal reichen sie gerade bis zu eigenen
Hosentasche... Diese Demokratie hinkt und wir sehen bisher niemanden, der die
Werte, die die EU verkörpert, hier an ihrer neuen Außengrenze durchsetzen kann.
Werden sie
von Unternehmern aus der Region unterstützt?
Monika: Wo es keine Unternehmen gibt,
gibt es auch keine Unternehmer, die uns unterstützen können. Hilfe bekommen wir
vor allem durch andere Stiftungen oder Nichtregierungs-Organisationen.. Manchmal, bei konkreten kleinen Projekten, bekommen wir
schon hie und da Unterstützung von Firmen. In dem schwierigen alltäglichen Bemühen
aber gibt es kein Unternehmen, das helfen würde.
Eines
ihrer ersten Angebote an die Kinder war die Durchführung eines Foto-Projektes. Was
war das Resultat?
Monika: Vor allen Dingen hat es den
Kindern eine Menge Spaß bereitet. Das später sogar
eine Ausstellung daraus wurde, die inzwischen in ganz Europa gezeigt wird, hat
uns alle überrascht. Die eigenen Fotos führten die Kinder hinaus aus diesem Tal.
Sie ermöglichten ihnen Reisen, von denen sie früher nicht einmal zu träumen
gewagt hätten. Nach Gorlice, der nächstgelegenen
Stadt, nach Krakow und Warschau. Mit jeder Ausstellung wurden nicht nur die
Reisen länger, sondern auch ihr Selbstvertrauen und ihr Mut größer. Inzwischen
wurden die Bilder auch in Wien und Goeteborg gezeigt.
Dass sie jetzt in Berlin zu sehen sein werden, die
Kinder dorthin gar eingeladen sind, ist für die Kinder eine unglaubliche
Wertschätzung. Für sie und für uns ist es genau dies - erlebbares Europa. Und
das bedeutet mehr für die Zukunft dieser Kinder, als wir im Moment absehen können.
Muss das nicht zwangsläufig zu Konflikten mit den
eigenen Eltern führen?
Andrzej: Schon allein die Reise nach
Warschau war für die Kinder eine besondere Form, Lebenserfahrung zu sammeln. Denn
sie sahen dort zum ersten Mal eine andere Welt. Und darum ging es uns auch - ihnen
die Welt zu öffnen, die Tür aufzumachen und ihnen zu zeigen: Seht, was vor der
Tür ist. Danach kommt es zu skurrilen Konflikten: Ein Kind, das nie gewöhnt
war, mit Messer und Gabel zu essen, kommt von einer Reise zurück und verlangt
plötzlich Besteck. Von der Mutter bekommt es dafür Schläge angedroht.... Ohne
dieses Fotoprojekt hätte das Kind niemals ein Besteck verlangt, es wäre
wahrscheinlich nie aus diesem Tal heraus gekommen. Und wenn, dann nur, um mit
dem Vater irgendwo zu arbeiten. Aber niemals, um eine andere Wirklichkeit
kennen zu lernen.
Welche
Hilfe braucht ihre Stiftung am Nötigsten, was brauchen die Kinder vor allem?
Monika: Die Kinder brauchen im Prinzip
alles. Sie brauchen medizinische Versorgung, sie brauchen psychologische und
kulturelle Hilfe. Natürlich auch materielle Unterstützung. Was wir als Stiftung
brauchen, sind Geld, Ideen und Menschen, die bereit sind mit den Kindern
gemeinsam Projekte zu realisieren. Ideen haben wir genug, vor allem brauchen
wir Menschen, die uns helfen und diesen Kindern etwas Zeit opfern.